Peter Stamm: Agnes

  • Agnes ist die Geschichte eines Schweizers, der in Chicago Recherchen für ein Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen betreibt. In der Bibliothek lernt er die junge Physikerin und Mathematikerin Agnes kennen, die ein eher zurückhaltendes Leben führt. Er verliebt sich in sie und bald ziehen sie zusammen. Agnes wünscht sich, dass er ihre Liebesgeschichte aufschreibt, und diese Geschichte nimmt für sie bald einen ebenso großen Stellenwert ein wie die Realität.


    Der Roman ist kurz, nur etwa 150 Seiten lang, in klaren, oft knappen Sätzen geschrieben und sehr gut lesbar. Am Ende allerdings hinterlässt er bei mir ein schales Gefühl. Die Geschichte ist traurig, niemand hat aktiv Hilfe für seine/ihre Probleme gesucht oder gefunden. Der Erzähler ist sich seiner Unzulänglichkeit bewusst. Aber wahrscheinlich wird sich nichts ändern - zumindest ist das das Gefühl, das bei mir entsteht. Und es bleiben eine Menge Fragen (siehe weiter unten)...


    Würde ich dieses Buch empfehlen? Ich weiß es nicht. Es ist interessant, kein Zweifel, und sicher realistisch. Aber so hoffnungslos... Oder empfinde nur ich es so? Aber auf jeden Fall möchte ich noch einen weiteren Roman des Autoren lesen und sei es nur, um zu sehen, ob "die alle so sind".


    Achtung, Spoiler:
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    Der Ich-Erzähler gibt zu, sich frei zu fühlen, als Agnes ihn verlassen hat, obwohl er sie wirklich liebt. Geht es darum, dass ein Mensch wie er nicht erkennen kann, wie verstört seine Freundin wirklich ist? Dass er ihr weder helfen kann, noch überhaupt erkennen kann, welche psychischen Probleme sie hat? Oder fühlt er sich ohne sie frei, weil ihre Ängste ihn bedrücken? Welche Rolle spielt die Geschichte, die er schreibt und die sie "nachlebt"? Treibt er Agnes mit der Geschichte bewusst oder unbewusst in den Tod? Wünscht er sich ihren Tod? Jedenfalls unternimmt er nichts, um ihren Selbstmord zu verhindern, selbst als er erkennt, was sie vorhat und es vielleicht noch zeitig genug wäre. Als sie tot ist, beginnt er, immer wieder ein Video eines gemeinsamen Ausflugs zu schauen und sagt "Sie klammerte sich [...] immer enger an mich, je mehr sie sich fürchtete. Ausgerechnet an mich." Dass er ihr keine Hilfe sein konnte, ist ihm also klar.


    Viele Grüße aus Köln
    Jaleh

  • "Agnes" ist mit seinen gerade einmal 150 Seiten auf den ersten Blick ein Büchlein, erweist sich inhaltlich jedoch als tiefsinniges Schwergewicht. In seiner gewohnt knappen, lakonischen, mitunter gar unterkühlt wirkenden Sprache läßt Stamm den Ich-Erzähler von seiner Liasion zu Agnes erzählen und von der Geschichte über ebendiese Agnes, die er schreibt und die zunehmends in die Realität der beiden eindringt, bis hin zum bitteren Ende.
    Was mich an diesem Roman vor allem fasziniert hat, war die - trotz der glücklichen Momente, die die beiden miteinander haben - unendliche Traurigkeit, die über dem Text liegt. Von der ersten Zeile an ist klar, es gibt keinen frohgemuten Ausgang, und auch wenn immer wieder kleine Episoden der glücklichen Zweisamkeit erkennbar sind, ist ein einschränkendes, das Glück aufhebendes Detail nie fern.
    Viel könnte man sagen zu den 150 Seiten, zur Einstellung des Ich-Erzählers, zum Charakter von Agnes, zur Rolle von Louise, doch in diesem Fall hieße dies, den Roman zu zerreden. Wer vielleicht schon einmal ein Buch von Stamm gelesen hat, seinen Schreibstil mag und gern ruhige, leise, nachdenkliche Werke liest mit Anspruch auf unkonventionelle Ausprägungen, der kann einen Blick riskieren.
    Ich hab´s gern gelesen und glaube, daß man bei mehrmaligen Lesen noch eine Menge entdecken kann.

  • Agnes ist eine kurze Geschichte, die Kühle ausstrahlt, obwohl sie von heftigsten Gefühlsbewegungen erzählt. Der Ich-Erzähler ist ein gescheiterter Schweizer Schriftsteller um die vierzig. Früher träumte er von literarischer Größe, inzwischen schreibt er anspruchsvolle Sachbücher. Die Recherche mit handgreiflichem Material, sachliche Beschreibungen und Analysen aufgrund klarere Fakten bieten ihm mehr Sicherheit als das Erkunden der Gefühls – und Denkwelten von Menschen. Er ist ungebunden, selbst engeren Freundschaften weicht er aus, er schätzt Beziehungen, die ihn zu nichts verpflichten.
    Die junge Studentin Agnes, die er während einer Recherchereise in Chicago trifft, fasziniert ihn, weil sie ebenso kühl und selbstgenügsam scheint wie er. Sie ist Naturwissenschaftlerin, sie beschäftigt sich mit der Struktur von Kristallen. Das reizt ihn zusätzlich, weil ihn alles Neue reizt.


    Was er lange nicht merkt, ist, daß hinter Agnes’ Verschlossenheit ein reiches Innenleben steckt. Sie spielt Cello, liebt Malerei, ist empathisch in einem Maß, das den Erzähler erschreckt und verunsichert. Zu dem Zeitpunkt ist er schon verliebt und hat, kaum daß er es bemerkt hat, auch schon den Rückzug angetreten.
    Agnes dagegen versucht, sein Gefühlsleben zu wecken. Kaum erfährt sie, daß er früher Geschichten geschrieben hat, bittet sie ihn, ‚ihre‘ Liebesgeschichte zu schreiben. Sie soll Fakten mit Gefühl verbinden.


    Das geht nur eine kurze Zeit gut. Das vorsichtige Zurückweichen des Ich-Erzählers wird schnell zur überstürzten Flucht. Allerdings schreibt er noch immer auf, was zwischen ihm und Agnes geschieht. Nur ist bereits geschehen, wovor er sich am meisten fürchtet, er hat sich in der Irrationalität des Fiktionalen verloren. Ein überstürztes kurzes Verhältnis mit einer anderen Frau, unverbindlich und auch nicht auf seine Initiative hin, läßt ihn zwar kurzzeitig ahnen, worin die Unterschiede der Verbindungen bestehen, rettet die Beziehung zu Agnes aber nicht.


    In diesem kurzen Text scheint nicht viel passieren, ein Mann trifft eine junge Frau, sie verlieben sich, es stellt sich heraus, daß sie nicht zusammenpassen, sie trennen sich. Es gibt viele Pausen, Zeiten der Stagnation. Trotzdem hat die Erzählung ein Tempo, die eine kaum Zeit zum Atemholen läßt. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß die sterile Atmosphäre, die der Ich-Erzähler kultiviert, die Luft knapp werden läßt.


    Stamm beschreibt schmerzhaft detailliert einen bindungs – und liebesunfähigen Mann, einen Schriftsteller, der an seinem eigentlichen Thema, dem Menschen, scheitert, auf dem Papier wie in der Realität. Sein Protagonist agiert auch ungern. Muß er handeln, ist er hilflos bis zur Verstörung. Angst beherrscht ihn. Sein Agent diktiert ihm die Themen seiner Sachbücher, zu einer Frau kann er nur eine Beziehung aufbauen, wenn sie keine Ansprüche an ihn stellt, die über geistreiche, aber oberflächliche konventionelle Unterhaltung oder konventionelle Körperlichkeit hinausgehen.


    Die Geschichte bietet einen weiten Raum zur Deutung gemessen an ihrer Kürze. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ab welchem Moment in der Beziehung zu Agnes die gefürchtete Phantasie den schreibenden Erzähler überwältigt. Denn das, was er erzählt, können durchaus reine Angstphantasien sein. Eine jungen Freundin, um die er sich auf Kosten seiner eigenen Zeit mehr und mehr kümmern muß, eine unerwartete Schwangerschaft, die mehr von ihm fordert, als er je auch nur gedacht hat zu geben. Hatte Agnes tatsächlich eine Fehlgeburt oder denkt er sie sich aus, um sein Problem zu lösen bzw. gleich zum nächsten Schritt überzuleiten, nämlich einen Trennungsgrund für Agnes zu finden? Oder herbeizuschreiben? Schreibt er Agnes tot? Stirbt sie? Wann verließ sie ihn wirklich?


    Solche Fragen zu entwickeln erweisen sich nach der Lektüre als ebenso spannend und anregend wie zuvor das Lesen. Man kann den Text hin- und herwenden, Indizien mal für die eine, mal für eine andere Lesart suchen.
    Formuliert ist das Ganze fast sachlich, was erstaunlicherweise die wachsende Verwirrung und Entschlußlosigkeit des Ich-Erzählers nur deutlicher macht. Er ist ein Irrender in jedem Sinn. Am Ende ergibt sich der beklemmende Eindruck, daß man hier nicht nur die Geschichte eines Einzelnen gelesen hat, sondern einen kühl beobachtenden Kommentar zum menschlichen Verhalten.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus