OT: Chanda’s Secrets 2004
Worüber keiner spricht, die ‚Secrets’ des anglo-kanadischen Originaltitels, sind das, was als moderne ‚Pest’ gilt, Aids. In dem fiktiven Land, in der fiktiven Stadt irgendwo im Süden Afrikas, die der Autor als Schauplatz seines Jugendromans gewählt hat, ist Aids Tabu-Thema. Aids ist die größte aller Schanden. Niemand spricht davon, niemand weiß etwas davon, es wird verschwiegen, als ob es nicht existiere. Aber die Menschen sterben daran. Was kann eine 16jährige tun, deren Familienangehörige mit der Immunschwäche infiziert sind?
Dieses Buch ist Chandas Geschichte, sie erzählt aus ihrer Perspektive. Wir treffen sie gleich zu Beginn in Mr. Batemans Bestattungsunternehmen. Chandas jüngste Schwester, die 18 Monate alte Sara, ist gestorben, das Begräbnis muß organisiert werden. Die Mutter, Lilian, kränkelt und muß dennoch arbeiten. Chanda ist, mangels älterem Bruder und Vater, der Mann der Familie.
Eigentlich hat Chanda ganz andere Vorstellungen vom Leben. Sie möchte stabile Familienverhältnisse, mit den Freundinnen ausgehen, sich verlieben und nach der Schule auf die Universität gehen. Stattdessen steht sie vor einer Unmenge von Problemen. Ihre Mutter hatte kein Glück mit den Männern. Den ersten Mann, Chandas Vater, heiratete sie gegen den Willen der Familien, er starb nach kurzer Ehe. Ein Fluch? Großeltern und Tanten sind überzeugt davon.
Der zweite Mann verprügelte sie und vergriff sich an den Töchtern, der dritte Mann ist Alkoholiker. Chandas Halbgeschwister, um einiges jünger als sie, reagieren auf die angespannt Lage in der Familie mit Streit und Trotz. Das Geld ist knapp. Chandas beste Freundin Esther ist dabei, in die Prostitution abzurutschen. Die Nachbarn mischen sich in die Familienangelegenheiten ein. Über allem schwebt die Angst vor Aids. Über das niemand spricht. Kopfschmerzen sind Kopfschmerzen, Magenverstimmungen Magenverstimmungen, Hautausschläge eben Hautausschläge. Chanda weiß, daß das nicht stimmt. Soll sie sprechen?
Als ihre Mutter immer kränker wird, kommt der Zeitpunkt, an dem Chanda sich entscheiden muß.
Die Geschichte ist gut geschrieben, gut erzählt. Sie ist schmerzlich, bedrückend, mitunter komisch. Sie ist tragisch, sie macht Mut. Sie ist spannend, berührend. Sie ist interessant und erhellend. Sie gibt kein Zahlenmaterial wieder, keine Aufzählung von Fakten. Es geht um Gefühle, Stimmungen, Menschen vor Ort. Die Mutter, die Nachbarin, Mrs. Tafa, deren einziges Lebensziel die Erhaltung des guten Rufs in der Nachbarschaft zu sein scheint, der zweite Stiefvater von Chanda, Jonah, der Alkoholiker, sind ganz großartige Charaktere.
Man kann nicht anders, als das Buch zu empfehlen. Schließlich hat es mittlerweile 16 Jugendbuchpreise bekommen. Es ist Schullektüre.
Dennoch war ich nicht recht glücklich damit. Der Autor, der in Kanada vor allem für seine Theaterstücke bekannt war, ehe er anfing auch Jugendbücher zu schreiben, hat für dieses Buch mehrere Monate in Südafrika, Botswana und Südafrika recherchiert. Wenig in diesem Buch ist erfunden. Es ist alles echt und klingt echt.
Vielleicht lag es an der Fülle der Probleme, die angehäuft werden. Es wird einfach alles abgedeckt, von archaischen Sitten bis zur Forderung nach einem neuen Männerbild. Das ist alles richtig, wohlgemerkt, nur ab einem gewissen Punkt zuviel für Chandas schmale Schultern. Trotz aller Bemühungen des Autors um ein großartiges Mädchen, blieb Chanda letztlich blaß. So eindrücklich ihre Ängste und ihr Schmerz beschrieben werden, waren seltsamerweise ihre wunderlichen Träume und vor allem das Einbrechen der Sagenwelt in ihren Alltag, die Szenen, die für mich authentischer als jedes andere Wort von Chanda ihre eigentliche Persönlichkeit wiedergaben.
Rundum vorbildliche Lektüre, mit allen Vor - und Nachteilen des völlig Korrekten.