Er ...
... kam schon früh zu mir. Ein Spielgefährte, den ich freudig begrüßte. Er wir-belte den Sand zu kleinen verspielten Formen um, flüsterte geheimnisvolle Geräusche in mein Ohr und kitzelte durch meine nackten Zehen. Ich lachte viel und verstummte, wenn die Erwachsenen dazutraten, um sich an meiner Lust zu erfreuen. Dann war er stets weg. Ich gab ihm keine Namen. Später wurde er mir als Hirngespinst untergejubelt. Die Mutter ging mit mir zum Arzt. Zu vielen Ärzten. Die meisten lächelten: „Kindern haben solche komischen Anwandlungen. Das geht vorbei.“ Ich verstand, dass ich nicht mehr darüber sprechen sollte. So wurde er zum Geheimnis. Ein Geheimnis, das ich nicht aufgeben wollte. Nachts durfte meine Mutter nie das Fenster schließen – erst recht nicht im Winter. Wenn sie es tat, schrie ich so lange, bis sie aufgab. Ängstlich sah sich mich an, schüttelte den Kopf, wagte nicht die Tür zu schließen. Ich aber wartete, denn er kam immer mit dem klaren Frost und brachte mir unzählige Arten von Wärme – das Feuer der Currywurstbude, der Duft frisch frisierten Haares, das Einstreu der Hasen aus Nachbars Gehege. Säuselndes Gemurmel wiegte mich in den Schlaf. So lernte ich, die Enge der Räume zu meiden. Wenn nicht ein Fenster offen stand, ertrug ich es schwer. Nach jeder Unterrichtsstunde lief ich nach draußen. Atmete ein. Wenn er dann lispelnd an meinem Ohr zupfte, schöpfte ich neue Kraft. Alle empfanden mich als seltsam.
Später wandelte es sich. Ich sah ihre faszinierenden Blicke. Mein Geheimnis strahlte nach außen. Wie konnte ich es auch vermeiden? Er kam nicht mehr von mir los. Nichts war ohne Bewegung. Mein Haar, durch das er sanft flüsterte, meine Wimpern, die er zittern ließ und die Kleidung – er verhinderte stets, dass sie sich an mich schmiegte. Jungs ertasteten sich meine Nähe, suchten die Befriedigung ihrer Neugier. Sie ließ sie die Grenzen durchbrechen, die ich um mich baute. Suchten meine Unantastbarkeit zu verschlingen. Er lauerte ihnen auf, erschreckte sie. Wie sollte ich ihnen erklären, wer es war, der um die Ecken zürnte, ihnen Sand und Staub entgegenwarf und der Nacht die unheimlichsten Töne entriss. Er siegte immer – ich gab keine Widerworte. Legte er sich vibrierend auf meine Haut, glaubte ich ihm.
Als ich auf der Steinmauer stand, betäubt vom Alkohol, verlangte ich das Unmögliche: „Fang mich auf!“ Er konnte es nicht. Mein Körper zerteilte die geballte Energie an Wirbeln und Stöhnen. „Verschwinde!“, rief ich, „wage es nicht wiederzukehren, wenn Du mich nicht zu halten weißt.“
Danach war es still.
Stunden.
Jahre.
Ich lernte Kontakt zu anderen aufzunehmen. Da waren Gesichter, die dauerhaft blieben. Das erste Mal, dass mich die Lippen eines Mannes berührten. Haut auf Haut – Wärme zu Wärme. Ich tastete mich in eine neue Welt – meine Mutter weinte vor Glück. Die wenigen Momente, die ich abends vor dem geöffneten Fenster stand, sie dauerten nicht allzu lange. Warum an ihn denken? Starke Arme umschlossen, trugen und hielten mich. Sie blieben mir fremd. Sie schlossen eines Nachts das Fenster – ich schrie wie damals – ich schrie so lange, bis dieser Mann gegangen war, um nicht wiederzukehren.
Ich begann zu warten.
Stunden.
Jahre.
Bis er wiederkam.
Ich erkannte ihn sofort – stark, berauschend und tobend erfüllte er das Zimmer – umschlang mich mit einer Kraft, die mich aufseufzen ließ. Er glitt unter meinen Körper und erhob ihn. Mein Herz raste als ich die Ornamente der Decke berührte. Wo er auch gewesen war, er hatte gelernt. Berauscht von seiner Leidenschaft gab ich mich hin. Erinnerte mich an damals und an eben – er durchfuhr mich, ließ mich erbeben und wirbelnd erzählte er mir die Erlebnisse seiner Reise. Erschöpft schlief ich das letzte Mal in meiner engen Welt – dann folgte ich ihm in die abenteuerliche Weite seiner Unendlichkeit.
A. F.
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