Das Hörbuch ist jetzt auf meiner Wunschliste gelandet.
Marisha Pessl - Die alltägliche Physik des Unglücks
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Ich habe es gestern abend fertig gelesen und mich gleich heute morgen an eine Rezi gemacht.
Bereits der Titel des Debütromans von Marisha Pessl „Die alltägliche Physik des Unglücks“ im amerikanischen Original mit dem Titel „Special Topics in Calamity Physics“ deutet darauf hin, dass es sich um ein ungewöhnliches Werk handelt. Ein kurzes Anlesen verhalf mir dann endgültig, über das wenig ansprechende kitschige Rosenmotiv auf dem Cover hinwegzusehen und mir mit einiger Erwartung dieses Buch zu Gemüte zu führen – es wurde dann phasenweise eher ein Verschlingen...
Normalerweise steht bei mir bei einer Buchbesprechung der Inhalt des Buches ganz klar im Vordergrund. In diesem Fall muss ich als erstes Marisha Pessls sprachliche Kunstferigkeit hervorheben. Selten habe ich einen Roman in einer derartigen sprachlichen Fülle, Pointiertheit und Detailverliebtheit gelesen. Jedes Wort ist bewusst gesetzt und hat seine Bedeutung und Begründung. Dabei ist die Art und Weise wie Marisha Pessl ihre Protagonistin Blue van Meer, ihre Geschichte erzählen lässt, sprachlich durchaus genauso ungewöhnlich wie Blue selbst. So werden die häufig als elegante Nebensatzkonstruktionen aufgebauten Sätze oft mit Einschüben in Klammern unterbrochen, wie dies auch geschieht, wenn man Freunden eine Geschichte erzählt, und sind gespickt mit Zitaten aus Büchern, Filmen und Liedtexten, deren entsprechenden Quellenangaben und einer Vielzahl origineller Vergleiche, Bilder und Metaphern. Diese elegante, fließende, spritzige und überbordende Sprache wird von Marisha Pessl jedoch nicht wegen ihrer selbst eingesetzt, sondern steht in unmittelbarer inhaltlicher Verbindung mit ihrer Erzählerin Blue van Meer.
Blue van Meer ist die sechzehnjährige hochbegabte Tochter eines Professors der Politikwisschenschaften, der zu jedem Semester eine Anstellung an einer anderen drittklassigen Universität annimmt, weshalb die beiden in etwa zu Beginn jedes neuen Semesters ihren Wohnort wechseln. So verlebt Blue ihre Jugend mehr zwischen als in verschiedensten Wohnorten, wo es ihr nie gelingt Freundschaften aufzubauen und einen Platz in einer Gemeinschaft zu finden. Ihre Welt wird die Welt der Bücher, die sie passiv aufnimmt, so dass sie ihr die Welt erklären, ihr einen Rahmen und Sicherheit geben. Dies zeigt sich, wenn Blue ihre Geschichte erzählt, in der sie jede Situation mit einem entsprechenden Zitat würdigt; Zitate, die zum Teil das Erzählte bereichern und interessante Anspielungen und Gedankenspiele sind, die aber manchmal lediglich Blues Einsamkeit über die Beliebigkeit ihrer Lektüre vermitteln. Blues Vater, der sich offenbar gerne selbst reden hört, hält Blue auf Reisen systemkritische Vorträge über Politik und Weltliteratur, und kommentiert alles mit seinen Lebensweisheiten, die Blue nicht in Frage gestellt sondern zutiefst verinnerlicht hat. Ihr Vater ist ihr Held und Halt, erst spät muss sie feststellen, dass er in Wahrheit weder das eine noch das andere ist.
Blue eröffnet ihre Geschichte mit der Aussage „Dad sagte immer, ein Mensch braucht einen fabelhaften Grund, um seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, wenn er will, dass jemand sie liest“. Das macht den Leser natürlich gespannt darauf, welcher fabelhafte Grund in Blues Fall dahinter steht. Darauf muss der Leser allerdings eine ganze Weile warten. In den ersten 150 Seiten erfahren wir sehr viel über Blue und ihren Vater, Erlebnisse in bisherigen Reisestationen und ihren Umzug nach Stockton. Das ist inhaltlich nicht wirklich viel, liest sich aber aufgrund Blues ironischer Darstellungen, die beweisen, dass sie nicht nur eine gute Beobachterin ist, sondern ihre Wahrnehmungen messerscharf auf den Punkt bringen kann, wodurch sie uns Alltägliches skurril und absurd erscheinen lässt, sehr amüsant. Ab Seite 150 erfährt Blues Geschichte eine Wendung. Sie lernt Hannah Schneider, eine etwas chaotische und äußerst geheimnisvolle Lehrerin, kennen, die sie mit einer Clique von fünf gleichaltrigen Schülern Jade, Leulah, Nigel, Milton und Charles zusammenbringt. Obwohl Blue nicht vollständig in die Gruppe integriert ist, kommt sie in eine für sie neue Welt, in der sie Erfahrungen mit Mode, Jungs, Parties, Alkohol etc. macht. Eine Phase des Romans, die meines Erachtens zu lange ereignislos vor sich hin mäandert und höchstens zeigt, dass Blue zwar in der Lage ist, ihre Umwelt gewissermaßen geistig zu sezieren, ihre Geschichte aber nicht auf den Punkt bringen kann. Als es bei ca. Seite 380 im Tod Hannah Schneiders durch Erhängen zur Katastrophe kommt, hatte ich als Leserin schon fast vergessen, dass Blue schon zu Beginn des Romans diese Katastrophe angekündigt hatte und fragte mich eher, warum ich diesen sprachlich wundervollen aber ereignislosen Roman eigentlich noch weiter las und ob sich überhaupt noch irgendwelche interessanten Entwicklungen ergeben würden. Manchmal ist es aber gar nicht schlecht, wenn ein Buch eine eigenartige magische Faszination auf den Leser ausübt und ihn so bei der Stange hält. Ab Seite 380 überstürzen sich die Ereignisse und endlich beginnt unsere hochintelligente durch den Tod ihrer Lehrerin und der Reaktion ihrer Clique erschütterte Protagonistin, unsere messerscharfe Beobachterin, die nicht an einen Selbstmord ihrer Lehrerin glauben kann, zu denken und zu kombinieren – das Ergebnis führt allerdings zur nächsten Katastrophe. Dass mir Marisha Pessl nicht alle offene Fragen zum Ende hin beantwortet und so der ein oder andere lose Faden in der Intrige und Verschwörungstheorie bleibt, wird für mich kompensiert durch den unglaublichen Humor, mit dem die Autorin sich in den letzten Passagen sogar selbst hinterfragt.
Am Ende läßt Marisha Pessl mich als Leserin etwas ratlos zurück. Ihre sprachliche Virtuosität machen „Die alltägliche Physik des Unglücks“ zu einem faszinierenden Leseerlebnis für Leser, die an Sprache Freude haben. Aber was bleibt inhaltlich? Oberflächlich betrachtet ist „Die alltägliche Physik des Unglücks“ ein Collegeroman, in dem uns eine hochtintelligente sechzehnjährige Außenseiterin ihre zum Teil mehr zum Teil weniger interessanten Erlebnisse eines Collegejahres schildert. Aber der Roman erzählt doch mehr als das. Er erzählt „das Schmerzlichste von allem: den Verlust jugendlicher Illusion“, die mit der Abnabelung von Blues Vater enden muss und so erlebt der Leser zum Ende des Romans eine neue, befreite und gereifte Blue.
Für mich bleibt „Die alltägliche Physik des Unglücks“ als Roman in Erinnerung, den ich trotz seiner Längen mit einer ähnlichen Faszination gelesen habe wie die frühen Werke John Irvings und den ich schon wegen seiner sprachlichen Brillanz zweifellos noch einmal lesen werde. Ob Marisha Pessls Roman zu einem Klassiker werden wird, wage ich nicht zu beurteilen. Mir reicht, dass mir das Lesen Spaß gemacht hat.
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Ich habe gerade entdeckt, dass meine Bücherei dieses Buch gerade einarbeitet, das werde ich mir vorbestellen. Eure Meinungen sind ja wirklich durchgängig sehr gut.
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Mach das unbedingt, geli, es lohnt sich auf jeden Fall!!
begeistert das Buch hochheb Grüße von Elbereth
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@ Geli
lies ein paar Seiten an und entscheide, ob Du den Stil magst. Die Autorin hält ihren Stil konsequent durch und ich habe schon einige Leute gehört, die mit diesem ironischen Stil, den vielen Einschüben und Zitaten allergrößte Probleme haben und das Buch in eine Ecke geschmissen haben.
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Dein Rezi ist einfach toll, Pelican.
Du hast wunderbar viele und tolle Aspekte herausgearbeitet, die mir den Mund noch wässriger machen, es bald zu lesen. Vielen Dank! -
OOOHHHH... und noch zwei Monate bis zum Geburtstag...
ich muss das haben, ich muss das haben... warum gibt es keine Sabber-Smileys??
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@ SueTown
Danke Wo es mir gerade bei komplexen Büchern so geht, daß ich hinterher mit meinen Rezis nie wirklich zufrieden bin.
Noch eine Ergänzung zum Ende des Buchs. Einige Rezensenten sind ja mit dem Ende nicht ganz so glücklich. Ich meine aber, zumindest die eingeschlagene Richtung der Autorin ist die Richtige. Blue ist in ihrem jungen Alter schon so zynisch, daß ich gar nicht zu denken mag, wie sie sich entwickeln würde, wenn keine Wendung in ihrem Leben eintreten würde.
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Warum kam ich eigentlich zu dem Buch? Ich denke es lag an Tom Wolfe, der mich mit " Ich bin Charlotte Simmons" begeisterte. Auch wenn das Werk von literarischer Kraft nur so protzt, ist es sehr ermüdend den Vergleichen zu literarischen Werken oder Filmklassikern zu folgen. Den Erfolg den dieses Buch in den Staaten erzielt hat, überrascht mich, da das Werk sich nicht unbedingt an eine breite Lesergruppe richtet.
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Leider bin ich über die ersten 40 Seiten nicht hinausgekommen. All die Klammern waren mir dann doch zu anstrengend... Manchmal hatte ich das Gefühl, die Autorin möchte um jeden Preis zeigen, wie viel sie weiß. Schade eigentlich! Lasse mich aber gerne von Euch zum Weiterlesen überreden:-)
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Zitat
Leider bin ich über die ersten 40 Seiten nicht hinausgekommen. All die Klammern waren mir dann doch zu anstrengend... Manchmal hatte ich das Gefühl, die Autorin möchte um jeden Preis zeigen, wie viel sie weiß. Schade eigentlich! Lasse mich aber gerne von Euch zum Weiterlesen überreden
- Mir gehts wie dir - ich hab das Buch vor ein paar Wochen mal angefangen und fand es sogar ganz gut ... aber hab es dann doch schweren Herzens nochmal zurückgelegt :-(.
Aber ich denke nach Amokspiel werd ich ihm nioch eine Chance geben :-]. -
Danke Pelican für die superlange Rezi
Ich hab das Buch am Freitag bekommen und freu mich jetzt noch mehr, damit bald anfangen zu können...
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meins liegt auch seit einer Woche hier. Ich habe übrigens auch die mysteriöse englische Ausgabe mit dem Aufdruck 0.00 Pfund.
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Ich weiß noch nicht so recht, was ich von dem Buch halten soll.
Leider kam ich mit den Verweisen und den vielen Gedanken in Klammern usw. gar nicht zurecht. Außerdem war mir der Vater von Blue sehr unsympathisch. Hm... es war glaube ich nicht so ganz mein Fall. Obwohl mir die Geschichte an sich gefallen hat und zweitweise auch spannende Stellen hatte, die ich gern gelesen habe. Doch generell glaube ich, war es nichts was ich noch einmal lesen würde oder was mir länger in Erinnerung bleibt. Hinzu kam, dass ich viele der genannten Bücher nicht kannte, nur vom Titel her, aber sie nie selbst gelesen habe. Damit verstand ich auch den einen oder anderen Hinweis nicht. -
Nach dem, was hier geschrieben wurde, muß das Buch ja wirklich lesenswert sein, auch wenn die Amazon-Kritiken was anderes sagen (aber über deren „Qualität“ wurde hier ja auch schon diskutiert). Stellt sich nur noch die Frage: deutsch oder englisch? Für dicke Fantasy Wälzer und auch Sachbücher reicht es, aber für:
ZitatNicole
Mir sind bislang einige Passagen und Formulierungen aufgefallen, die im Englischen so auf den Punkt gebracht bzw. ein Wortspiel sind
da bin ich mir nicht so ganz sicher. -
Das scheint mir ein viel gekauftes- viel verschenktes- viel drüber gesprocchenes- aber vermutlich keinesfalls viel gelesenes Buch zu sein. Ich habe es ja bei lovelybooks geschenkt bekommen, also schon reingerochen, komme diesen Monat der vielen Leseruden aber nicht dazu es richtig zu lesen. Was ich bisher angelesen habe setzt so viel Kenntnis an Büchern und Filmen voraus, die ich bei Eulen noch erwarten kann, aber bei Otto-der- Trend- zum - Zweitbuch- hält -an- Normalleser eher nicht. Ein Buch wie Okonkwo von Achebe hat es zwar auf zwölf Auflagen gebracht, derzeit aber amazon Verkaufsrang 151.205 . Anspielungen auf Filme der fünfziger in Schwarz- Weiss sind ebenfalls nicht Massentauglich.
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In der aktuellen Ausgabe des Bücher Magazins ist ein Bericht über das Buch und die Autorin. Also so positiv kommt es leider nicht weg darin...
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Hmmm.. das englische Taschenbuch kostet bei ama gerade 5,97 €. Ich denke das kann ich riskieren. Ich hoffe allerdings, dass es dann nicht wieder auf diesem furchtbaren billig-Klopapier gedruckt ist, das ich von einigen amerikanischen TBs kenne.
Zitate und Anspielungen mag ich sehr gerne. Ich dachte ja erst, das Buch wäre bestimmt nichts für mich, aber all eure Beschreibungen haben mich jetzt doch neugierig gemacht und ich probiers einfach aus.
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Zitat
Original von Paradise Lost
Hmmm.. das englische Taschenbuch kostet bei ama gerade 5,97 €. Ich denke das kann ich riskieren. Ich hoffe allerdings, dass es dann nicht wieder auf diesem furchtbaren billig-Klopapier gedruckt ist, das ich von einigen amerikanischen TBs kenne.So was darfst du doch nicht sagen. Eigentlich wollte ich mich in nächster Zeit mit dem Bücher kaufen etwas zurück halten, aber bei 5,97 €. ...Da kann ich doch nicht nein sagen. Vorallem bei einem Buch, das ich schon lange lesen will.
Ich glaub, da muss ich trotz meiner guten Vorsätze zuschlagen. Danke für den Tip -
"Die alltägliche Physik des Unglücks" gehört, ab sofort, defintiv zu meinen Lieblingsbüchern.
Die unendlich vielen Zitate und Querverweise, die Marisha Pessl verwendet, finde ich ansprechend und herausfordernd (oder wer möchte nicht sofort nachschlagen, wie eine "Bulldoggenameise" aussieht).
Neben dem sprachlichen Anspruch gerät die eigentliche Geschichte fast ein wenig in den Hintergrund, sie wurde hier schon ausführlich besprochen. Mit dem Klappentext bin ich allerdings äußerst unzufrieden, er wird der eigentlichen Geschichte nicht gerecht.Ein Buch für all jene, die Spaß haben an Zitaten wie:
"Wir sind alle Würmer, aber ich glaube, ich bin ein Glühwürmchen."
und denen eine rasant erzählte Geschichte nicht so wichtig ist.