Freier Fall
Ein Bergsteiger, der alleine unterwegs war, fühlte plötzlich, wie sich ein Abgrund unter ihm auftat. In dem Moment, als er zu stürzen drohte, griff er nach einem Edelweiß, das so tief verwurzelt war, dass es ihm vor dem Fall bewahrte.
In seiner Angst und Verzweiflung rief der Mann aus: "Wenn es dich gibt, Gott, dann hilf mir jetzt!"
Der Himmel öffnete sich, und aus dem blendenden weißen Licht fragte eine donnernde Stimme: "Vertraust du mir denn, mein Sohn?"
"Ja ! Natürlich tue ich das, oh ja!", versicherte der Bergsteiger.
"Sehr gut, mein Sohn. Dann lass das Edelweiß los."
Der Mann dachte einen Augenblick nach und entgegnete: "Gibt es da oben noch jemanden anderen, mit dem ich reden kann?"
Ich stand gestern in der Bücherei, habe das gelesen und so gelacht, das alle Besucher um mich herum zusammen- und die Köpfe hoch gezuckt sind. Danach habe ich nötig jemand gesucht, einen der vielen Menschen um mich herum, dem ich das vorlesen könnte. Jetzt sofort auf der Stelle. Aber all die anderen Besucher haben bemüht auf dem Boden geschaut und meinen opfersuchenden Blick gemieden. Feiglinge.
Keiner wollte spontan etwas vorgelesen bekommen. Niemand wollte lachen UND darüber reden. Nicht zu fassen, ich musste also das Buch (ansonsten ist es NUR schlecht!) mit nach Hause nehmen, um dann per Telefon und Mail jedermann und -frau, ob sie wollten oder nicht, mit dem Text zu beglücken.
Er ist nur gut und zeigt das Dilemma deutlich.
Wobei das - loslass- Thema in meinem Bekannten und Freundeskreis gerade ein so sehr Zentrales ist.
Jeder -wirklich absolut jeder - steht gerade an einem Wendepunkt in seinem Leben. Freiwillig oder unfreiwillig. Job, Partner, Umzug, Geld, Tod, Krankheit, Angst, die Eltern in der Pflege, Umschulung, Bulimie, Drogen, also wirklich breit gefächert. Jedem sein Kelch, jedem sein Weg. Hoffnungslosigkeit, Trauer und immer wieder enden oder drehen sich die Gespräche mit und um das „Loslassen". Wir kichern uns da so durch, wenn es geht. Natürlich nicht immer.
Loslassen ...eine unabhängige Studie hat erwiesen: ‚Loslassen‘ antworten 80% der Befragten, geht es um Lebensprobleme oder Krisen. Loslassen, nicht zu erhalten im Kühlregal... (dies war ein Insider für die SWR3 Hörer)
Anderen empfehle ich das auch locker leicht, so vom Stuhl runter. Ich bin wundervoll in klugen Ratschlägen und weisen Winken. Für andere, da weiß ich Bescheid, sehe es genau und frage mich, warum sie denn -verdammt noch mal -nicht loslassen-
Ich selber aber hänge seit ewiger langer Zeit an der blanken Wand, kralle mich an das Edelweiß und der Chor um mich herum ruft (lockend, befehlend, spöttisch oder vernünftig): „Lass los!"
„Mache ich doch!", knirsche ich dann, zwischen zusammen gepressten Zähnen.
„Kein Mensch hält hier etwas fest!" und versuche die zerquetschten Edelweißblätter zwischen meinen Fingern nicht zu sehen. Loslassen?
Die haben alle gut reden. Vertrauen, ja wunderbar - tue ich doch, ich vertraue vollkommen - aber bungee jumping ist nun mal nicht mein Sport. UND ich weiß schon auch ganz gerne, wohin ich falle. VORHER.
Der Absturz ist vorprogrammiert, -wie lange hält so ein Edelweiß- oder kann man da auf Dauer hängen? Ich habe die Wahl.
-um dein Ziel zu erreichen, musst du es aufgeben.- ( auch LOSLASSEN genannt)
Sehr schön. ICH WEIß! Ich bin jetzt bei etwa zwei Millionen gelesenen esoterische Werken und klug durch gedachten Bücher. Lebensführung, Motivation, aus allen Ländern, mit allen Ansätzen, alle Denkrichtungen, witzige, gurumäßige, belehrende, man hat mich gesiezt, geduzt oder wir alle waren eine liebe Familie... ich habe mich durch die Regale gefressen und das ist die Quintessenz.
Aber es ist doch so paradox! Ich habe ein Ziel, da bin ich auch froh drum, aber es loslassen??? mir eine Alternative suchen, aber auch unbeirrbar daran bleiben? na? WIE geht DAS?
Was sage ich meinem Sohn? Du willst also fünf schwere Prüfungen in diesem Semester machen und gut bestehen?
Gib dein Ziel auf. Dann erreichst du es.
Ein kurzes Gefühl von -ich verbreite hier gerade den puren Schwachsinn- überkommt mich dann doch bei solchen Aussprüchen. Gleichzeitig weiß ich doch, es ist richtig.
Ein stimmiges Paradox und wenn man noch etwas tiefer geht, kommt es an das Thema Religiosität.
Durch Zufall - nein, Zufall gibt es nicht (!)- oder durch eine weise Fügung, oder weil das Buch eben doch so herumlag, als ich gerade daran vorbei kam, bin ich an den Tibeterkrimi von Eliot Pattison geraten.
Ich bin tief beeindruckt davon. Das mich ein Buch so gebannt und mich genau da abgeholt hat, wo ich gerade stehe, ist lange her. Ich lese gerade - der fremde Tibeter-, es ist unglaublich: China und Tibet -ein Grauen und Schrecken- ; die gelassene Geisteshaltung der Lamas -ein Wunder-; die tiefe Religiosität; -der Glauben, der alles durchdringt, ohne jeden Zweifel -als Angebot-; und dazwischen Mord und Totschlag und Dämonen.
Und was ist das Hauptthema? Wollen wir mal alle raten?