OT: Wolfsroedel 2003
Wenn Floortje Zwigtman gefragt wird, wie sie aufs Bücherschreiben kam, so verweist sie auf eine besonders liebe Kindheitserinnerung, nämlich die, daß ihr Vater ihr jeden Abend Geschichten erzählte, weil sie sonst nicht einschlafen konnte. Auch dieser Roman, ihr zweites Buch für Jugendliche, hat als Rahmenhandlung eine Geschichte, die ein Vater erzählt. Die Geschichte des alten Ion Brebu allerdings ist nicht erfunden, sondern selbst erlebt. Und sie ist wilder und gefährlicher als alles, was sein Sohn je von ihm gehört hat. Zum Einschlafen ist sie bestimmt nicht geeignet.
Ion Brebu, so hören wir, wuchs in einem kleinen Dorf in Rumänien auf, genauer gesagt in der Walachei. Das Leben Ende des 19. Jahrhunderts war hart. Wer von den Jugendlichen keine Lust auf das schwere Bauernleben hatte, verzog sich ab dem Frühjahr in die umliegenden Wälder, um als kleiner Räuber und Dieb der Landstraße sein Dasein zu fristen. Solange das eigene Dorf nicht geschädigt wurde, hatte niemand Probleme damit. Im Winter kehrten die Jungen zu ihren Familien zurück. Irgendwann wurden sie erwachsen, gaben das Räuberleben auf und lebten das übliche Bauernleben. Keiner im Dorf macht sich also viele Gedanken an dem Tag, an dem Ion mit seinen Freunden Vulpe und Alexandru durchbrennt, um sich der Räuberbande Lupus anzuschließen, des älteren Bruders von Vulpe.
Für die drei Freunde stellt sich bald heraus, daß Räubersein auch nicht die wahre Freude ist. Sie sind neu, müssen sich bewähren. Die Räubergemeinschaft hat strenge Regeln, Mutproben, Demütigungen gehören zum sozialen Ritus. Anstatt glorreicher Abenteuer winkt Küchendienst.
Das alles scheint sich zu ändern, als die drei unter dem Zwang, Vorräte zu besorgen, die mitten im nahen Fluß gelegen Klosterinsel Snagov besuchen. Das alte Kloster ist verfallen und steht leer. Die drei staunen, als sie einen gepflegten Garten und eine ebenso gepflegte Schafherde entdecken. Doch außer ihnen zeigt sich dort kein Mensch. Was liegt näher, als diesen besitzerlosen Ort mit Beschlag zu belegen? Die Wolfsbande zieht um.
Bei ihren Streifzügen durchs Kloster stoßen sie in der Kirche auf ein uraltes Grab. Unter Lupus Führung brechen sie es auf und entdecken, was sie gehofft haben zu entdecken: Gold. Darunter ist auch ein goldenes Schwert. Es steht dem Hauptmann zu, findet Lupe. Sein Bruder Vulpe ist gegenteiliger Meinung, aber er kann sich nicht durchsetzen. Noch nicht, doch Hilfe ist auf dem Weg.
Mit dem Grabraub haben die Jungen nämlich mehr ausgelöst, als sie sich vorstellen konnten. Sie haben Geister aus dem 15. Jahrhundert geweckt, den Woiwoden Vlad Tepes und seinen Bruder Radu. Und wie über 400 Jahre zuvor zwischen Radu und Vlad beginnt nun ein Bruderkrieg zwischen Lupu und Vulpe voller Grausamkeiten und Brutalitäten, der die Mitglieder des Wolfrudels einen um den andern ins Verderben reißt. Es scheint kaum möglich, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Der Aufbau des Buchs ist kompliziert. Erzählt wird auf drei Zeitebenen, die der Rahmenhandlung, die grob in den 1930ern Jahren spielt, einer zweiten, die um die Jahrhundertwende spielt und von Ion aus der Ich-Perspektive erzählt wird, sowie der dritten im 15. Jahrhundert, die abwechselnd von den Woiwoden Vlad und Radu berichtet wird. Die Zeitebenen sind klar erkennbar durch Kapitelüberschriften gekenzeichnte, zum Teil zusätzlich durch unterschiedliche Schrifttypen, die leider nicht unbedingt augenfreundlich sind.
Gleichfalls Konzentration erfordert es, die auftretenden Personen im Blick zu behalten, zwei Brüderpaare, von denen das der Chroniken materialisiert auch in der Gegenwart auftritt, sozusagen doppelt. Dazu Ion, Alexandru, die geheimnisvolle Mara und einige Bandenmitglieder, an denen exemplarisch das immer stärkere Abrutschen in Gewalttätigkeiten demonstriert wird. Auch wartet das Buch mit einer Fülle historischer Details über das Osmanische Reich und die Walachei auf, fremde Namen, Begriffe und unbekannte Ereignisse gibt es zuhauf.
Erzählt wird diese sehr blutige und grausame Geschichte über das Entstehen und die Funktionsweisen von Gewalt mit einer recht gelungenen Mischung von historischen Fakten, fiktionaler Handlung und Elementen aus Märchen - und Sagenstoffen bis hin zu Versatzstücken aus dem Bereich der Religion, wie z.B. der Wette zweier Dämonen um die Seelen der Jungen.
Es ist inhaltlich-denkerisch alles andere als einfach, da es die Frage nach dem Bösen im Menschen stellt. Daß das Böse existiert, wird dabei nicht infragegestellt. Konsequenterweise werden auch überkommene Männlichkeitsmythen nicht diskutiert, das Gleichsetzen von ‚bequemem’ Leben am Osmanischen Hof mit Homosexualität im Gegensatz zum männlich-harten Soldatendasein war mir ein wenig zu glatt, um ein Beispiel zu nennen.
Es ist bei aller Spannung eine streckenweise mühsame, ja, zähe Lektüre, sicher kein Buch, das man so eben mal verschlingt und nicht allein wegen der beschriebenen Grausamkeiten. Die realen aus den Chroniken des 15. Jahrhunderts übertreffen dabei die fiktionalen der Bauernjungen, so schlimm diese sind, bei weitem. Es ist anregende Lektüre, philosophisch wie fiktional, aber die Reflexionen über Gewalt, der zynische Blick des 'Schafhirten' und die innere Entwicklung der Jungen brauchen ihre Zeit.
Es gibt zudem einen sehr guten Anhang mit einem Abriß der historischen Ereignisse in und um das Fürstentum Walachei zwischen ca. 1445 und 1476, dem Todesjahr von Vlad III. Draculea genannt 'Zepesch' und einem ausführlichen Glossar der rumänischen wie türkisch/osmanischen Ausdrücke. Gestört hat mich allerdings - und das beträchtlich - daß Namensformen angeblich um einer besseren Lesbarkeit willen in der Schreibung ‚eingedeutscht’ wurden. Der berühmt-berüchtigte Woiwode heißt also wieder einmal und wieder einmal falsch ‚Tepes’ statt korrekt Zepesch. Das ist für mich auch eine Form von Gewalt gegenüber einer fremden Sprache, aber Tepes (die Programmierung des Forums verweigert mir die korrekte rumänische Schreibweise mit diakritischen Zeichen am 'T' und am End-'s') ist so etwas gewöhnt, schließlich gilt er seit ca. hundert Jahren ebenso falsch als Urvater aller Vampire.
Der Schluß des Buchs, der eigentliche Schluß - wie es sich für einen Roman auf drei Zeitebenen gehört, hat er drei Schlüsse - der vierte also, ist wunderschön, unerwartet und tatsächlich die Krönung dieser grausig-phantasievollen Geschichte.
Ein Jugendroman mit nicht wenigen Widerhaken.
Zur Autorin:
Floortje Zwigtman ist das Pseudonym von Andrea Oostdijk, geb. 1974 in Terneuzen. Heute lebt sie in Middelburg /Zeeland. Sie arbeitete einige Jahre als Grundschullehrerin und veröffentlichte auch Kurztexte vor allem zur Leseförderung von Kindern. Ihr erster historischer Jugendroman über eine mittelalterliche Hochzeit erschien 2001. Für Wolfsrudel erhielt sie mehrere Jugendbuchpreise in den Niederlanden und Belgien, darunter den Jugendliteraturpreis des Buchhandelspreises Gouden Uil. (Goldene Eule). Inzwischen ist Oostdijk vollberufliche Jugendbuchautorin und Lektorin.