Ich lese gerade 'Das gestohlene Lied' von Christiane Gohl, geliehen von einer Freundin.
Dabei täuscht es ein bisschen, dass 'Historischer Roman' auf dem Cover steht, im Grunde ist dies eher Fantasy - auf jeden Fall die Nacherzählung einer alten Sage. Die Autorin stellt das Nibelungenlied nach, was im Grunde nichts Neues ist, schließlich gibt es davon tausende Fassungen. Auch die Nacherzählung aus Frauensicht ist nicht gerade hyperoriginell, das kennen wir ja spätestens seit den 'Nebeln von Avalon'. Was hier jedoch fasziniert und das Buch für mich ganz außergewöhnlich macht, ist die Aufhellung von Hintergründen der Ursprungsgeschichte. Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber ich fand immer, dass die Nibelungengeschichte logische Sprünge aufwies. Aus moderner Sicht konnte ich die Handlungen der Personen oft einfach nicht nachvollziehen, und das ging offensichtlich nicht nur mir so. Sonst gäbe es wohl nicht derart viele, zum Teil doch wirklich sehr dümmliche Interpretationen des Werks in Richtung 'Urdeutsche Heldensaga'.
Christiane Gohl hat sich nun in die mittelalterliche Sozialgeschichte und vor allem die Gedankenwelt der Ritterschaft und der zugehörigen Damen gründlich eingearbeitet. Sie erzählt sehr frisch und durchaus 'modern', aber doch ganz aus der Sicht einer Frau, die mit dem Ideal der Höfischen Liebe, der Ständegesellschaft und dem Wertekanon des 12. Jahrhunderts aufgewachsen ist - eben des Jahrhunderts, in dem der Nibelungendichter lebte und arbeitete. Damit rückt es ins Zentrum der Geschichte, dass Kriemhild von Worms genau diesen Wertekanon im Laufe der Handlung immer mehr in Frage stellt - und sich damit im Ursprungstext gründlich die Sympathien des Dichters verscherzt. Im 'Gestohlenen Lied' bleibt ihr jedoch das Mitgefühl des Lesers - Ich habe selten einer Rache so intensiv entgegengefiebert! Und selten ein gleichzeitig so spannendes und aufschlussreiches Buch in der Hand gehabt.