Hallo zusammen,
den Text hatte ich zum Thema des Schreibwettbewerbs Februar "Zwilling" geschrieben. Das Thema ist vielleicht "verfehlt" (außerdem habe ich nicht genügend Beiträge zur Teilnahme ) - aber ich freue mich trotzdem auf Eure Statements und konstruktive Kritik!
Viele Grüße
Ida
Geteilte Freude
Wo ist der Fehler in dieser Tabellenkalkulation? Seit zwei Stunden überprüfe ich sämtliche Formeln und Daten – ohne Erfolg. Verdammt noch mal! Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich mich nicht auf die Zahlen konzentrieren kann. Meine Gedanken schweifen immer wieder ab, laufen davon wie Ameisen. Ich gebe es auf.
Heute ist der Tag der Wahrheit. Mir ist übel, und ich fürchte, dass meine Beine wegknicken würden, wenn ich jetzt aufstehen müsste. Ich kenne das Gefühl aus Prüfungssituationen: Lampenfieber! Dabei geht es doch gar nicht um mich.
Ich nippe an meinem Kamillentee und warte.
Endlich! Ich höre, dass die Eingangstür zu unserem Flur geöffnet wird. Das muss sie sein. Mein Herz klopft laut und schnell. Sie geht an den anderen Büros vorbei, grüßt die Kollegen und kommt immer näher. Ich sitze wie erstarrt mit dem Rücken zur Tür.
„Hallo Anna“, ruft sie mir zu.
Ich höre an ihrer Stimme, dass sie glücklich ist, und drehe mich um.
„Hallo! Und? Wie sieht’s aus?“
„Komm mal mit in mein Büro!“ Ihre Augen funkeln.
Ich ziehe mich an der Tischkante hoch und folge ihr. Meine Beine tragen mich doch.
Sie schließt ihre Tür hinter mir und fällt mir um den Hals:„Ich bin schwanger!“
Ich schlucke.
„Wunderbar!“, sage ich. Hoffentlich versagt meine Stimme nicht. „Ich freue mich für dich!“
Dann sinke ich auf einen freien Stuhl.
So ist das also. Sie ist schwanger. Ich wusste es, habe es die ganze Zeit gewusst. Sie ist schwanger, hämmert es in meinem Kopf, während sie mir von der Untersuchung erzählt, vom Warten und der Ungewissheit.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt sie und kommt zu mir. „Du bist ganz blass geworden!“ Sie sieht mich an.
„Ja. Alles okay!“. Ich bin plötzlich heiser. „Es ist nur …“
„Das ist nicht leicht für dich, ich weiß“, sagt sie und legt mir den Arm um die Schulter. „Ich hatte Angst, es dir zu sagen. Aber wenn ich es dir nicht sage, ändert das doch auch nichts.“
Ich schäme mich. Sie soll kein schlechtes Gewissen haben, weil sie mehr Glück hat als ich. Sie musste darum kämpfen und hat eine harte Zeit hinter sich – Hormone, Sex nach Plan und künstliche Befruchtung.
Sie kann nichts dafür, dass ich jetzt über vierzig und immer noch allein bin - und dass ich das Kind nie bekommen werde, das ich mir immer gewünscht habe.
Ich muss mich zusammenreißen! Sie hatte mich an ihrem Kummer teilhaben lassen und darf jetzt auch die Freude mit mir teilen! Wenn sie ein Baby bekommt, ändert das nichts an meiner Situation. Sie hat es verdient!
„Anna, ich muss dir noch was zeigen …“ Die Worte rieseln sehr langsam in mein Bewusstsein.
„Es ist … es sind … zwei!“
Auf dem Ultraschallbild sehe ich zwei längliche Punkte. Sie sehen aus wie Reiskörnchen in einem birnenförmigen Nest.
Ich springe auf und renne, hinaus auf die Straße, und endlich kommen die Tränen, ein warmer Wasserfall.