Der Autor ist durchaus eine Berühmtheit. Jedes Kind kennt seine Bücher und die Eltern auch. Sogar ich kenne den Namen sowie den Namen des Helden, obwohl ich nie ein Buch gelesen habe. Ein weiterer Band seiner Serie, die fast so beliebt ist wie Harry P., ist erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. ‚Der richtige Zeitpunkt, mit dem Lesen anzufangen’, erklärt eine junge Miteule und schleppt mich zur Lesung.
Ort: eine Thalia-Buchhandlung in der Schönhauser Allee. Ich erwarte Rummel, Autor, deutscher Sprecher - immerhin Peter Lohmeyer, eine NDR-Moderatorin. Klingt groß.
Wir sind ein wenig spät, die Leseecke ist gepfropft voll. Alle Stühle besetzt, das Publikum vor allem Jugendliche, so ab 10 aufwärts und ein paar Eltern.
Der Eintritt ist frei, was erklärt, warum es die Stühle nicht mehr sind. Rummel gibt es keinen. Der Lärmpegel ist überraschend niedrig, die Blicke sind nach vorn gerichtet. Ich quetsche mich in eine Ecke, der Ständer mit den Mangas wackelt. Ich ignoriere ihn, wie auch den Gedanken an meine Absätze und folgen den Blicken der anderen.
Vorne am Fenster, an einem einfachen Tisch, ein bißchen weit für meinen kurzsichtigen Blick, sitzen zwei Damen, ein grauhaariger älterer Mann und, wenn ich mir den Hals nach rechts verrenke, Peter Lohmeyer. Den kenne ich, man geht ja gelegentlich ins Kino. Dann müßte der andere ... Ich schaue noch mal aufs Plakat. Muß ein Jugendfoto sein.
„Schon so alt“, höre ich im gleichen Moment hinter mir. „Daß ein so alter Mann so spannende Bücher schreiben kann.“
Ich schweige. Colfer ist laut seiner Website jünger als ich. Meine Schuhe erinnern mich daran, daß ich stehe. Ich beneide einen Sechsjährigen, der sich ohne Zögern auf einem niedrigen Tischchen voller Mangas niederläßt.
Vorne erhebt sich eine Frauenstimme, aha, es fängt an, die Begrüßung. Freundliches Hallo, freundlicher Dank, freundliche Vorstellung der Mitwirkenden. Alles ruhig, keine Begeisterungsstürme der Kinder, alles unaufgeregt. Anheimelnd geradezu, fast wie zuhause im Wohnzimmer. Es wird geklatscht, aber verhalten. Man will höflich sein, aber kein Trara. Der Autor lächelt still, ein guter Onkel, sein Wohlwollen strömt durch die Reihen. Meine Schuhe drücken ein bißchen weniger, aber ich muß auf den Ständer mit den Mangas aufpassen.
Das neue Buch, 'Die verlorene Kolonie', so hören wir von der Dame der Buchhandlung, ist etwas ganz neues. Elemente kommen dazu, die es bis dahin nicht gab. Die Zuhörer richten sich ein wenig auf in ihren Stühlen, sanfte Erwartung breitet sich aus. Der Autor lächelt. Der Sechsjährige neben mir steht auf und wandert ans nächste Regal. Ich mustere das Tischchen und wäre gern sechs.
Der Autor sagt ein paar Worte. Eine sehr angenehme Stimme, klar akzentuiertes Englisch mit einem winzigen Touch Irland und einem ebenso winzigen Touch Ironie beim Formulieren der Sätze. Die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer lachen, sie verstehen Englisch ganz gut, keine Frage. Trotzdem wird gleich von der Moderatorin übersetzt, wir wollen niemanden ausschließen, wir sind unter Freunden. Keiner wird ungeduldig, nur weil man sich alles ein zweites Mal anhören muß.
Der Autor lächelt, zwinkert in die Runde und sagt zwei, drei Worte zum Einstieg ins Buch. Es beginnt in Barcelona, die Raumtemperatur paßt dazu und das Brennen in meinen Füßen auch. Aber ich nehme es dem Autor nicht übel. Er liest.
Nach dem ersten Satz schon ein leises Aufseufzen des Publikums, voller Befriedigung. Da sind sie, gleich auf Seite 1, die alten Freunde. Seit vier Bänden kennt man sich, weiß soviel voneinander und ist dennoch unverändert neugierig auf die neuesten Entwicklungen. Selbst ich glaube die Charaktere zu kennen und habe doch nie ein Buch gelesen. Ein Anflug von schlechtem Gewissen beschleicht mich. Das ist nicht schön von mir. Wie kann ich Onkel Eoin das antun?
Der Autor liest noch ein wenig. Es ist witzig, frech, aber nicht zu sehr. Man lacht miteinander, nicht übereinander. Fair, das sind wir, unter Freunden sind wir. Es ist ein wenig spannend, vor allem überraschend. Dämonen tauchen auf.
Ein Gruß von Bartimäus, will ich wissen? Nein, bekomme ich empört zur Antwort, Colfer hat es nicht nötig, abzukupfern, er ist ganz von selbst originell. Colfer ist der Beste.
Wieder fühle ich einen Anflug von Schuldbewußtsein, so eine ungezogene Nichte wie mich hat Onkel Eoin nicht verdient. Noch ich diese blöden Schuhe.
Jetzt übernimmt Lohmeyer, die deutsche Stimme von Colfer. Auch er liest langsam, ruhig, er schauspielert ein bißchen, aber es wird nicht theatralisch. Wir haben hier keine wilde Fete, sondern einen gemütlichen Abend am Kamin mit unserem Lieblingsonkel. Das Publikum kuschelt sich zurecht, ich kuschle mit, soweit es meine Absätze zulassen. In den letzten fünf Minuten sind sie mindestens um fünf Zentimeter höher geworden. Ich beschließe, mich mit diesem Problem an Artemis Fowl zu wenden. Ich bin sicher, daß Dämonen dahinterstecken.
Der Autor lächelt still in meine Richtung. Ich bin glücklich, ich habe die richtige Entscheidung getroffen.
Nach Abschluß der Lesung ein wenig Applaus, ein Minütchen Stille, dann die Fragen. Die Jugendlichen stellen sie höflich, mal auf deutsch, mal auf englisch. Keine Hektik, keine Drängelei, unter Onkel Eoins Blick sind wir alle gleich, darauf können wir uns verlassen.
Colfer ist Lehrer, fällt mir ein. Jugendliche sind sein täglich Brot und er liebt es. Er erzählt, lacht, spricht mit den Händen. Er erzählt von seiner Familie, vor allem von seinen Brüdern, von den Romanfiguren. Das geht ineinander über, die einen sind so lebendig und lebensecht wie die andern. Er ist die Geduld in Person, wahrscheinlich wäre er selbst in meinen Schuhen noch geduldig. Er muß die Fragen allesamt sechs Dutzend Mal schon gehört und beantwortet haben, aber man merkt ihm keine Langeweile an, keine Gereiztheit. Onkel Eoin hat immer Zeit für uns.
Vielleicht ist er ein wenig müde, das achten wir. Wir bleiben leise und freundlich. Das hat er doch verdient, für all die schönen Stunden, die er uns mit seinen Büchern schenkt.
Zum Schluß will er wissen, wer von den Anwesenden denn seine Bücher schon gelesen hat. Hände und Arme fliegen in die Höhe, ein beeindruckender Anblick. Der Autor strahlt, dann wird sein Blick vorwurfsvoll. „Einige hier haben die Hände nicht erhoben“, sagt er. „Hätten die Betreffenden nicht wenigstens so höflich sein können und lügen? Schließlich habe ich einen weiten Weg hinter mir.“
Onkel Eoin, der Schelm. Wer ihn kennt, muß ihn lieben. Selbst wenn man High Heels trägt.