Irgendwie merke ich, daß mir ganz andere Dinge auffallen ...
... und deshalb bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Beiträge nicht gleich in den Rezensionsthread stellen sollte ...
Dieser Roman spielt nämlich m.A.n. ein feines doppelbödiges Spiel mit uns, und da die Autorin längere Zeit mit dem Theater zu tun hatte und wieder zu tun hat, ist mir von anfang an die attische Tragödie nicht aus dem Sinn gegangen: Man nehme einen Stoff, der mindestens in groben Zügen als bekannt vorausgesetzt werden kann, und inszeniere ihn neu, um ein bestimmtes Sujet herauszuarbeiten. Motivationen zu erforschen, die zu den Ereignissen führten.
Dazu bringt man die vorkommenden Figuren in völlig neue Beziehungen, verleiht ihnen eine eigentümliche Psychologie. Wichtig ist, daß sie eigentlich alle "Mittlere Charaktere" sind, und im Falle einer Tragödie, wie in unserem Falle, "bigger than life", d.h. die Helden etwas besser als "Normalsterbliche", so daß man sie bewundern kann.
Das Historische dient in diesem Roman -- wie in der attischen Tragödie -- als Verortung und verfremdende Kulisse zugleich, als eine Bühne, die Distanz schafft, so daß man das Dargestellte quasi in der Totale betrachten kann.
Und zugleich sorgt die konsequent subjektive Sicht durch die Augen des Erzählers für eine weitere perspektivische Verfremdung und Verzerrung. Wir sehen die Ereignisse mit Brynts Augen, aus Brynts Erinnerung (eine doppelte Verfremdung und Verzerrung, denn jede Erinnerung ist ein subjektiv verändertes Abbild des tatsächlichen Geschehens, zu dem wir als subjektive Wesen ohnehin keinen unverfälschten -- objektiven -- Zugang haben).
Ich habe am Anfang gerungen mit historischen Ungenauigkeiten -- bis mir nach etwa 20 Seiten klar wurde, daß diese keine Rolle spielen! Dies ist -- als was immer der Verlag das Buch etikettiert -- kein "historischer Roman" im engeren Sinne. Es geht nicht um eine wie auch immer geartete historische Realität, sondern um eine "überzeitliche", allgemeinmenschliche Wirklichkeit, wie sie sich in Mythen ausdrückt. Denn das Nibelungenlied mag einen historischen Kern haben -- nichtsdestotrotz ist und bleibt es (wie die geschichte Markes in Das Herz des Königs) ein Mythos.
Mythen sind keine in Stein gemeißelten Texte mit ganz bestimmten Bedeutungen in jedem einzelnen Wort. Sie haben bestimmte feste Handlungselemente, Wendepunkte, Personennamen, sind jedoch variabel in ihrer Durchführung. Wagners Ring des Nibelungen ist eine Variante, das Nibelungenlied eine andere, eine dritte das Kudrunslied, dann sind da die unterschiedlichen Varianten in den Sagenkompilationen, meist durchdrungen vom Geist der Zeit ihrer jeweiligen Niederschrift: häufig deutschnational und schwülstig wie alte Sammelbildchen oder gestellte Fotos von den Bayreuther Festspielen, manchmal wie simple Abenteuergeschichte, dann wieder tiefenpsychologisch überhöht ...
Viola Alvarez' Variante ist wieder anders. Hier ist z.B. nicht der blonde Recke Siegfried die große Nummer, sondern Hagen von Tronje. Nicht daß das neu wäre (auch W. Holbein hat sich daran versucht), aber ihre Auseinandersetzung spielt sich sprachlich, erzählerisch und dramaturgisch auf einem Niveau ab, das einen Unterhaltungsroman weit hinter sich läßt und zugleich überaus unterhaltend ist.
Auf jeden Fall macht es sogar einer verkopften Tante wie mir großes Vergnügen, dieses Buch zu lesen. Weglegen? Das kam schon nach 10 Seiten nicht mehr in Frage!
Klingt wie eine abschließende Rezi ... und das nach kaum 100 Seiten ...