Das Spiel

  • Kleine Anmerkung vorab:
    Nach langem Überlegen habe ich diesen Text in der Anfänger-Ecke gepostet, da ich bisher noch nicht viel Erfahrungen mit dem Schreiben habe. Das heißt aber nicht, dass ich keine Kritik möchte oder sie nicht vertrage. Wer sich zur Geschichte äußern will - positiv wie negativ - ist herzlich eingeladen, genau das zu tun.
    Eny


    "Das hier ist ein großes W."
    Kreide quietscht über die Tafel.
    "Und das hier ist das kleine. So, runter, hoch, runter, wieder hoch."
    Kleiner Mann, siehst du nicht, wie sehr ich dich verachte? Bist du selbst dafür zu blind?
    Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick langsam in Richtung des Fensters wandern. Alle zwei Minuten tue ich das, damit du auch ja nicht auf die Idee kommst, ich würde dir zuhören.
    "Scheinbar ist da draußen etwas, was dich mehr interessiert, als die Buchstaben", sagst du in diesem dämlichen Psychiaterton. "Willst du mir sagen was?"
    Kannst noch nicht mal „scheinbar“ und „anscheinend“ auseinanderhalten, aber willst mir das Lesen beibringen?
    Ich wende mich vom Fenster ab und schaue dich ausdruckslos an. Du setzt eine freundliche Miene auf. „Sehr schön. Und jetzt guckst du zurück an die Tafel. Das da vorne ist das W. Kannst du mir ein Wort sagen, das mit W anfängt?“
    Schweigen.
    „Dir fällt nichts ein?“
    Schweigen.
    „Hmm...“ Du gehst zurück an die Tafel. „Wie wäre es denn mit diesem hier? W-A-S-S-E-R. Wasser. Fängt mit einem W an. Fällt dir jetzt ein anderes ein?“
    Ich schüttle langsam den Kopf, versuche verwirrt auszusehen.
    „Oder vielleicht ein Name?“
    Klar. William, wie William Shakespeare. Im Gegensatz zu dir habe ich alle seine Stücke gelesen: Othello, King Lear, Eduard III., Macbeth, nicht zu vergessen Romeo und Julia. Weißt du überhaupt, wer Shakespeare ist?
    „Denk doch mal an deine Freundin aus dem Handarbeitskurs.“
    Wiona? Wie kommst du darauf, dass Wiona meine Freundin ist? Sie ist ein Junkie auf Entzug, eine Zicke und selbstmordgefährdet. Und ganz nebenbei: Im Handarbeitskurs habe ich mich seit drei Wochen nicht mehr blicken lassen.
    „Naja“, redest du weiter. „Die meisten Namen, die mit W anfangen, sind ja auch Männernamen.“
    Wie wäre es mit Wladimir?, zuckt es mir durch den Kopf. Der Name, der seit Monaten wie eine dunkle Wolke über mir hängt, obwohl ich den Träger nie kennengelernt habe. Dabei habe ich ihn doch umgebracht. Das behaupten zumindest du und alle deine Psychiaterkollegen.
    Er hat mich vergewaltigt und dann habe ich ihn erstochen. Von hinten, mit meinem Taschenmesser.
    Ein Jahr geschlossene Jugendpsychiatrie und zwei Jahre Gefängnis, die bei einem Geständnis zur Bewährung ausgesetzt werden können. Nur wollte ich nicht gestehen. Weil ich nichts mehr weiß. Wer Wladimir ist, wie ich in diesen Hinterhof kam, oder das Klappmesser in seinen Rücken.
    Aber das wollten sie mir nicht glauben. Du glaubst es ja auch nicht.
    Armes kleines Mädchen, sagst du dir. Hattest eine schwere Kindheit. Ein Waisenkind, vom Bürgerkrieg traumatisiert. Mit drei Jahren nach Deutschland gekommen, in einem Kinderheim aufgenommen. Ein Problemkind, verschlossen und aufmüpfig zugleich. Das Vorstrafenregister drei Seiten lang, Autoknacken, Drogendealen, kleine Einbrüche. Und jetzt eben Totschlag. Wo liegt das Problem? Das ist eine ganz normale Kriminalkarriere.
    Aber jetzt bin ich hier, seit zwei Monaten schon. Und so langsam werde ich verrückt.
    Zwei Minuten sind um, ich lasse meinen Blick wieder in Richtung Fenster wandern.
    Du willst mich resozialisieren, was auch immer das bedeuten mag. Und dazu gehört auch, das ich Lesen lerne. Ist dir doch egal, dass ich es schon kann.
    Seltsam, nicht wahr, wie klein der Unterschied zwischen hochbegabt und geistig zurückgeblieben ist?
    Hochbegabt, weil ich kein Jahr brauchte, um die deutsche Sprache zu beherrschen. Als ich fünf war, brachte ich mir allein Lesen und Schreiben bei. Mit acht Jahren war ich bei Tolkien und Michael Ende angelangt, mit zehn las ich Shakespeare.
    Und jetzt, mit sechzehn, sitze ich hier und lasse mir erklären, was der Unterschied zwischen einem großen und einem kleinen W ist. Du hältst mich für geistig behindert und ich lasse dich in diesem Glauben. Anderenfalls wärst du doch arbeitslos.
    „Lena!“, sagst du laut. „Guck bitte an die Tafel.“
    Ich gehorche. Du redest weiter, aber ich höre nicht hin. Noch sechs Minuten. Dreimal aus dem Fenster schauen. Dann ist die Deutschstunde vorbei.
    Jetzt beginnst du, Worte an die Tafel zu schreiben und sie laut vorzulesen. „Wolf, winken, Wald, wo, warum...“
    Warum kann ich nicht schreien? Ich bin nicht verrückt, aber wenn das so weiter geht, werde ich es noch. Wieso ertrage ich das alles? Am liebsten würde ich ausbrechen, laufen, laufen, bis ich nicht mehr kann. Ich will der Mensch und nicht die Maske sein, die ich mir zum Schutz aufgesetzt habe. Aber ich kann nicht.
    Wenn ich ausbreche, wird da niemand sein, der mich erwartet. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an den ich gehöre. Dieses Spiel, das ich mit dir treibe, ist alles, was mir noch bleibt.

    Logisch: Wer immer den anderen hinterherläuft, wird niemals Erster sein.

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  • Hi Eny:
    vielen Dank für deinen Mut, diese Geschichte zu teilen. Da ich keine schriftstellerische Fachfrau bin, möchte ich aber nicht beurteilen, sondern nur Gedanken teilen :-).


    Für mein Empfinden hast du den kurzen Einblick in die Lebenssituation des Mädchens Lena sehr (auch vom Fachlichen her) umfassend, stringent und berührend eingefangen. Deine Art, mit Worten zu malen, lassen die Szenerie lebendig werden und wie einen Film vor den Augen ablaufen; dies ist für mich eines der Kennzeichen guten Schreibens.


    Deine Charakterisierung des Psychiaters, sein abgestumpftes, überhebliches, schulmeisterliches Wesen, die eigene fachliche Disqualifikation durch vollkommene Fehleinschätzung seines Gegenübers ist gut "komponiert" und ziemlich erschreckend. Denn obwohl es in diesem Beruf sehr sensible, analytisch kompetente Menschen gibt, ist auch solch ein Typus immer wieder mal darunter, zum Schaden der ihm anvertrauten Klienten.


    Formal gibt es ebenso aus meiner Perspektive nichts auszusetzen, bis auf einen kleinen Fehler am Ende:

    Zitat

    Ich will der Menschen und nicht die Maske sein, die ich mir zum Schutz aufgesetzt habe. Aber ich kann nicht.


    "Menschen" sollte wohl im Singular dort stehen.


    Eindringlich wurde mir bei der Lektüre wieder einmal bewusst, dass hohe kognitive Intelligenz ohne das Gleichgewicht einer ebenso entwickelten emotionalen Intelligenz geradewegs in solch eine Entwurzelung und Einsamkeit führen kann, in der Lena gefangen ist. Die Traumata der persönlichen Lebensgeschichte haben dazu geführt, dass der Schutzpanzer, den sich das Mädchen zugelegt hat, gleichzeitig ihr Gefängnis wurde. Und das bringst du mit dem oben zitierten Satz wunderbar zum Ausdruck.


    Wie sehr diese Kurzgeschichte mich innerlich angesprochen hat, magst du daraus ersehen, dass ich diesem Mädchen Lösungswege aufzuzeigen versuche, die es in der Realität ja gibt.


    Ich höre jetzt besser mal auf mit meiner Lobhudelei und freue mich auf weitere Veröffentlichungen von dir.


    Greez and blessings, Holle

    Wissen Sie, Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich damit aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund. Lem


    The farther one travels, the less one knows. George Harrison

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  • Hallo Eny,
    vielen Dank für die großartige Geschichte.
    Die Geschichte gibt einen bewegeden Einblick frei in die Seele eines Menschen frei, der als Fall behandelt wird.
    Es wird absolut spannend erzählt. Meine anfängliche Verwirrung - da lehrt einer Buchstaben und sie erklärt ihm im Geiste den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend - hat sich als geniales Stilmittel entpuppt.


    Die Geschichte hebt die Spannung nicht auf, das erlösende Pausenklingeln bleibt aus. Das erhält die Spannung über das Ende des Textes hinaus. Völlig angemessen!


    Zwei Stellen scheinen mir aus der Sache herauszufallen:
    "Armes kleines Mädchen, sagst du dir. Hattest eine schwere Kindheit. Ein Waisenkind, vom Bürgerkrieg traumatisiert. Mit drei Jahren nach Deutschland gekommen, in einem Kinderheim aufgenommen. "
    und
    "Ich will der Menschen und nicht die Maske sein, die ich mir zum Schutz aufgesetzt habe."
    Beide Sätze fallen aus dem Erzählduktus heraus und generalisieren. Sie kommen - verzeih - etwas platt daher.
    Vielleicht könnte eine knappe erzählerische Rückblende die Vorgeschichte in (ja woher kommt sie denn eigentlich??) und auch das was kommt beschreiben.... Sie kann ja, während sie aus dem Fenster blickt und der Typ an der Tafel schwafelt super nachdenken. Vielleicht kannst Du uns Leser da mitnehmen und so erzählerisch gestalten, was in den Sätzen als Info steht.
    Der Satz mit der Maske ... im Grunde ist er überflüssig nach meinem Geschmack. Die Gesamte Geschichte erzählt diesen Satz nach meinem Verständnis. Mensch und Maske sind zwei abstrakte Schlagwörter. Brauchst Du sie in diesem Text, der sonst so sehr von der Erzählung lebt? Vielleicht habe ich aber auch nur eine Aversion gegen diese Worte (vor allem gegen die Maske) entwilckelt. Aber auch hier gilt meine formale Anfrage: Der Satz erzählt nicht, er pauschalisiert.


    Nochmals vielen Dank für diese Geschichte und liebe Grüße
    Licht

  • Lieber licht, liebe Holle,


    erst mal danke für euer Feedback, ich werde ja ganz verlegen. (Wir brauchen noch einen Rotwerdsmilie.)
    Holle, danke für den Hinweis, ich hab die Menschen soeben zu Mensch dezimiert.
    licht... hmm... über deine Hinweise muss ich erst mal nachdenken :grin.
    Der Satz mit der Maske ist der Kernsatz, um den ich diese Geschichte herumgeschrieben habe. Vielleicht sollte ich einen Rat aus dem schreiblabor beherzigen, Streich deinen Kernsatz und der Text wird gut. Leider hege ich zu oft die Angst, dass der Leser meine Geschichten nicht versteht, wenn ich die Aussage ganz zum Schluss nicht noch mal "zusammenfasse". Ich schau mal, was ich mit dieser Stelle mache, ob und wie ich sie verändere. Danke, für deinen Hinweis.


    Liebe Grüße und vielen Dank, ihr zwei.
    Enita

    Logisch: Wer immer den anderen hinterherläuft, wird niemals Erster sein.

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  • Ich fand den Text sehr ansprechend. Der Anfang schildert eine Situation, die den Leser befremdet. Eine scheinbar alltägliche Situation (Lehrer bringt Schülern das Schreiben bei), aber dann sind einige Details nicht stimmig: Wie die (Alt-)klugheit der Erzählerin, wieso ist ein Psychiater und kein Pädagoge etc. Man liest weiter weil man die Fragen beantwortet sehen will. Sehr schön gemacht.


    Vielleicht hätte ich mir mehr Brüche bzw. Abwechslung in ihrem Erzählton gewünscht. Oder in der Charakterisierung. Eine sympatischen Tupfer in der Charakterisierung des Psychologen... allerdings scheint das die Handlung auch nur begrenzt zu erlauben. Bis zuletzt war die Grundkonstellation eines aufgedrängten Deutschkurses unabhängig von der jeweiligen Vorbild einfach unfassbar. Vielleicht sollte ich den Text noch ein zweites Mal lesen. Gab es Gründe in ihrem Auftreten und ihrem Wesen (vielleicht besondere Wortkargheit oder ein Stottern?), das zu dieser pauschalisierten Einstufung führte?

  • Zitat

    Gab es Gründe in ihrem Auftreten und ihrem Wesen (vielleicht besondere Wortkargheit oder ein Stottern?), das zu dieser pauschalisierten Einstufung führte?


    Stottern oder ähnliches? Darauf bin ich gar nicht gekommen :gruebel...
    Nein, es ist die Wortkargheit. Oder noch viel mehr die völlige Zurückgezogenheit, die aus Wut, Verstocktheit und riesiger Verwirrung herrührt. Ein Schutzpanzer, wie Holle es ausgedrückt hat.


    Es ist so interessant zu sehen, was fremde Leser im eigenen Text finden. :-) Da wird einem erst bewusst, wie wenig man ihn selber kennt.


    Achso... @ licht: Der zweite Punkt, den du angesprochen hast, nämlich die Rückblende in ihre Kindheit, entspricht fast genau der "Urfassung". Die war leider ein wenig zu lang für die Zeichenvorgabe, und mE auch zu langatmig.
    Wenn ich sie in irgendeiner verstaubten Datei wiederfinde, kann ich sie ja auch noch mal reinstellen.


    Grüße und :knuddel1 an euch alle.
    Eny

    Logisch: Wer immer den anderen hinterherläuft, wird niemals Erster sein.

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  • hmmm muss das eine lange Rückblende sein? Ich überlege gerade: Wenn das Mädel dem Unterricht gedanklich fern bleibt und aus dem Fenster schaut, tut sie ja etwas. Da kann sie jede Menge Traumerinnerungen an ihre Heimat, an ihre Vergangenheit pflegen... Das könnten ja Splitter sein.


    Dass Du eine Zeichenvorgabe zu bedenken hast, ist natürlich eine Sache für sich. Ich verstehe so etwas grundsätzlich (und muß es auch gerade an anderer Stelle durchsetzen und beachten), aber es eben oft ein Kompromiss, der da heraus kommt. Man muss einen Text dann eben manchmal beschneiden.
    Wie wäre es denn, wenn Du einfach auch eine Art "directors cut" machst ;) ... *schmunzel ...


    Wegen des Kernsatzes: Ich finde, Du musst keine Sorge haben, daß der Text ohne ihn unverständlich wird. Er ist so gut gemacht ....


    Viel Spass beim Weiterarbeiten
    Licht