So langsam wird der Wind kälter und ich bereue, dass ich meine Jacke nicht zugemacht habe, bevor der Sicherheitsbügel zuging.
Marie hat es besser, in ihrem dick gefütterten Mantel und dem Schal. Trotzdem zittert sie, das kann ich sehen.
Ihr Blick ist starr nach oben gerichtet, auf das Ende des Lifts. Wir sitzen im ersten Wagen und können alles erkennen, die Stelle wo die dicken Zugketten aufhören, die Kuppe, hinter der die Bahn einfach zu verschwinden scheint.
Plötzlich frage ich mich ob dieser Platz wirklich so gut gewählt ist für meine zehnjährige Schwester.
Aber nein, sie wollte in den ersten Wagen, also sitzen wir im ersten Wagen. Sie ist schließlich die Chefin.
Wir erreichen die Spitze. Maries Hand greift nach meiner, als sich die Welt in einer fließenden Bewegung erst in die Wagerechte dreht, und dann steil nach unten.
Der Bügel, der meinen Oberkörper hält, drückt auf die Schultern. Ich halte mich an ihm fest, weil ich weiß, dass es gleich losgeht. Hinter uns rattern die letzten Wagen über die Kuppe.
Dann erstirbt das Geräusch der Motoren.
Und wir bleiben stehen.
Fast senkrecht, mit in der Luft hängenden Beinen dem Gesicht nach unten.
Während die Bügel mir fast die Luft abschnüren, verrenke ich den Kopf, um zu sehen, was passiert ist. Warum wir nicht fahren. Es gelingt mir nicht.
Über uns werden Rufe laut. Was los ist, ob wir feststecken, ob jemand was sehen kann. Zu viele Stimmen, die durcheinander brüllen.
Marie beginnt zu zappeln. Ich sehe, dass ihr Kopf fast hinter dem Bügel verschwunden ist, kein Wunder, er ist viel zu groß für sie. Aber sie findet mit einem Fuß die Kante des Wagens und stemmt sich hoch, den verwirrten Blick auf mich gerichtet. „Warum fahren wir nicht runter?“, fragt sie durch das Futter des hochgerutschten Mantels.
„Weiß ich nicht“, antworte ich, während ich versuche, die wirren Rufe hinter mir zu erfassen. Allmählich kann ich etwas verstehen. Dass sich die letzten beiden Wagen noch auf dem Lift befinden und steckengeblieben sind, dass die Motoren zu früh ausgegangen sind. Und dass vier Männer in blauen Pullovern über die schmale Treppe hinaufkommen.
Das beruhigt mich und ich nehme Maries Hand. „Die helfen uns gleich hier raus“, sage ich. Und: „Schade, jetzt können wir gar nicht durch den Looping fahren.“
Hinter uns werden Schritte auf Metall und tiefe Männerstimmen laut. Ich vermute, dass jetzt die Fahrgäste aus den hinteren Wagen befreit werden. Wir ganz vorne kommen wohl zuletzt dran.
Ich stütze meine Füße jetzt genau wie Marie gegen die Wagenkante, um meine Schultern zu entlasten. Sie neben mir beginnt zu murren, und versucht, sich weiter nach oben zu schieben.
„Mein Rücken tut weh“, sagt sie.
„In ein paar Minuten haben die uns hier rausgeholt“, versuche ich sie zu beruhigen und füge hinzu: „Und wenn die Schule wieder losgeht, hast du was zu erzählen.“
Das scheint sie zu besänftigen, denn sie hört auf sich zu bewegen und schaut zum ersten Mal, seitdem wir in der Achterbahn sitzen, direkt nach unten. Der Boden ist sehr weit weg. Wenn man fährt nimmt man es nicht richtig wahr, aber jetzt...
„Hallo?“, ruft da eine Stimme von oben. „Sie in den Wagen eins und zwei!“
„Ja?“, antworte ich gleichzeitig mit einer weiblichen Stimme hinter mir.
„Hören Sie, wir bekommen Sie nicht raus. Es ist zu gefährlich. Sie sind schon zu weit auf dem Abhang.“
„Also?“, fragt die unbekannte Frauenstimme nach kurzem Schweigen.
„Wir versuchen den Lift wieder zum Laufen zu bringen. Bis dahin müssen Sie es aushalten.“
Und damit entfernen sich die Schritte auf dem Metall wieder, ohne dass der Mann gesagt hat, wie lange wir hier hängen müssen, oder was passiert, wenn sie die Liftketten nicht in Bewegung bringen.
Marie zittert wieder und auch ich fühle einen Hauch von Panik.
„Hallo?“, höre ich plötzlich die Frauenstimme von eben. „Ihr da vorne. Wie heißt ihr?“
„Marie“, sagt Marie.
„Caren“, sage ich.
„Ich bin Simone“, stellt sie sich vor.
„Sind Sie allein im Wagen?“, frage ich.
„Ja.“
Eine kurze Pause, während mir die Eigentümlichkeit dieses Gesprächs bewusst wird.
Ich erinnere mich, die Dame hinter uns beim Einsteigen flüchtig bemerkt zu haben, eine grauhaarige Frau, die aber eigentlich gar nicht so alt aussah.
„Wie alt sind Sie“, fragt da neben mir Marie und ich wundere mich, ob ihr der Gegensatz zwischen Gesicht und Haaren der Frau auch aufgefallen ist.
„Neununddreißig.“
„Und was arbeiten Sie?“ Marie versucht – ebenfalls vergeblich – um den Sitz herum nach hinten zu blicken.
„Ich bin Lehrerin.“
„Echt? Haben Sie eine große Klasse?“
„Wie man es nimmt. Achtundzwanzig Schüler.“
„Mehr Mädchen oder mehr Jungen?“
„Das weiß ich jetzt gar nicht.“ Simone, die Lehrerin, lacht leise, ich glaube, sie findet Maries Verhör niedlich. „Es ist ziemlich ausgeglichen.“
„Das ist bei uns lustiger. Wir sind neun Mädchen und achtzehn Jungs. Da hat jede von uns zwei. Aber man kann nur einen heiraten.“
„Hast du denn schon einen im Visier?“, fragt Simone.
„Nee. Bloß nicht.“
Ich stelle fest, dass enge Haltebügel nicht am Lachen hindern.
Plötzlich macht die Bahn einen Ruck, dann noch einen. Marie klammert sich an meine Hand.
Die Liftmotoren brummen wieder und einen Augenblick später sind wir frei.
Ich werde nach hinten gedrückt, als wir nach unten rasen. Vor uns erscheint der Looping, ganz plötzlich. Die Welt dreht sich einmal um sich selbst.
Dann fahren wir in eine schnelle, langgezogene Linkskurve.
Marie quietscht und kichert. „Ich bin froh, dass wir den ersten Wagen genommen haben“, sagt sie.