Harry Mulisch: Siegfried

  • Klappentext
    Nach einer Lesung in Wien spricht ein altes Paar den niederländischen Schriftsteller Rudolf Herter an. Die beiden erzählen Unglaubliches. Hausangestellte waren sie, auf dem Obersalzberg, und wissen, was keiner weiß: Hitler hatte einen Sohn, Siegfried, der im Untergang des Nazireiches sterben mußte. Herter ist wie besessen von dem Gehörten. Er greift zum Diktafon, um die Geschichte der mönströsen Familie H. zu erzählen, und plötzlich liegt auch Eva Brauns Tagebuch vor ihm ...


    Autorenporträt
    Harry Mulisch, 1927 in Haarlem geboren, lebt heute in Amsterdam. In seinem umfangreichen Werk - Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Gedichte, Essays, Studien, Reportagen, Libretti und Drehbücher - spielen der Zweite Weltkrieg und dessen Folge, der Kalte Krieg, eine wichtige Rolle. Harry Mulisch erhielt zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Niederländischen Staatspreis für Literatur.


    Meine Meinung
    Rudolf Herter, ein angesehener und preisgekrönter niederländischer Schriftsteller, besucht Wien gemeinsam mit seiner jungen Freundin Maria, um eine Lesung mit seinem letzten großen Roman bestreiten, Interviews zu geben und mit dem niederländischen Botschafter zu dinieren.
    Amüsiert und distanziert registriert der Schrifsteller seine Popularität und Wirkung auf das Publikum. Er, der Schöpfergott fiktiver Welten, scheint außerhalb zu stehen und nur zu beobachten.
    Ein altes Ehepaar stellt sich ihm als frühere Hausangestellte vom Obersalzberg vor und konfrontiert ihn mit der Nachricht, Adolf Hitler und Eva Braun hätten einen Sohn gehabt, der angesichts der bevorstehenden Niederlage auf Befehl des Führers getötet worden sei.
    Angesichts dieser (fiktiven) Geschichte versteigt sich Herter in ein Netz sattsam bekannter Theorien zum Phänomen Hitler (Hitler als Geschöpf Wagners, Hitler als "wiedergeborener" Anti-Nietzsche, Hitler als "Verkörperung" des Nichts und Negation aller Existenz usw.). Beginnend mit dem sehr menschlich anmutenden Phänomen einer Vaterschaft verwandelt sich das Phänomen Hitler, je näher Herter ihm kommt, immer mehr in etwas Dämonisches - bis es den Schriftsteller verschlingt und damit tötet.


    Bei den Romanen von Harry Mulisch verschränken Realität (auch in Gestalt der [Auto]Biographie des Schriftstellers) und Fiktion sich immer sehr tief. Deutlich ist auch in Rudolf Herter der niederländische Autor zu erkennen, der mit dieser Verquickung der fiktiven Figur mit der Person des Autors fröhlich spielt, ja ihn am Ende sogar sterben lässt!


    Ein rundum faszinierendes, abstruses Buch, das nur der Sohn eines ursprünglich österreichischen Nazi-Kollaborateurs und einer deutschen Jüdin, die wie ihre Mutter in Auschwitz ermodet wurde, schreiben kann.

  • Da hat sich Harry Mulisch aber völlig übernommen. Bis zur Hälfte etwa ist das Buch durchaus lesenswert - aber dann. Da wird vieles in einen großen Topf geschüttet, umgerührt und fertig ist der "Schreibbrei".
    Mulisch ist sich nicht zu schade, Kierkegaard mit Nietzsche zu verquicken, ohne überhaupt auf die spezielle Verbindung dieser beiden Menschen einzugehen. Und dann kommt natürlich auch noch Heidegger ins Spiel. Mit diesen Attributen versucht er sein merkwürdiges Gedankengebäude zu untermauern.
    Ich frage mich, spricht hier nur der Protagonist Rudolf Herter oder ist es Mulisch in Person der sich dort gedanklich ausbreitet?
    Die Figuren des Buches sind lieblos beschrieben, offenbar geht es nur darum, die vermeintliche Botschaft von Mulisch unter die Leser zu bringen. Kein Klischee über Nietzsche und Wagner wurde ausgelassen.


    Der Grundgedanke der Geschichte ist sehr interessant und hätte es auch verdient, zuende gedacht zu werden - aber bestimmt nicht auf die Art wie Mulisch dieses Unterfangen begonnen und beendet hat.


    So sehr ich Mulisch sonst schätze, diese Buch empfand ich als sein schwächstes Werk.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • "Siegfried" war der erste Roman von Mulisch für mich und bisher auch der Einzige...


    Zitat

    Original von Voltaire
    Bis zur Hälfte etwa ist das Buch durchaus lesenswert - aber dann.


    Ja, genau so habe ich es auch empfunden! Wobei ich gestehen muss, recht wenig vom zweiten Teil überhaupt verstanden zu haben...:grin
    Die Philosophisterei über "Das Nichts" war mir doch ein bisschen zu "hoch" und auch unverständlich. Dafür hätte ich mich vorher eingehender damit beschäftigen müssen.
    Aber der erste Teil ist durchaus lesenswert und beinhaltet eine faszinierende Geschichte!
    Von daher habe ich es nicht bereut diesen Roman gelesen zu haben :-]

  • Ich bin jetzt dur den UNBUCH des Jahres Fred hier gelandet, hatte die Rezi vorher komplett übersehen.
    Das Buch steht nun allein schon wegen euerer widersprüchlichen Rezis etwas höher auf der Wunschliste....
    Ich mag Mulischs Art zu erzählen sehr.


    @ Sue Town
    Das Attentat wäre aus meiner Sicht auf jeden Fall lesenswert....gib Mulisch doch eine zweite Chance... :wave

  • Das schrub ich seinerzeit, vor zwei Jahren, wenn ich recht erinnere:


    Rudolf Herter, angesehener, gesetzter, umworbener und preisgekrönter Schriftsteller aus Holland, reist mit seiner jungen Freundin Maria nach Wien, um in der Hofburg aus seinem Opus Magnum "Die Erfindung der Liebe" zu lesen, ein paar Interviews zu geben, mit dem Botschafter zu speisen. Der Siebzigjährige ist ganz Autor, sozusagen in persona ganz Kunst; er hört in keinem Moment auf, zu schreiben, über die Variationen der Realität nachzudenken, über die Verbindung zwischen Realität und Kunst, über Erkenntnisgewinnung. Herter zeigt sich weder als Philanthrop, noch als Misanthrop, sondern ausschließlich als Beobachter, der die eigene Macht skeptisch-amüsiert zur Kenntnis nimmt. Im Rahmen eines Interviews, das ganz nebenbei sehr interessante Einblicke in das Leben auch des erzählenden Romanciers vermittelt, sinniert er über die Idee, das Phänomen Hitler zu fassen zu versuchen, indem der realen Gestalt ein fiktiver Spiegel vorgehalten wird: Die Gesichtslosigkeit der Figur, an der sich all die psychologischen Erklärungsversuche die Zähne ausgebissen haben, könnte auf diese Art beseitigt werden.


    Nach der Lesung kommt ein steinaltes Pärchen auf Herter zu: Die beiden haben sein Interview gesehen und wissen eine Geschichte zu erzählen, eine, die eine neue Perspektive eröffnet beim Blick auf die Figur Hitler. Das Paar zählte zu den Hausangestellten auf dem Obersalzberg, der Festung Hitlers in den Bergen, in die er sich zurückzog, in der auch seine Geliebte, Eva Braun, lebte, die er am Tag des gemeinschaftlichen Selbstmordes noch geheiratet hat. Hitler und Eva Braun hatten ein Kind, einen Sohn, den das Haushälterpaar als den ihren ausgeben mußte. Kurz vor Kriegsende erteilt der Führer den Befehl, den Sohn zu töten ...


    Mulisch gibt sich nie damit ab, nur eine Geschichte zu erzählen, nur ein Buch vorzulegen, und auch bei diesem schmalen Bändchen sind es - wieder - gleich vier: Am Anfang schlägt die Geschichte des alternden, magenkranken Autors sofort in den Bann. Als würde ein gigantischer Vorhang beseite gezogen, gewährt Mulisch Einblicke, von denen schwerlich anzunehmen ist, sie wären nicht authentisch: "Langsam wurde es Zeit für seine Memoiren, wäre es nicht so, daß sein ganzes Werk eigentlich aus Memoiren bestand: Memoiren nicht nur seines wirklichen Lebens, sondern auch seiner Phantasie, die beide nicht voneinander zu unterscheiden waren."


    Es folgt die erstaunliche Geschichte des alten Pärchens, die Herter atemlos, aber auch feinfühlig und vorsichtig reflektierend anhört. Sie führt zu einem Moment der Offenbarung, der Erkenntnis: Herter macht Hitler als das "nichtsende Nichts" aus, als "Harnisch ohne Füllung", als "schwarzes Loch"; die Gedankenkette führt letztlich dazu, daß Hitler eine negative, aber nichtmenschliche Inkarnation Nietzsches gewesen sein muß, wofür sich sogar Beweise finden ließen. Hier - endlich, könnte man sagen - setzt der philosophische Exkurs an, ohne den Mulischs Werke kaum vorstellbar wären. Und am Ende, nach einigen Auszügen aus den "Tagebüchern" Eva Brauns, schließt sich der Kreis. Wer den Anmerkungen über "chromatische" Ähnlichkeiten, über Musiktheorie und Philosophiegeschichte folgen konnte, wird die kleinen Rätsel (Adolf Hitler - Rudolf Herter, Eva - Maria) und die größeren entschlüsseln können. Aber auch ohne dies bleibt "Siegfried" von der ersten bis zur letzten Seite spannend, originell, interessant und so maßlos abwegig, daß es schon wieder so sein könnte ...


    "Wer, wenn nicht ich", maßt sich Herter an; wer, wenn nicht er: Mulisch, Sohn eines Nazikollaborateurs und einer Jüdin, gehört auf diese Art zu den "Glücklichen", die sich einer solchen Thematik nähern können, ohne daß die Gefahr bestünde, daß das Eis bricht, zu dünn wird.


    Zahllose Bücher, geschichtliche, psychologische und auch fiktiv-belletristische sind um und über Hitler geschrieben worden. Eigentlich ist es nur ein feiner Seitenaspekt, den Mulisch zum Gegenstand seines Romans macht, ein Lichtstrahl, ein ungewöhnlicher Blickwinkel, aber die enorme Erzählkunst Mulischs ("Es geht um das WIE, niemals um das WAS") und die witzige und intelligente Idee dahinter lassen ein vollendetes Kunstwerk entstehen, an dessen Ende nicht nur die Erkenntnis steht, daß man das Nichts niemals auslöschen kann.

  • Bei Recherchen in einer anderen Sache bin ich auf ein sehr interessantes Interview mit Harry Mulisch gestoßen, bei dem er seine Motivation für den Roman "Siegfried" bzw. seine Sicht der Dinge Auskunft gibt. Diesen Link möchte ich euch nicht vorenthalten:


    Harry Mulisch

  • Ein Versuch, das Phänomen Hitler zu erklären. Mit dem Hintergrund der tatsächlichen politischen Zustände und auch der politischen Person Hitler bedient Mulisch sich einer eigenen Idee, er verpasst Hitler und Eva Braun einen Sohn und versucht auf unerschütterliche, erschreckende Weise zu erklären, welch eine Unperson, welch eine Maske Hitler ist.


    Im zweiten Teil des Buches folgen Exkursionen in die Welt der Philosophie, denen ich leider - wie schon so oft bei Mulisch - aufgrund meines oberflächlichen Wissens in diesem Bereich oft nicht folgen konnte. Mulisch verpackt innerhalb weniger Seiten die gesamte Philosophie von Nietzsche über Kant, von Schopenhauer über Kierkegaard. Er vergleicht, er zählt auf ohne jedoch näher darauf einzugehen. Es bedarf meiner Meinung nach doch eine große Kenntnis der Philosophie, um diesen Gedankengängen folgen zu können. Nichtsdestotrotz wirft Mulisch in dem Buch einige sehr erstaunliche Querverbindungen auf (z.B. Hitler als ein Produkt Richard Wagners, eine Erklärung über die Musiktheorie, Hitler als Reinkarnation Nietzsches, untermauert mit sehr interessanten Daten- und Zahlenvergleichen),


    Ein sehr interessantes Buch, empfehlensert für alle die sich mit der Thematik gerne befassen und die auch Zugang zu philosophischen Themen haben.