Häusser, Alexander - Karnstedt verschwindet

  • Spektakulär beginnt dieser Roman. Simon, der Protagonist des Buches, wird als Nachlassverwalter nach Dänemark beordert, um vor Ort die letzten Angelegenheiten seines wohl verstorbenen Freundes zu regeln. Seit drei Jahrzehnten haben sich Simon und Karnstedt nicht mehr gesehen, sie waren Schulfreunde, und haben sich danach aus den Augen verloren. Jetzt steht Simon im Arbeitszimmer seines Klassenkameraden, in dem das Chaos herrscht. Sämtliche Unterlagen fliegen herum, der Stuhl ist zerschlagen und die Regale sind umgeworfen. Scheu und fremd erkundet Simon das alte Bauernhaus, welches sich zwar irgendwie bewohnt anfühlt, aber dennoch kalt und verlassen.


    Nach dieser Einleitung springt dann der Roman gekonnt zwischen dem Jahr 1974, der Schulzeit, und der Jetztzeit. Der Leser erfährt, dass die Freunde starke Außenseiter waren, und dass sie von ihren Klassenkameraden massivst gemobbt wurden. Karnstedt aufgrund seiner Haarlosigkeit, und Simon, weil er einen sehr schmächtigen Körperbau hatte. So finden sie sich zusammen, entwickeln eine sehr innige, und doch sehr außergewöhnliche Freundschaft. Sie beschäftigen sich mit Fossilien, Ammoniten und Biologie, und ganz besonders mit der Mendelschen Vererbungslehre.
    Bis dann auf der Abiturfahrt ein Unglück geschah, denn die Fronten hatten sich verhärtet, und der große Knall musste früher oder später folgen.


    Über weite Strecken wusste ich überhaupt nicht, was der Autor mir vermitteln möchte. Die Szenen aus der Jetztzeit und Simons Erzählung aus 1974 ergaben keinen Zusammenhang. Aber die wunderbare beschreibende Sprache des Autors, und zahlreiche intelligente Gedanken haben mich so in den Bann gezogen, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollte. Die Idee, dass nur Außenseiter oder Minderheiten in der Welt etwas bewegen können, hat mich fasziniert; dass Mendel nur aufgrund seiner Leibesfülle überhaupt die Geduld hatte Erbsen akribisch zu befruchten, fand ich genial.
    Ich war so bereichert vom Geschehen und der Fülle der Gedanken, dass ich zum Schluss nur noch staunen konnte wie geistreich alles im Buch zusammenfließt.
    Insgesamt ein sattes Werk, das ich uneingeschränkt weiter empfehlen kann!


    Alexander Häusser wurde 1960 in Tübingen geboren und lebt jetzt in Hamburg. Seine Studienfächer waren Germanistik und Philosophie. Seine weiteren veröffentliche Werke sind: „Memory“, „Nicht Fisch, nicht Fleisch“ und „Zeppelin“.

  • Karnstedt wird mit einer physiologischen Besonderheit geboren: Er hat am gesamten Körper kein einziges Haar. Das macht ihn zu etwas Fremdem und damit zum Außenseiter und zum Ziel der Gemeinheiten des Klassenbullys Tummer. Der einzige, der zu Karnstedt hält, ist Simon Welde, ein schmächtiger Klassenstreber. Die beiden sind durch die gesamte Schulzeit hindurch beste Freunde, bis sich Simon in eine ältere Frau verliebt, die zu allem Überfluss etwas mit Tummer hat. Das darf natürlich keiner wissen, da beide noch minderjährig sind. Simons Sehnsucht wird von dem cleveren Karnstedt befriedigt, doch seine Motive sind nicht ganz uneigennützig. Auf der Abiturfahrt droht die Situation zu eskalieren und es kommt zum Bruch zwischen Karnstedt und Simon.
    Zwanzig Jahre später erhält Simon den Auftrag, den Nachlass Karnstedts abzuwickeln. Dieser ist unter mysteriösen Umständen ins Wasser gegangen und hat testamentarisch verfügt, dass Simon sich um sein Haus und seine Habseligkeiten kümmern soll. Simon rekonstruiert, während er sich diesem Wunsch fügt, die gemeinsame Vergangenheit mit Karnstedt und gelangt nach und nach zu einigen erschütternden Erkenntnissen.


    Ein kleiner Roman, keine 200 Seiten lang, Alexander Häusser beschränkt sich auf wenige Situationen im Leben seiner Figuren, die sie und ihr Handeln aber recht plastisch werden lassen. Was mir gefehlt hat, war der Grund, aus dem Simon sich tatsächlich 20 Jahre lang nicht mehr bei Karnstedt meldet, obwohl es, wie wir erfahren, in seiner Hand gelegen hätte. Vielleicht ist Simons Schwächlichkeit, die ihn buchstäblich in allem Mittelmaß bleiben lässt, der Grund dafür? Eine Reflexion dieses Handelns findet im Buch jedenfalls nicht statt.


    Das ist aber schon das einzig Schlechte, was man über dieses kleine Prosastückchen sagen kann, und ob man es wirklich sagen kann, ist ja auch dahingestellt, einem anderen Leser mag die Schilderung Simons als Motivation für sein Handeln ausreichen.


    Häusser schreibt eine nicht sehr charakteristische, aber gut lesbare Sprache, die Handlung ist spannend wie ein Krimi und endet auch mit einer Kriminalhandlung. Das Thema "Außenseitertum" ist zudem eines, über das ich immer wieder gern lese, gerade wie man sich in jungen Jahren darin einrichtet. Für Simon, so macht Häusser deutlich, ist die Freundschaft mit Karnstedt wohl nur ein Ersatz für die Freundschaften, die er nicht haben kann. Für Karnstedt ist es anders. Und damit komme ich wieder auf meine Kritik zurück, denn tatsächlich ist es nicht ganz ersichtlich, warum Simon Karnstedts Wunsch entspricht, als er ihn zum Nachlassverwalter macht. Ist Karnstedt für ihn doch ein "richtiger" Freund gewesen? So gibt er es zumindest dem dänischen Anwalt Karnstedts gegenüber zu Protokoll, aber überzeugt mich als Leser diese Begründung? Nicht vollständig.


    Es ist vielleicht doch eine Schwäche des Buches, dass es sich auf eine Figur fokussiert, die so wenig reflektiert ist, der aber auch so wenig widerfährt. Karnstedt und seine Beharrlichkeit, sein Festhalten an der Freundschaft zu Simon, werden nur aus der Perspektive Simons erzählt, und die Figur erscheint so als außerordentlich selbstsicher und manipulativ.
    Simon hingegen zieht sich in die Gewöhnlichkeit zurück und seine Reflexion setzt im Grunde erst auf den letzten Seiten des Buches ein. Ihre Auswirkungen können wir uns als Leser nur ausmalen.


    Was soll ich sagen? Sicher ein lesenswertes Buch, das mir aber einfach einen Tick zu sehr auf der sicheren Seite bleiben wollte.