Ulla Meinecke - Willkommen in Teufels Küche

  • "Chaos und Drama. Wilde Bewegtheit, bewegte Wildheit. Verzagen und versagen. Die Kurve kriegen, das Ding an die Wand fahren, die Karre wieder aus dem Dreck ziehen. Hochenergetische Zustände, bleierene Lähmungen..."
    Quelle: "Willkommen in Teufels Küche" -S. 32f


    Bei dieser Beschreibung bleiben sicher nur die Leser kalt, die ein klar strukturiertes Leben führen, in dem es keine Nachlässigkeiten gibt. Doch mal im Ernst: wer ist schon immer gegen den Einfluss des Chaos in seinem Leben gefeit?!


    Man empfindet Vorfreude bezüglich eines neuen Projekts, und dennoch fehlt einem der Elan einfach zu beginnen. Die dräuende Steuererklärung schwebt jedes Jahr aufs Neue unheilvoll über dem Privatleben. Aber auch ganz kleine Ereignisse des Lebens lassen sich chaotisieren: der Großputz, das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten sowie der lange verschobene Anruf bei einem Bekannten.


    Jeder, dem eine dieser Situationen bereits bekannt ist, weiß, dass es ganz leicht ist, sie schnell und gewissenhaft zu erledigen. Nur der Anfang will gefunden sein! Chaotisierende Personen wissen aber auch, dass sie nicht einfach zur Tat schreiten können, eher schalten sich noch Angst, Trotz oder Rebellion dazwischen und reagieren erst unter extremsten Druck, wenn kaum noch eine Lösung möglich scheint. Meist geht alles gut aus, aber manchmal eben auch nicht.


    Im Überschwung der anschließenden Glücksgefühle, bzw. der Enttäuschung, schliesst man mit sich selbst die Vereinbarung, dass es so weit nie wieder kommen soll! Von jetzt an lebe man ordentlich und strukturiert! Diesen Stress brauche man nie wieder...
    ... bis man beim nächsten Mal feststellt: nichts hat sich verändert!



    Im ersten Teil ihres Buches "Willkommen in Teufels Küche: Glanz und Elend der Chaotiker" präsentiert die Sängerin Ulla Meinecke anekdotenreich die Erfahrungen ihrer Gesprächspartner mit dem Chaos in ihrem Leben. Sie berichtet, welche Situationen dieselben erlebt und was sie dabei empfunden haben und wie sich das Chaos auf ihr Leben auswirkt.


    Ein raustrennbarer Ratgeber in der Mitte des Buches fasst kurz und prägnant zusammen, wie man aus einem Problem eine Katastrophe machen kann.


    Der zweite Teil beschäftigt sich mit psychologischen und gesellschaftlichen Grundlagen dieses Phänomens. Auch wenn klar wird, dass Ulla Meinecke ein wenig Chaos im Leben für abwechslungsreich und notwendig erachtet, möchte sie doch auch Hilfestellung geben, bekannte - und nervenzehrende - Verhaltensmuster aufzubrechen. Sie warnt jedoch auch vor zuviel Ordnung im Leben: ein ganzes Kapitel ist den Auswüchsen des schwäbischen Reinlichkeitswahns gewidmet.


    Gerade im ersten Teil habe ich mich häufig "ertappt" gefühlt und war dadurch natürlich daran interessiert, welche Mechanismen dazu führen, dass ich bestimmte Dinge nicht gleich erledige und anscheinend die Angst und den Druck vor dem Versagen brauche, um sie zu schaffen. Der zweite Teil gab mir darauf einige Antworten.


    Das Buch liest sich locker-flockig in umgangssprachlichem Ton und bietet sicher einen Einstieg in die Thematik, kann aber nicht alle Fragen beantworten.

  • Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was Ulla Meinecke dazu getrieben hat, dieses Buch zu schreiben, zählt sie sich doch selbst offensichtlich nicht zu den „Chaotikern“. Immerhin interessiert sie sich so stark für diesen Menschenschlag, dass sie sich viel Zeit darauf verwendet hat, das Wesen der Aufschieber, denn darum geht es eigentlich, zu ergründen und zu erklären. Und ersteres ist ihr durchaus gelungen: ziemlich feinfühlig, mit einer überraschenden Beobachtungsgabe und viel Humor schildert sie, wie der gemeine Prokrastinierer so tickt. Ich als Gründungsmitglied der AP (Anonymen Prokrastinierer) fühlte mich einige Male ertappt und war überrascht, wie eine, die dieses Problem offenbar nicht hat, die Vermeidungs- und Verschiebungsstrategien der „Chaotiker“, durch die sie erst in Teufels Küche geraten, doch sehr treffend zu schildern vermag. Ja, es schwang auch so einige, wenn auch streckenweise mitleidsvolle Sympathie für die Menschen mit, die erst aus dem Quark kommen, wenn die Kacke am Dampfen ist und die sich im Kampf mit dem inneren Saboteur verzehren. Da verzeiht man doch gerne, dass das eine oder andere Beispiel, das sie bringt, eher einer stammtischdiskussion abgelauscht, denn einem gründlichen Denkprozess entsprungen scheint.


    Im zweiten Teil des Buches dagegen, in dem sie das Verhalten dieser seltsamen Menschen zu erklären versucht, bleibt nicht mehr als Küchenpsychologie. Mangelndes Selbstbewusstsein macht sie als Grund für die Misere aus, resultierend aus einer unglücklichen Kindheit oder zumindest suboptimaler familiärer Verhältnis. Dann folgen nicht sonderlich tiefschürfende Betrachtungen zu den Bedürfnissen von Kindern und darüber, wie mangelnde familiäre Geborgenheit zwingend das Phänomen der Aufschieberitis erklärt. Der Einfluss des protestantischen Arbeitsethos' wird erwähnt, aber nicht zuende gedacht, wie so viele andere Gedanken auch. Und auch Meineckes Lösung des Problems ist eigentlich ganz einfach: Verhaltensmuster erkennen und ändern. Na prima.


    Fazit: ein streckenweise kluges, witziges Buch über schwere Prokrastinierer, das sich aber gegen Ende in oberflächlichem Geschwätz verliert. Trotzdem lohnt die Lektüre, für Betroffene (schon alleine wegen des „Ich bin nicht allein“-Effektes) und für deren Umfeld, um zumindest eine Idee davon zu bekommen, warum manche Menschen erst dann auf Touren kommen, wenn das Kind bereits am Brunnenrand kippelt.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)