Robert Musil: "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß"

  • Musil war gerade zweiundzwanzig Jahre alt, als er seinen Erstling verfaßte. Das Buch handelt von den Erlebnissen eines etwa Achtzehnjährigen in einem religiös-militärischen Internat, einem sogenannten Konvikt, wie sie Anfang des vergangenen Jahrhunderts üblich waren, und es hat stark autobiographische Züge. Der nur recht kurze Roman (200 sehr großzügig gesetzte Seiten) fundamentierte Musils schriftstellerische Karriere, die ihren Höhepunkt mit dem - unvollendeten - "Der Mann ohne Eigenschaften" erreichte.


    Törleß weiß so recht nichts mit dem Internatsleben anzufangen, er versteht die Motivation seiner Mitschüler nicht, und er befindet sich in einer Art philosophischer Bewußtwerdungsphase, reflektiert viel und sucht Antworten auf essentielle Fragen, etwa die, wie ein intelligenter Mensch mit imaginären Zahlen zu rechnen in der Lage sein kann, ohne dabei verrückt zu werden. Mehr aus Langeweile schließt er sich den Mitschülern Breiting und Beineberg an, die unter dem Dach des Internats ein geheimes Refugium betreiben, und die den schwächlichen, weibischen Basini als ihr Opfer auserkoren haben. Als sie Basini beim Diebstahl erwischen, dient dies als willkommener Anlaß für eine nicht endenwollende Kette von Demütigungen und Drangsalierungen, auch für sexuellen Mißbrauch. Törleß ist dabei, beobachtet aber eher, als sich aktiv zu beteiligen, findet mehr Faszination an seiner eigenen Gefühls- und Gedankenwelt als an den morbiden Spielchen mit dem leidenden Zimmerkameraden. Das ändert sich auch dann nicht, als er eine Beziehung mit dem geknechteten Basini beginnt.


    Das Buch ist über hundert Jahre alt, und deshalb, aber auch aus anderen Gründen kann man es nicht mit dem üblichen Maß messen. Möglicherweise würde sich heutzutage kein Verleger für ein derartiges Werk finden, das sich gängigen Handlungsmustern verweigert, zuweilen essayistisch abschweift, auch mal vorgreift, also die eigene Spannung zerstört, und zudem in altbackener, komplizierter Sprache daherkommt. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument, und ein Roman, der zu seiner Zeit Furore gemacht hat - Musil hat Tabus durchbrochen, aber nicht in der Absicht, reißerisch damit umzugehen. "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ist in erster Linie eine psychologische Studie, eine, die freilich Konzentration beim Lesen einfordert, was ein durchaus lohnenswerter Aufwand sein mag. Wer sich mit Musil beschäftigen will, kommt am "Törleß" nicht vorbei.

  • Zitat

    Original von Tom
    Möglicherweise würde sich heutzutage kein Verleger für ein derartiges Werk finden, das sich gängigen Handlungsmustern verweigert, zuweilen essayistisch abschweift, auch mal vorgreift, also die eigene Spannung zerstört, und zudem in altbackener, komplizierter Sprache daherkommt.


    Meine Empfindung zum Roman: Das Buch ist dermaßen intensiv, dass diese ganzen Schwächen eigentlich keine Rolle für mich spielten.
    Dieses packende Element habe ich im Mann ohne Eigenschaften nicht so ganz wiedergefunden. Deswegen habe ich das auch schnell abgebrochen.


    Auch die Verfilmung des Törleß von Volker Schlöndorff fand ich nicht schlecht, wenn man bedenkt, wann es gedreht wurde (1966)!
    Der merkwürdige Ton des Buches wirkte im Film allerdings etwas geschraubt. Das war bei deutschen Literaturverfilmungen damals wohl Mode. Bei der Tonio Kröger-Verfilmung war es ähnlich.

  • Hallo, Herr Palomar.


    Zitat

    Das Buch ist dermaßen intensiv, dass diese ganzen Schwächen eigentlich keine Rolle für mich spielten.


    Mmh. Vielleicht habe ich mich mißverständlich ausgedrückt. Ich habe die Aspekte, die ich in dieser Aufzählung genannt habe, nicht als "Schwächen" empfunden, aber durchaus als relevant im Hinblick auf die Erwartungshaltung, die ein Jetztzeitleser an einen Coming-of-Age-Roman (und "Törleß" ist einer) haben mag.

  • Ich habe dieses Buch in der Schulzeit (ich denke so mit 15 gelesen) und ich glaube, dass ich der Einzige in der Klasse war, dem das Buch gefallen hat.


    Ich habe die Sprache faszinierend gefunden und die "Überheblichkeit" der Gedanken des Zögling Törless. Jugendliche Dekadenz gepaart mit sexuellen Wirrungen. Für mich damals ein faszinierendes Thema!


    Ich denke heute noch oft an sogesehen meinen ersten "schwulen" Roman und werde ihn sicher wiederlesen.


    Aus heutiger Sicht, sind viele Sachen natürlich obsolet, doch wenn man sich zurückversetzt in die damalige Zeit, merkt man eigentlich wie aufrührend dieses Buch ist. Und das interessante ist: Das es genau so gewollt ist!

    „Die Welt ist ein einziger unaufhörlicher Querverweis.“


    ...who wants to live forever...

  • Ich habe den Roman vor einigen Tagen gelesen und bin sehr fasziniert von der Vielschichtigkeit, der Sprache, der Gedankengänge. Ich denke, der Begriff "intensiv" trifft es sehr gut.
    Auf fast jeder Seite findet man eine Ausführung eines Themas, das im ersten Moment scheinbar nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun hat. Themen wie der Buddhismus, Kant, die Mathematik, Sprache, Sexualität spielen eine Rolle. Die philosophischen Gedankengänge Törleß' regen zum Nachdenken an. Die Art wie er seine Umwelt wahrnimmt. Seine Verwirrung. Seine Versuche, das in Worte und Bilder zu fassen, was er empfindet. Das Erkennen des Entwertens durch Sprache.
    Die eigentliche, äußere Handlung hat mich weniger fasziniert, als das, was im Inneren der Protagonisten stattfand.
    Ich bin mit geringer Erwartung an das Buch herangegangen, da mir zuvor gesagt wurde, dass es eher verwirrend und verstörend sei, ich mich lieber dem "Mann ohne Eigenschaften" zuwenden solle, wenn ich etwas von Musil lesen wolle. Ich bin positiv überrascht von Musils Werk, beeindruckt von Aufbau und Sprache.
    Das vorangestellte Zitat, welches bei mir schon gleich zu Anfang Interesse für den Roman geweckt hat, möchte ich hier anführen, da es ein immer wieder auftretendes Motiv des Romans wunderbar beschreibt.


    "Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert."


    (von Maurice Maeterlinck)

    Nur eines ist vergnüglicher als abends im Bett, vor dem Einschlafen, noch ein Buch zu lesen - und das ist morgens, statt aufzustehen, noch ein Stündchen im Bett zu lesen.
    - Rose Macaulay -

  • Ich hab das Buch in der Uni lesen müssen und meine Abschlussprüfung war dann auch noch über Musil und dieses Werk u.a. :rolleyes Man kann sich also vorstellen, was ich für eine Meinung davon ab. :lache


    Ich konnte mit dem Buch absolut nichts anfangen. Auf gut deutsch: Was für ein Schwachsinn! :pille Ich hab mich durch jede Seite quälen müssen. Andererseits muss man dann fast sagen, im Gegensatz zu den anderen Texten von Musil (den MoE kenn ich allerdings noch nicht), ist der Törleß fast noch lesenswert und mit dutzenden von Sekundärliteratur begreift man das ganze dann auch auf einer gewissen Schiene. Allerdings hab ich mit dem Ende, trotz Sekundärliteratur immer noch so meine Probleme.


    Also, ich bin mit Musil nicht warm geworden. Im Gegenteil. Ein Autor, den ich wohl für eine ganze, ganze Weile meiden werden. Und ob ich den MoE je anrühren werde, abwarten. :rolleyes

  • Soeben zu Ende gelesen, muss ich mich auch in die Gruppe derer einreihen, die mit der Lektüre wenig, um nicht zu sagen, gar nichts, anfangen konnten.
    Dass es in einem Internat vor mehr als 100 Jahren so und wahrscheinlich noch viel ärger zugegangen sein mag, verwundert nicht, auch nicht, dass junge Menschen den Sinn des Lebens zu entdecken hoffen, sich mit mathematischen und philosophischen Problemen herumschlagen und ihnen dazu noch ihre Hormone zu schaffen machen.
    Musils Gedankengänge fand ich jedoch recht verworren, die Beschreibungen der Empfindlichkeiten des Knaben Thörleß äußerst schwammig und verwirrend, da sie mir das, was in der Seele des Knaben vorgegangen sein mag, kaum näherbringen.
    Deshalb war ich froh, als ich das Büchlein zur Seite legen konnte. Zum Nachdenken regt es mich nicht an, und es gelüstet mich auch nach keinem weiteren musilschen Werke.

  • Auch ich gehöre zu denen, die dieses Buch in der Schule, vielleicht mit 16 oder 17 gelesen haben. Intensiv ist es sicher, verwirrt hat es mich auch. Ich glaube, ich war damals zu jung, um das Buch richtig verstehen zu können. Heute würde ich es sicher mit anderen Augen lesen.


    Sehr beeindruckt hat mich der allererste Satz in Buch. Er ging mit einem Haufen verschachtelter Nebensätze bis auf die folgende Seite. Ein von mir verfasster Aufsatz zum Buch, der auch einen etwas verschachtelten Satz enthielt, wurde von meiner Deutschlehrerin bemängelt.


    Ich habe ebenfalls kein wirkliches Verlangen nach einer zusätzlichen Musilschen Erfahrung.

  • Zitat

    Original von Kulturbanause
    Ich glaube, ich war damals zu jung, um das Buch richtig verstehen zu können. Heute würde ich es sicher mit anderen Augen lesen.


    Ich habe das Buch mit 50 zum ersten Mal gelesen und die Verwirrungen des Knaben auch nicht verstanden oder zumindest die Schilderungen davon nicht.
    Aber sonst ist es mir auch schon oft so ergangen; was mich in meiner Jugend begeistern konnte, hat mir später gar nicht mehr zugesagt, aber auch der umgekehrte Fall ist schon vorgekommen.