Rafael Yglesias - Dr. Nerudas Therapie gegen das Böse

  • "Kann man Bosheit kurieren?"
    Das ist die zentrale Frage dieses monumentalen Werks von Rafael Yglesias "Dr. Nerudas Therapie gegen das Böse". Es ist sein achter Roman.


    Formal gliedert sich das Buch, das im Stil einer in "Laiensprache" verfassten psychologischen Studie gehalten ist, in drei Teile.
    Dr. Neruda ist der Überzeugung, dass es für das Verständnis der folgenden Sachverhalte wichtig ist auch die Psyche des Therapeuten eingehend zu kennen.
    Der erste Teil befasst sich daher eingehend mit der Seelengeschichte des Therapeuten Rafael Neruda.
    Er entstammt einer riesigen halb jüdischen, halb spanischstämmigen Familie, einer explosiven Mischung. Er selbst sieht sich als "Freak". Auf beiden Seiten der Familie bekommt er zu spüren, dass er als "Halbblut" kein vollwertiges Mitglied der Familie ist.
    Schon sehr früh wird der hochintelligente Junge für die Abgründe der menschlichen Seele sensibilisiert. Viele schreckliche Dinge hat der Junge Rafe in seinem Leben zu erleiden, innerlich wird er traumatisiert, bis er schließlich eine Therapie beginnen muss.
    Während der Therapie bemerkt er sein eigenes Interesse an Psychologie, welche er anschließend auch studiert und selbst zu einem erfolgreichen Psychotherapeuten wird, sein Fachgebiet sind misshandelte Kinder.


    Der zweite Teil handelt größtenteils von der Fallgeschichte des Patienten Gene Kenny. Eine eingehende Beschreibung dessen psychotherapeutischer Behandlung. Der fünfzehnjährige Gene leidet an Leistungsabfall in der Schule. Ein Bagatellfall ?
    Nebenbei lernt der Leser in diesem Teil weiter Dr. Neruda intensiv kennen. Sein Leben als Erwachsener wird weiter verfolgt, seine Gedanken, seine Gefühle werden weiter vertieft.


    In dritten Teil beginnt Dr. Neruda nach einem einschneidenden Erlebnis
    mit der Erforschung des "Bösen". Bosheit - Diagnose und Therapie werden fortan sein Handeln und Streben bestimmen.
    Er selbst begibt sich auf einen gefährlichen Boden, droht selbst der "Bosheit" zu nahe zu kommen...


    Der Autor Rafael Yglesias ist kein Psychologe oder Psychiater, während des Lesens fragt man sich daher immer wieder, wie hat es dieser Mann geschafft hat sich derart in die psychologische Materie einzuarbeiten.
    Es erscheint praktisch unmöglich, dass dieses 900 Seiten starke Buch nicht von einem Doktor der Psychologie verfasst wurde. Alleine vor diese Arbeit muss man respektvoll den imaginären Hut ziehen.
    Doch hier beginnt erst die Beschreibung der Kunstfertigkeit dieses Werks. Auch der Spannungsaufbau dieses Roman ist bemerkenswert. Während des ersten Teiles liest man zunächst eine relativ "normale", wenn auch zugegeben tragische, Geschichte eines sechsjährigen Jungen. Und doch kann man einfach nicht aufhören zu lesen, weil man unterschwellig einfach ahnt wie wichtig dieses Wissen für den Verlauf der Geschichte sein wird und man zudem stets mit kleinen Dosen Spannung versorgt wird, die sich im Verlauf zusehends steigern.
    Rafael wird durch seine eingehende Beschreibung sehr plastisch, so dass man ihn wie einen Bruder kennen und lieben lernt.
    Der zweite Teil füttert den Leser mit einem recht fundierten Wissen über psychotherapeutische Behandlungen, erklärt diverse Termini der Materie, und vermittelt auch einige Gedanken zu den Ideologien des letztem Jahrhunderts. Radikal wird hier die Psychoanalyse an sich in Zweifel gezogen.
    Auch durch diesen Teil gleitet man förmlich hindurch, getragen von brennender Neugier und zunehmender Spannung der Handlung.
    Beim dritten Teil spätestens ist es dann vollends um den Leser geschehen, man kann sich dem Sog der Geschichte einfach nicht entziehen.
    Insgesamt ist "Dr. Nerudas Therapie gegen das Böse " ein brillianter Roman, wie man ihn kaum besser schreiben kann. In sich stimmig, rundherum gelungen. Ein großartiges Werk!
    Leider ist dieser Roman seit kurzem nicht mehr regulär im Handel. Bei Abebooks ist es allerdings noch zu beziehen.
    Ich kann einfach nur nachhaltig die Lektüre dieses Buches empfehlen.
    Auch wenn man bei 900 Seiten Umfang natürlich etwas zeit investieren muss.
    Ein großartiges Werk!

  • tja, da kann ich der Einschätzung meiner Vorrednerin nur zustimmen - das Buch ist aber wohl der absolute Geheimtipp, ich weiss selbst nicht mehr wie ich darüber gestolpert bin .... aber immer wieder irre zu erleben, welche Bücherschätze ungehoben in unseren verstaubten Antiquariaten auf Entdeckung warten.
    ... deshalb pushe ich die Rezension mal nach oben ...

    Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?
    Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)