Dieser Roman ist kein Roman, sondern ein Musikstück in Worten oder ein musikalisches Wortstück, Töne umgewandelt in Buchstaben, Buchstaben in Töne, Gedankenerinnerungen, Stimmungen, Atmosphäre. Thema und Variationen, Prinzip und Verarbeitung, Ouvertüre, Präludium, Air, Fuge, Coda. Ein Konzert für Bläser, Gitarre und Klavier, für Singstimmen und Harmonium. Für Plattenspieler und Mundharmonika. Vor allem aber für Orgel.
Das Thema: die erste Liebe.
An einem Novembersonntag, in den späten 1980ern, trifft Holtes de Vries das Mädchen Josse. Holtes ist knapp sechzehn und spielt Baritonhorn im Posaunenchor einer kleinen Gemeinde bei Verden. Josse spielt Posaune und ist an dem Tag, Volkstrauertag, zur Verstärkung mitgekommen. Die beiden kennen sich vom Sehen, besuchen die gleiche Schule, Holtes in der Mittelstufe, Josse kurz vor dem Abitur. Es passiert gleich beim ersten Blick, daß Holtes sich verliebt, unbemerkt zunächst.
In den folgenden Wochen treffen sich die zwei immer wieder einmal, in der Schule, beim Musikmachen anläßlich einer Projektwoche. Die ersten privaten Treffen folgen, Spaziergänge an der Aller, gemeinsam Tee trinken, gemeinsam musizieren. Die Welt für Holtes ist Josse, die Welt für Josse aber ist die Musik, vor allem die Musik von J.S. Bach. So entdeckt auch Holtes Bach und das Orgelspielen. Und er entdeckt die Zeit.
Sie verrinnt, unaufhaltsam, während er Worte sucht, um Josse zu sagen, wie sehr er sie liebt. Aussprechen kann er sie nicht. Josse macht ihr Abitur, ihr Berufswunsch ist klar, sie wird Musikerin werden. Nach den Sommerferien wird sie studieren, in Freiburg. Das ist von Verden aus so ziemlich das andere Ende der Welt. Holtes verfällt auf eine Idee, die gleichermaßen aus Liebe wie aus Verzweiflung geboren ist: für die letzten beiden Wochen der Sommerferien macht er Josse den Vorschlag, gemeinsam nach Lüneburg zu wandern, zu Fuß, so wie Bach es über zweihundertachtzig Jahre zuvor getan hat.
Tatsächlich wandern die beiden durch den Sommer, nach Lüneburg und weiter nach Lübeck. Die Wanderung wird zu einer Sommeridylle sondergleichen. Dennoch findet Holtes die Worte nicht, die er sagen will und als Josse im Herbst nach Freiburg aufbricht, ist das zugleich der Beginn vom Ende dieser ersten Liebe.
Das Ganze wird geradlinig durcherzählt, als Rückerinnerung des inzwischen 26jährigen Holtes auf der Orgelbank, kurz vor Beginn eines Organistenexamens. Die Erinnerungen überfluten ihn sozusagen, während seine Hände auf dem Weg sind, die nötigen Register zu ziehen. Entsprechend dem musikalischen Ausgangspunkt tragen die Kapitel die Namen der einzelnen Musikstücke, von der Ouvertüre bis zur Coda.
Hineinverwoben sind der Wechsel der Jahreszeiten in ausführlichen Naturschilderungen und Blicke auf die Familiengeschichte Holtes’, von den ostpreußischen Großeltern zum niederländischen Vater, der seinerseits eine Wandlung durchmacht und am Ende die Familie verläßt. Es gibt die Nachbarn und Freunde, allen voran der beste Freund Mattens, auch er ein wenig älter als Holtes und Theologiestudent in Göttingen, den kleinen Bruder, Schulfreunde, Pfarrer, Musiklehrer.
Es gibt urkomische Details über die evangelische Kultur in Norddeutschland, die, obwohl die Geschichte nur zwanzig Jahre zurückliegt, klingen wie aus einer längst vergangenen, geradezu verwunschenen Zeit. Es gibt Gespräche über Musik, ihre Technik wie Instrumente, und über die Zeit, in nahezu perfekten Dialogen, perfekt in Wortwahl wie im Klang, die alles abdecken, vom pubertären Schwadronieren übers betrunkene Räsonnieren bis hin zu jenem Quentchen Weisheit, das in jedem Menschen wohnt.
Die Sprache ist ausgesprochen poetisch, es geht eher darum, möglichst präzise die Gefühlslagen zu erfassen, als Handeln zu beschreiben. Zuweilen brechen Sätze ab, werden zu Zeilen eines Gedichts oder zu einem wilden Gedankenstrom. Ein Musikkenner wird hier möglicherweise Fugen erkennen, von der Exposition bis in die höchsten Künste der Engführung oder Augmentation. Die berühmt-berüchtigten Orgelpunkte, die die Spannung steigern, gibt es jedenfalls und nicht wenige im Verlauf der Geschichte.
Kontrastiert wird all das gekonnt mit Ereignissen aus dem Alltagsleben, mit Sätzen in Platt, Friesisch und ein wenig Niederländisch, die dem ganzen eine kräftige Klangfarbe verleihen, die Erdverbundenheit betonen und die Bodenhaftung der Geschichte gewährleisten. Es geht schließlich nicht nur um die Verzauberung, sonder auch um die Entzauberung. Holtes ist auf dem Weg erwachsen zu werden. Der Autor läßt aber keine Zweifel daran, daß die Welt trotzdem eine Welt voller Zauber bleibt.
Vielleicht bräuchte es eine Musikkritikerin, um dem Buch gerecht zu werden. Mir haben sehr lange die Worte gefehlt für dieses kleine Wunder der Gegenwarts-Literatur. Es kann natürlich daran liegen, daß ich Orgelmusik nicht mag und J.S. Bach auch nicht besonders.
Nach der Lektüre von Björksons Roman war ich allerdings einen halben Tag lang fest davon überzeugt, daß man nichts anderes kann als sie zu lieben.