Die Bücherdiebin (The Book Thief) von Markus Zusak

  • Bartlebooth


    die Seite der Gedenkstätte Dachau ist mir selbstverständlich bekannt.
    Eben in der Frage der jüdischen Häftlinge genügt ein Blick nicht.


    Es geht darum, daß Zusak mehrfach ganze Züge jüdischer Häftlinge dorthin marschieren läßt, angefangen vom September 1942.


    Zur historischen Lage:
    Ab Sommer 1941 aber wurden Jüdinnen und Juden immer sytematischer in Lager in den besetzten Ländern im Osten verbracht (Stichwort Endlösung, die Göríng organisieren sollte).
    Eine 'Konzentration' in Dachau im Herbst 1942, noch dazu nach dem Erlaß Himmlers am 5. Oktober, ist wenig wahrscheinlich.
    Hätte man Max in dieser Zeit aufgegriffen, hätte man ihn in den nächsten Viehwaggon gestopft und nach Auschwitz verfrachtet.


    Noch mal zu Dachau zurück, damit wir das komplett haben: 1944 wurden Juden aus den Lagern im Osten in beträchtlicher Zahl zurücktransportiert, um sie in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Sie kamen auch nach 'Dachau', aber nicht in das Lager dieses Namens, sondern in sog. Außenlager.
    Insofern ist es grundsätzlich richtig, von Juden in Dachaus zu sprechen, nur der Zeitpunkt für Liesel ist der falsche.


    Deinen Einwand, daß das Buch nicht vom Nationalsozialismus handelt, habe ich in Deiner ersten Stellungnahme schon gelesen und ich habe ihn auch ernsthaft durchüberlegt.
    Im heutigen Kontext, wie die Nazi-Herrschaft und der zweite Weltkrieg gedeutet und erinnert werden soll, führt die Überlegung in meinen Augen nirgendwohin. Ich habe die Befürchtung, daß man rationalisiert, wenn man das von diesem Buch erwartet.
    Was im übrigen eine durchaus plausible Reaktion auf die starke Emotionalität ist, die mit dem Text durchgängig evoziert wird. Das Buch ist emotional extrem fordernd.


    'Nationalsozialismus' ist an sich und in sich so wirkunsgmächtig, daß er nicht als Symbol für eine Diktatur, welcher Art auch immer stehen kann. Er kann nicht Stalinismus, Pinochet, Pol Pot, Bokassa oder Papa Doc symbolisieren.
    Er ist Hitler und Deutschland.
    Unter anderem deswgen, weil sich inzwischen Autorinnen und Autoren in der dritten Generation emotional und eben leider nicht politisch an diesem Thema abarbeiten. Erst wenn man das Ganze strukturell erfaßt hat und Linien ziehen kann, Vergleiche anstellen, dann könnte eine Diktatur ein Symbol für andere werden. Aber soweit sind wir nicht.
    Ich brauche nicht dazu zu sagen, wie sehr ich das bedaure?


    Mit meiner Bemerkung zum Leben des Autors wollte ich keineswegs sagen, daß man ihm eine fiktive Biographie verapßt hat. Bestimmt stammen seine Eltern aus Bayern resp. aus Östereich, wenn ich es recht verstanden habe, ist ihnen das Buch ja auch gewidmet.
    Mir fiel beim Lesen von Rezensionen und Buchanzeigen zur 'Bücherdiebin', womit ich in den letzten Tagen einige Zeit zugebracht habe, nur auf, daß ein zunächst australischer Autor zu einem quasi österreichsich-deutschen mutierte. Das muß hinterfragt werden.
    Vielleicht soll das auch nur die Authentizität seines Romans für deutschsprachige Leserinnen und Leser erhöhen?
    Auch in dem Fall aber müßte man sich fragen, warum.


    Die Lanze für das Buch brauchst Du nicht mehr zu brechen, es wird tausendfach gelesen und geliebt.
    Ich betätige mich nur einmal mehr in meiner geliebten Rolle als Abweichlerin vom Zeitgeist
    :grin




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Naja, dennoch ist ein Roman, da dürfen künsterlische Freiheiten schon drin sein!
    Natürlich wurden hier viele Klischees bedient, dennoch hat das Buch kein Happy End.


    Ich bin froh, dass die dritte Generation auch mit mehr Gefühl an das Thema herangeht. Wir haben über all die Jahre Zahlen, Daten und Fakten gelehrt bekommen. Ich kann auch mit der Mitschuld der nach 1945 Geborenen nichts anfangen.
    Dieser Roman bietet vielleicht die Initialzündung für ein Kind sich mit dieser Zeit näher auseinanderzusetzen.
    Mir hats gefallen und es ist mein Buch des Jahres 2008!

    Who is Keyser Soze?


    (\__/)
    (o ,o)
    (>_<) <- This is Bunny.


    Copy Bunny into your signature to help him on his way to world domination.

  • Liebe magali,


    Zitat

    Original von magali
    Noch mal zu Dachau zurück, damit wir das komplett haben: 1944 wurden Juden aus den Lagern im Osten in beträchtlicher Zahl zurücktransportiert, um sie in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Sie kamen auch nach 'Dachau', aber nicht in das Lager dieses Namens, sondern in sog. Außenlager.
    Insofern ist es grundsätzlich richtig, von Juden in Dachaus zu sprechen, nur der Zeitpunkt für Liesel ist der falsche.


    Entschuldige, wenn ich oberlehrerhaft klinge, aber in dem Buch marschieren Juden durch eine fiktive Kleinstadt nach Dachau. Beobachtet werden sie von einer Menge relativ einfacher Landbewohner. Glaubst du wirklich, die hätten historisch korrekt gesagt "man verfrachtet Häftlinge ins Außenlager Allach"? Wohl kaum. "Dachau" ist eine Synekdoche (verzeih die Fachsimpelei) für den Lagerkomplex insgesamt und wird auch heute noch so gebraucht. Du kannst an einen fiktionalen Text nicht die Maßstäbe eines Fachbuchs anlegen.


    Zitat

    Original von magali
    Deinen Einwand, daß das Buch nicht vom Nationalsozialismus handelt, habe ich in Deiner ersten Stellungnahme schon gelesen und ich habe ihn auch ernsthaft durchüberlegt.
    Im heutigen Kontext, wie die Nazi-Herrschaft und der zweite Weltkrieg gedeutet und erinnert werden soll, führt die Überlegung in meinen Augen nirgendwohin. Ich habe die Befürchtung, daß man rationalisiert, wenn man das von diesem Buch erwartet.


    Der Abschnitt bleibt für mich auch nach mehrmaligem Lesen dunkel. Sagst du, dass man rationalisiert, wenn man sagt, das Buch handle nicht primär vom NS? Und was genau ist das Problem einer Rationalisierung von Lektüre?


    Zitat

    Original von magali
    'Nationalsozialismus' ist an sich und in sich so wirkunsgmächtig, daß er nicht als Symbol für eine Diktatur, welcher Art auch immer stehen kann. Er kann nicht Stalinismus, Pinochet, Pol Pot, Bokassa oder Papa Doc symbolisieren.
    Er ist Hitler und Deutschland.


    Es geht meines Erachtens nicht darum, dass der NS für andere Gewaltregime steht, sondern dass ein Kinderleben im NS dargestellt wird und es um dieses individuelle Leben geht. Es wird ein Alltag in einer extrem gewalt- und angstdurchsetzten Zeit beschrieben. Warum kann das nicht die NS-Zeit sein?


    Zitat

    Original von magali
    Die Lanze für das Buch brauchst Du nicht mehr zu brechen, es wird tausendfach gelesen und geliebt.
    Ich betätige mich nur einmal mehr in meiner geliebten Rolle als Abweichlerin vom Zeitgeist
    :grin


    Das sei dir gestattet :-), ich will einfach nur sagen: Ich halte das Buch nicht für ein Zeitgeistbuch und finde es auch nicht wirklich kitschig.


    Herzlich, Bartlebooth

  • Der Fehler im Denkansatz von magali ist der Kreis der potentiellen Leser, für die der Autor das Buch geschrieben hat. Ihre Perspektive mag für einen europäischen Autor, der für europäische Leser schreibt bedenkenswert erscheinen, der Autor ist Australier und konnte mit dem Erfolg- auch mit der Übersetzung - zunächst nicht rechnen.

  • Bartlebooth


    es geht nicht darum, ob das Buch ein historischer Roman ist. Es ist keiner.
    Es geht auch nicht darum, ob das Buch in den historischen Fakten, die es wiedergibt, korrekt ist. Es ist kein Geschichtsbuch, es ist ein Roman.


    Meine Argument ist das, daß bekannte und längst glattgehobelte Versatzstücke, die Nazi-Zeit signalisieren und so im kollektiven Gedächtnis über die Zeit verankert sind, eingesetzt werden.
    Es geht um Gleichungen wie eben die über Dachau:
    Kleine fiktive Stadt in der Nähe Dachau = Konzentrationslager = Juden.
    Nazis = Bücherverbrennung


    Das ist einschichtig und eindeutig. Das ist Kitsch.



    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • beowulf


    Australien ist nicht aus der Welt. Auch dieser Kontinent partizipiert an der globalen Medienwelt und damit an gewissen Bildern und Vorstellungen.
    Es geht mir um den weltweiten Konsens, der in puncto Erinnern an den Nationalsozialismus herrscht. Und was aus diesem Konsens in diesem Roman gemacht wurde.


    Warum sollte Zusak an den deutschen Markt denken? Der gesamte englischsprachige ist um soviel größer. Wenn er bzw. sein Verlag über Australien hinausdachte, dann doch eher in Richtung USA?



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Meine Argument ist das, daß bekannte und längst glattgehobelte Versatzstücke, die Nazi-Zeit signalisieren und so im kollektiven Gedächtnis über die Zeit verankert sind, eingesetzt werden.
    Es geht um Gleichungen wie eben die über Dachau:
    Kleine fiktive Stadt in der Nähe Dachau = Konzentrationslager = Juden.
    Nazis = Bücherverbrennung


    Das ist einschichtig und eindeutig. Das ist Kitsch.


    Das wäre so, wenn das die einzigen Motive wären, die vorkommen. Ich halte die Marsch-nach-Dachau-Szene auch nicht für das Glanzstück des Romans.
    Der NS ist in dem Buch aber viel vielfältiger Thema, er ist vor allem als Alltag dargestellt und das ist nun wahrlich nicht furchtbar gewöhnlich. Denn normalerweise sind die Kerne der Bücher über die Zeit Schreckensszenarien: Flucht, Deportation, Indoktrination, Verstecken. Du reduzierst ein Buch von fast 600 Seiten auf zwei Szenen, die das Buch nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht ausmachen.
    ZUsak macht es sich doch überhaupt nicht so einfach wie "Nazis = Bücherverbrennungen", ganz im Gegenteil. Im Buch kommen viele Nazis oder Sympathisanten vor, sie alle sind aber gerade keine geifernden Abziehbilder, sie sind auch nicht einfach das Gegenteil, also getriebene und gegen ihren Willen gezwungene eigentlich gute Menschen.
    Zusak benutzt keine Typen, sondern versucht die Darstellung differenzierter Personen mit Stärken, Schwächen, Gutem und Bösem. Wir können das gern am Beispiel durchdeklinieren.


    Herzlich, Bartlebooth.

  • Zitat

    Original von sollhaben
    Naja, dennoch ist ein Roman, da dürfen künsterlische Freiheiten schon drin sein!


    Bis zu einem gewissen Grade hast du da natuerlich Recht. Wenn hier der Tod personifiziert wird, ist das durchaus eine kuenstlerische Freiheit, die in das literarische Konzept passt und so auch mehr als akzeptabel ist. Wenn aber historische Fakten so abgeaendert werden, dass ihre Bedeutung verkehrt wird, dann geht es zu weit.


    Vor allem wenn man wieder an die urspruengliche Zielgruppe des Buches denkt: Jugendliche in anglophonen Laendern, die sehr wenig bis gar kein historisches Hintergrundwissen haben und keinerlei Fakten hinterfragen koennen. Ich hab's ja auch an meiner Tochter gesehen, die eher dieser Zielgruppe entspricht als alle anderen Leser hier bei den Eulen. Sie hat alles, was wie ein historisches Fakt aussah fuer bare Muenze genommen. Dabei hat sie eine deutsche Mutter, die ziemlich fanatisch darin sein kann ihren Kindern mehr Nazigeschichte beizubringen als das bei ihren Altersgenossen der Fall ist. Und sie weiss auch durchaus mehr als ihre Klassenkameraden.


    Ich denke da hat man bei so einem sensiblen Thema schon eine gewisse Verantwortung als Jugendbuchautor, dass zumindest Fakten nicht verdreht werden. Mir ist es ja auch an anderer Stelle sehr negativ aufgestossen. Und der Uebersetzerin ja ebenfalls (siehe meine Beitraege weiter oben).

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Bartlebooth


    zwei Beispiele anzuführen, heißt nicht, ein Buch auf zwei Szenen zu reduzieren.


    Ich habe auch nicht gesagt, daß Zusak es sich einfach macht. Ich sage nur, daß er sich nicht von bereits bestehenden und gültigen Bildern und Vorstellungen gelöst hat.
    Und es geht nicht nur um die Bilder und Vostellungen von Nazis, sondern auch die von Vätern, Müttern, Freundschaften, Büchern und, nicht zu vergessen, dem Leben nach dem Tod.


    Wie Du selbst sagst, ist das kein Roman über den Nationalsozialismus, im Sinne eines historischen Romans.
    Deswegen sind Fehler im Detail, die es trotz der lobenswerten Bemühungen des deutschen Verlags immer noch gibt, auch nicht besonders wichtig.


    Was den Handlungsstrang 'Nazi' angeht:


    In meinen Augen sind die 'Paraden' nach Dachau, die Du nennst, durchaus dramaturgische Glanzstücke im Rahmen dieses Romans.
    Das sollen sie auch sein. Es geht darum, bestimmte Emotionen zu evozieren.
    Das kann der Autor sehr gut.
    Ich habe nie behauptet, daß er nicht schreiben kann, auch wenn er eine ziemlich überladenen Stil favorisiert und der Künstlichkeit zuungunsten der Kunst huldigt.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von Rosenstolz
    Ich bin froh, dass ich für mich nicht den Drang verspüre, dieses schöne Buch zu zerreden, zu zerpflücken und kaputt zu analysieren. ;-) [SIZE=7]Nichts für ungut.[/SIZE] :wave
    Ich konnte es einfach nur geniessen und das freut mich. :-]


    Das hast du sehr schön gesagt! :write

  • Auch finde solche Kommentare sehr aufschlußreich und interessant.
    Ich mag sie und finde sie wichtig. Sie haben beträchtliche Bedeutung bei der großen Frage, was Lesen für Menschen bedeutet.
    Ich bin immer froh, wenn ich sie (endlich) höre.



    Zum Kommentar:


    Etwas verliert also an Schönheit, wenn man darüber nachdenkt?
    Nachdenken macht etwas Schönes kaputt?


    Was geht hier 'kaputt', wenn ich meine Kritik an diesem Buch äußere?
    Das Buch oder die guten Meinungen darüber?



    'Die Bücherdiebin' ist eines der interessantesten Bücher, die mir dieses Jahr unter die Finger gekommen sind. Es hat mir viel Mühe bereitet, mir eine Meinung dazu zu bilden. Ich möchte keine Minute davon missen.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus


  • Sicherlich verliert etwas Schönes nicht seine Schönheit, da die ja bekanntlich meist eh im Auge des Betrachters liegt und sicherlich wird deine Kritik nichts an den guten Meinungen ändern, die andere Leser vom dem Buch haben.


    Trotzdem fällt auf, dass dein Fazit in deiner Rezi eine Wertung trifft:


    Zitat

    Original von magali
    "Insgesamt gesehen ist dieses Buch vor allem ein aufschlußreicher Gradmesser für den Bewußtseinszustand einer harmoniesüchtigen, nahezu geschichtslosen und rundum konventionellen bürgerlichen Gesellschaft der westlichen Welt Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts."


    Damit hast du eben außer Kritik am Buch auch Kritik an seinen Lesern geübt und das finde ich persönlich sehr schade, denn es wertet diejenigen ab, die das Buch mochten. Vielleicht sehe ich das auch falsch und es lag gar nicht in deiner Absicht, aber angesprochen gefühlt habe ich mich dadurch dennoch.

  • Zitat

    Original von magali
    zwei Beispiele anzuführen, heißt nicht, ein Buch auf zwei Szenen zu reduzieren.


    Sicherlich nicht, aber diese beiden "historischen Inexaktheiten" sind die einzigen greifbaren Punkte, die ich aus deinen doch sehr diffusen Klischeevorwürfen isolieren konnte (mag an mir liegen). Inzwischen sind sie ja auch dazu geworden: Zu Beispielen für Klischees. Ursprünglich waren es Beispiele für historische Ungenauigkeit, und das sind sie einfach nicht, denn (s.o.) 1. gab es auch im Krieg noch Märsche ins synekdochische Dachau und 2. gab es auch noch Bücherverbrennungen nach 1933. Dass du jene beiden Vorwürfe immer wieder voneinander trennst und sie anschließend wieder vermischst, macht sie nicht überzeugender.


    Zitat

    Original von magali
    Ich habe auch nicht gesagt, daß Zusak es sich einfach macht. Ich sage nur, daß er sich nicht von bereits bestehenden und gültigen Bildern und Vorstellungen gelöst hat.
    Und es geht nicht nur um die Bilder und Vostellungen von Nazis, sondern auch die von Vätern, Müttern, Freundschaften, Büchern und, nicht zu vergessen, dem Leben nach dem Tod.


    Was für eine Reihung! Bei den Nazis stimme ich dir - wie erwähnt - nicht zu. Beim Leben nach dem Tod sehe ich gar nicht, dass es thematisiert wird (etwa nur weil von "Seelen" gesprochen wird?). Familie und Freundschaften sind in diesem Buch nicht Gegenstand origineller Umwertung, sondern Gegenbild zur Angst. Ich wüsste gar nicht, wo in einem solchen Buch Originalität in Bezug auf diese Kategorien Platz hätte. Es geht ja primär um die Darstellung eines Alltags, der trotz der Furcht noch intakt bleibt.


    Zitat

    Original von magali
    Wie Du selbst sagst, ist das kein Roman über den Nationalsozialismus, im Sinne eines historischen Romans.
    Deswegen sind Fehler im Detail, die es trotz der lobenswerten Bemühungen des deutschen Verlags immer noch gibt, auch nicht besonders wichtig.


    s.o., die ständige Wiederholung macht diese Vorwürfe nicht richtiger.


    Zitat

    Original von magali
    In meinen Augen sind die 'Paraden' nach Dachau, die Du nennst, durchaus dramaturgische Glanzstücke im Rahmen dieses Romans.
    Das sollen sie auch sein.


    So? Woher nimmst du diese Überzeugung?


    Zitat

    Original von magali
    Es geht darum, bestimmte Emotionen zu evozieren.
    Das kann der Autor sehr gut.


    Einverstanden. Ist aber keine Begründung für den voraufgegangenen Satz.


    Zitat

    Original von magali
    Ich habe nie behauptet, daß er nicht schreiben kann, auch wenn er eine ziemlich überladenen Stil favorisiert und der Künstlichkeit zuungunsten der Kunst huldigt.


    Naja, der letzte Satz heißt doch aber nicht wirklich, dass er deiner Meinung nach gut schreibt ;-). Ich kann auch diesen Vorwurf so aus dem Blauen heraus nicht nachvollziehen. "Überladen" ist nun wahrlich kein Epitheton, was mir im Zusammenhang mit diesem Buch besonders einleuchtet.


    Zitat

    Original von magali
    Was geht hier 'kaputt', wenn ich meine Kritik an diesem Buch äußere?
    Das Buch oder die guten Meinungen darüber?


    Wenn du mich fragst: Keins von beiden. Ich finde deine Kritik interessant und abstrakt ein Stück weit nachvollziehbar. Sie ist nur in einem Gestus vorgetragen, der es mir schwer macht, den Text als Ziel zu erkennen. Das Ziel, das ich erkenne, ist ein recht erfolgreiches Buch, das zum Zeitgeistphänomen eingenordet werden soll (Eskalinas Bemerkung kann ich diesbezüglich gut nachvollziehen).


    Herzlich, Bartlebooth.


    EDIT Tippfehler


  • Ich habe diese Aussage ausschliesslich auf mich selbst bezogen. Wenn ich ein so berührendes und schönes Buch wie "Die Bücherdiebin" so "auseinander nehmen" müsste - wäre mir einfach der "Spaß" an dem Buch verdorben. Es hätte seine Faszination für mich verloren.
    Wie du ja auch weiter vorne geschrieben hast: es ist ein Buch zum Fühlen! :-)

  • Rosenstolz


    natürlich st das ein Buch zum Fühlen.
    Eben das sollte einer zu denken geben.
    Ein Buch ist kein Teddybär.



    Eskalina


    zu einer ordentlichen Buchkritik, die mehr sein will, als eine bloße Meinungsäußerung und eine bloße Kaufempfehlung, gehört es, das Buch in einen Kontext einzuordnen.
    Bei einem Bestseller, der sich des Themas 'Nationalsozialismus' bedient, ist das umso wichtiger.
    Was ich geschrieben habe, ist Beet, Erde und Dünger für ein solches Buch wie das vorliegende.


    Ja, es ist ein Kanonenschuß ins Puiblikum, ja, er stört die Gemütlichkeit. Wenn es nur eine zum Nachdenken bringt darüber, was genau sie da in der Hand hält (keinen Tedydbär), ist mein Ziel schon erreicht. Es muß auch nicht heute sein.



    Bartlebooth


    warum ist die 'Parade', in der Liesel an Max' Hals hängt, keine dramaturgische Leistung?
    Sie ist ein Höhepunkt, sie schließt die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Max und Liesel ab. Hier wird der Knoten endgültig geschürzt, sie ist der Ausgangspunkt für die Frage, die soviele Leserinnen am Ende stellen: kamen die beiden zusammen?
    Überdies zeigt sie noch einmal die Vorbildwirkung von Hans Hubermann, Liesel erweist sich hier als seine echte Tochter, auch wenn sie 'nur' ein Pflegekind ist. Sie handelt menschlich, genau wie er. Das, was er seinem Sohn nicht vermitteln konnte, lebt in Liesel und kommt hier zum Blühen.
    Hubermann hat ja eine vergleichbare Szene, die zum Auslöser für Max' Weg wird. Die beiden Szenen sind komplementär zu sehen. Liesel ziegt, was sie gelernt hat.


    Die Szenen sind im Roman wesentlich für die abschließende Charakterisierung der drei Figuren.
    Sie sind wichtig für die Leserinnen, weil man da, jede für sich, den ureigenen Kampf gegen Nazis kämpfen kann. Liesel hat hier Vorbildfunktion. So würden wir alle gern handeln. So gut.


    Folge ich Deiner Meinung, bleibt aber sowieso nicht viel von dem Buch übrig.
    Es handelt nicht vom Nationalsozialismus und die Seelen haben auch nichts mit Vorstellungen von einem Leben nach dem Ableben zu tun.
    Warum hat der Autor dann beides in diesem Roman aufgenommen und zwar ziemlich breit?
    Soll ich das beim Lesen alles überlesen?



    Ansonsten erinnere ich an das alte Sprichwort: keine Rose ohne Dornen.
    Ich bin der Dorn.
    (Pflanzenkundlich gesehen ein Stachel, wir wollen nicht schon wieder unkorrekt sein im Detail. Wir schreiben ja keinen Roman hier.)



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus


  • Weshalb? Muss ich alles "Gefühlvolle" in Frage stellen?
    Kann ich mich diesem ( positiven ) Gefühl nicht einfach "hingeben"?
    Einen Teddy "erfühle" ich ( das ist eine Sache, ein Ding ), aber ich erlebe damit nicht die "Gefühlswelten", die einem manches Buch oder mancher Film geben können. Das passiert einfach aus dem Bauch heraus, es ist eine Momentaufnahme. Und das will ich auch so erleben.

  • Zitat

    Original von magali
    Bartlebooth


    warum ist die 'Parade', in der Liesel an Max' Hals hängt, keine dramaturgische Leistung?
    Sie ist ein Höhepunkt, sie schließt die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Max und Liesel ab. Hier wird der Knoten endgültig geschürzt, sie ist der Ausgangspunkt für die Frage, die soviele Leserinnen am Ende stellen: kamen die beiden zusammen?


    Du argumentierst mit dem, gegen das du in deinen Antworten auf Rosenstolz und Eskalina argumentiert hast. Ich war verwundert darüber, wie man darauf kommen kann, dass es sich bei der Geschichte von Max und Liesel um eine konventionelle Liebesgeschichte handeln könnte.
    Die Szene ist in meinen Augen eine transitorische Szene: Die Bemühungen Max zu beschützen, sind vergeblich gewesen, er muss ins KZ und wird nun wahrscheinlich sterben. Vorher wäre das für Liesel einfacher gewesen, nun, nachdem sie Max in ihre Welt integriert hat, erscheint es als eine einzige Sinnlosigkeit. Dass die Geschichte hier eben gerade noch nicht abgeschlossen ist, weiß man zu diesem Zeitpunkt noch nicht.


    Zitat

    Original von magali
    Überdies zeigt sie noch einmal die Vorbildwirkung von Hans Hubermann, Liesel erweist sich hier als seine echte Tochter, auch wenn sie 'nur' ein Pflegekind ist. Sie handelt menschlich, genau wie er. Das, was er seinem Sohn nicht vermitteln konnte, lebt in Liesel und kommt hier zum Blühen.
    Hubermann hat ja eine vergleichbare Szene, die zum Auslöser für Max' Weg wird. Die beiden Szenen sind komplementär zu sehen. Liesel ziegt, was sie gelernt hat.


    Nun, zum Teil sicherlich, aber was ist daran schlimm? Außerdem erschöpft sich die Funktion der Szene darin nicht. Hans Hubermanns Standhaftigkeit hat zum Weggang Max' geführt. Dass dieser im nachhinein betrachtet vollkommen sinnlos wird, weil Hans Hubermann die Zeichen falsch deutet, ist die Ironie seiner Szene. Liesel wiederholt die Tat von Hans im Ansatz und muss wieder befürchten, alles schlimmer zu machen. Die Ironie ist hier, dass der vermeintliche Marsch in den Tod absurderweise einer ins Leben ist: Max ist der einzige aus Liesels Welt, der am Ende verschont bleibt.


    Zitat

    Original von magali
    Die Szenen sind im Roman wesentlich für die abschließende Charakterisierung der drei Figuren.
    Sie sind wichtig für die Leserinnen, weil man da, jede für sich, den ureigenen Kampf gegen Nazis kämpfen kann. Liesel hat hier Vorbildfunktion. So würden wir alle gern handeln. So gut.


    Was tut sie denn so Außergewöhnliches? Sie reicht ein Stück Brot an einen der Vorbeigetriebenen und redet mit Max. Ihre Geste ist zwar gut, aber vollkommen macht- und wirkungslos, keine heroische Tat, eher eine Verzweiflung an dem - vermeintlich - tragischen Ausgang der Geschichte.


    Zitat

    Original von magali
    Folge ich Deiner Meinung, bleibt aber sowieso nicht viel von dem Buch übrig.
    Es handelt nicht vom Nationalsozialismus und die Seelen haben auch nichts mit Vorstellungen von einem Leben nach dem Ableben zu tun.
    Warum hat der Autor dann beides in diesem Roman aufgenommen und zwar ziemlich breit?
    Soll ich das beim Lesen alles überlesen?


    Was die reine Erwähnung von "Seelen" (inwieweit ist das eine "breite Aufnahme"?) mit dem Leben nach dem Tod zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Eine konkrete Jenseitsvorstellung wird doch überhaupt nicht gegeben.
    Dass das Buch nicht primär vom NS handelt, heißt ja nicht, dass du das alles überlesen sollst oder auch nur könntest. Das Buch handelt in der Zeit des NS, aber der Fokus liegt auf einer Darstellung des Alltags, nicht auf einer des Terrors. Man kann sagen, von dem Buch bleibt dann nicht viel übrig, das ist richtig. Jedenfalls keine großen Gesten, kein Heldentum, keine heroischen Erzählungen. Es bleiben kleine Gesten, die nicht dahin führen, wohin sie vielleicht hätten führen sollen. Es bleibt ein großes Maß an Sinnlosigkeit und grausamer Ironie des Lebens. Und es bleibt die Darstellung einer fast vollständigen Auslöschung einer Welt im Kleinen.


    Wenn du nach dem Gewaltigen suchst, wirst du es in dem Buch tatsächlich nicht finden. Wenn das für dich "nichts" ist, dann ist das wohl so.


    Herzlich, Bartlebooth.

  • Bartlebooth


    die Leserinnen kommen auf den Gedanken, daß es sich bei der Beziehung zwischen Max und Liesel um eine konventionelle Liebesgeschichte handelt, weil sie darauf kommen sollen. ich spreche in meiner Rezension den Umstand an, daß der Autor die Erwartungen vorgibt. Man wird in hohem Maß gegängelt. Ich habe selten ein so brutales Buch in der Hand gehabt.


    Mich hat diese klare Entwicklung der Beziehung zwischen Max und Liesel gestört, ich hätte dem Roman weniger Kitschgeneigtheit vorgeworfen, wenn Zusak den Begriff 'Liebe' weiter gefaßt hätte.


    Zum Marsch auf Dachau:


    Wieso sind Taten nur dann heroisch, wenn sie macht - und wirkunsgvoll sind? Und was heißt 'wirkunsgvoll'? Einem Verhungernden in einem solchen Moment ein Stück Brot zuzustecken ist wirkungsvoll und zwar für den, der am Verhungern ist.
    Und es ist mutig in einer solchen Situation.
    ich weiß nun nicht, inwieweit Du in diesem Moment die SSler, die da mitmarschieren, reduzierst, weil Du den nationalsozialismus nicht als Fokus annimmst. Aber sie sind da, werden genannt, einer schwingt die Peitsche und tritt dann nach Liesel.
    Und in dieser kurzen Handlung soll sie also nicht mutig, geradezu heroisch sein?


    Ich fand es schön, daß Zusak solche Erinnerungen, die aus der Zeit tatsächlich überliefert sind, also, daß Menschen am Straßenrand vorbeiziehenden Häflingen etwas zu essen zugesteckt haben, aufgenommen hat.


    Zudem ist das hier als Gestus der Liebe zu deuten.
    Daß so etwas auch Schaden bringen kann, ist ein anderes Thema, das zeigt, wie das gleiche Thema um Hans Hubermann diskutuiert wird.


    Die Frage, ob man nicht weiß, daß die Geschichte hier nicht abgeschlossen ist, ist nicht leicht zu beantworten. Da ich den Roman als gefühligen Unterhaltungsroman aufgefaßte habe, habe ich als alte Häsin in dem Genre automatisch damit gerechnet, daß da noch was kommen muß.
    Diese tröstliche Überzeugung hat allerdings auch der inzwischen sehr gemütlich gewordene Erzähler, der Tod, unterstützt.


    Wenn es nicht um Andeutungen über ein Leben nach dem Tod geht, warum sammelt der Tod dann Seelen? Ein Hobby? Ein Gag des Autors?
    Kommt mir merkwürdig vor.
    Zudem weiß ich nicht, wieso man die Lektüre aus dem westlichen, christlich geprägten kulturellen Kontext lösen sollte.
    Das Einsammeln der Seelen kommt häufig vor, nicht bloß einmal. Es begründet, warum wir den Tod auf zwei Beinen in diser Geschichte haben.


    Wie sollen Leserinnen das verstehen? Als Fantasy? Als Ornament?
    Müßte man dann nicht eine Warnung in das Buch schreiben, die etwa lautet: wenn in diesem Text von Seelen die Rede ist, hat das nichts mit einer Vorstellung von Nachleben zu tun, also vergeßt alles, was ihr darüber wißt und glaubt? Lest das Buch, ja, wie?


    Du sagst, es ist ein Buch über die grausame Ironie des Lebens.
    Und was, bitte, ist das anderes als ein Versatzstück?

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Rosenstolz


    nein, natürlich muß man nicht alles Gefühlvolle infrage stellen.
    Allerdings ist Vorsicht geboten, wenn das Gefühlvolle in gesetzen Worten daherkommt. z.B. im Buch.
    Denn: dahinter steht ein Mensch und der hat bestimmte Absichten.


    Täuschen tut man sich auch, wenn man glaubt, daß man bei einem angenehmen Leseerlebnis nur fühlt. Tatsächlich überprüft man blitzschnell, inwieweit das, was man liest, mit bestimmten, bereits in einer bestehenden Meinungen, Einschätzungen, Überzeugungen übereinstimmt. Je höher die Übereinstimmung, desto höher das Wohlgefühl.
    Das ist genau wie im Gespräch mit einem anderen Menschen. Auch da tastet man in Windeseile und kontinuierlich alles ab, man nimmt unablässig Signale auf. Stimmt viel überein, glaubt man, daß man sich wohl'fühlt'. Tatsächlich aber basiert das 'Fühlen' auf einer gründlichen Analyse des Gegenübers, von seinen Kleidern bis zum Geruch, Gesten, Haarfarbe, alles, und einer sofirt anschließenden Synthese, die auch Denkvorgänge miteinschließt.


    Fühlen ist nicht spontan, es ist das Ergebnis gewaltiger Prozesse in einer. Nicht wenige davon erfolgen bewußt, man ist das nur so gewöhnt, daß man den Eindruck hat, daß das automatisch abläuft. Tut es nicht.
    Diese 'Automatismen' kann sich zu einem Gutteil durchaus bewußt machen, z.B. indem man gezielt darüber nachdenkt. Was wir eben auch können.
    Wir sind schon ein ziemliches Wunder.


    Am Ende kann man 'bewußt' genießen.



    :wave


    magali


    .

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus