Die Korrekturen – Jonathan Franzen

  • Zitat

    Original von mankell
    Ein wenig zu denken gibt es mir, daß ich einzelne Aspekte des eigenen Familienlebens in dem Roman wiedererkenne, wenn auch in real abgemilderter Form.


    Ich bin zwar erst in der Mitte dieses Buches, aber streckenweise sehe ich in Albert und Enid auch meine eigenen Eltern vor mir. Etwa das Haus, das Lebenswerk, das gebaut/angeschafft wurde, als die Kinder noch klein und die Eltern jung waren. Das wird im Lebensabend zunehmend zur Last, aber man ist emotional derartig daran gebunden, dass man es entgegen aller Vernunft nicht verkaufen kann (an manchen Stellen hatte ich den Eindruck, Enid zitiert meine Mutter :wow).
    Mal sehen, wie das weiter geht...

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Was für ein Buch! Ich glaube, ich habe noch nie eine Familiengeschichte gelesen, die Freud und Leid von Familienbanden derartig gnadenlos seziert. Dabei sind es gar keine weltbewegende Katastrophen, die das Leben der Lamberts aus den Fugen geraten lassen, sondern die kleinen Stolpersteine des Lebens, des Arbeitens und Älterwerdens. Sie machen die Korrekturen notwendig, die oftmals tiefgreifende Veränderungen sind, Kursänderungen, wie sie der Lauf des Lebens nunmal mitsichbringt. Dabei wird jedes einzelne Detail und jedes psychologische Element im Leben der Protagonisten so präzise beobachtet, dass auch ohne menschliche Tragödien die ganze Misere des Lebens deutlich zu Tage tritt


    Diese eigentlich ziemlich unspektakuläre Geschichte wird so eindringlich erzählt, dass es auch für mich nur wenige Passagen gab, über die ich mich hinwegschleppen musste; über weite Strecken hält dieser Wälzer sein sprachlich und erzählerisch hohes Niveau. Mein Monatshighlight, auch wenn es mir zu denken gibt, dass ich hier schon wieder vollkommen unbeabsichtigt Menschen in der Midlife-Crisis begegnet bin...


    Ich habe übrigens diese Ausgabe gelesen, klein, kompakt, mit bibeldünnen Seiten. Das Buch selbst ist schon ein Handschmeichler

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

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  • Ich habe gerade die englische Originalversion beendet. Brilliantes Buch! :-]


    Wie hier eine Familie im Detail beschrieben wird ist großartig. Besonders gut fand ich die Stelle, wo Chip seine Weihnachstgeschenke "auspackt" :yikes.
    Auch ich habe einige Wesenszüge in meiner eigenen Familie wiedererkannt, über deren mögliche Ursachen ich bisher noch nicht groß nachgedacht hatte.


    (Die "27ste Stadt" dagegen fand ich auch nicht besonders.)

  • Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben (das seit Jahren in meinem SUB bzw. RUB sich befand und das ich bereits zweimal bis ca. Seite 30 angefangen und wieder weggelegt hatte), aber ich bin auch ganz froh, dass ich jetzt damit fertig bin.


    Ich fand die Familiengeschichte und -entwicklung wirklich ausgesprochen gut konstruiert und jeder der fünf Charaktere (Enid, Alfred, Chip, Denise und Gary) haben bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen, sie sind vielschichtig und menschlich widersprüchlich, dabei jedoch plausibel gezeichnet bzw. beschrieben und nach den 782 Seiten des Romans sind sie einem irgendwie auch nahe gekommen und es ist fast bedauerlich, ab jetzt nicht zu wissen, wie es mit ihnen weitergeht...


    Das einzige was ich irgendwie doch sehr weit hergeholt fand und was für mich Längen hatte, war dieser Ausflug von Chip nach Litauen, aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich über Litauen aber auch wirklich genau gar nichts weiß.
    Und ich fand, dass die Beweggründe von Denise für ihre Annäherung an die verschiedenen bedeutsamen Menschen in ihrem Leben psychologisch noch deutlicher herausgearbeitet hätten werden können. Da fehlen mir irgendwie erklärende Emotionen...


    Garys Abhängigkeit von Caroline ist außerordentlich eindringlich beschrieben wie ich finde, aber welche Konsequenzen das letztlich für ihn hat bleibt für mich auch offen.


    So, meine Gedanken zu diesem Buch, vielleicht gibt es jemanden, dem dazu gerade noch etwas einfällt? Würde mich freuen...

  • Ich kann mich hier nur anschliessen. Fuer mich war das Buch ein ganz grosses Highlight - es hat mich wesentlich staerker beeindruckt als "Freiheit". Die Mischung aus beissend realistischer Schilderung und grotesker, karikierender Satire ist ueberraschend, manchmal schockierend und gelungen.
    Unvergesslich ist mir die Szene, wenn Enid sich verzweifelt von ihrer erwachsenen und in heftige erotische Probleme verstrickten Tochter wuenscht, sie moege ein Adventskalenderritual aus Kindertagen vollziehen. Ich musste das Buch an der Stelle einen Tag lang zur Seite legen, weil es mir so sehr ans Eingemachte ging.


    Mit "Die Korrekturen" habe ich Franzen fuer mich als Autor entdeckt und bin von jedem seiner Buecher begeistert, wobei dieses aber bisher fuer mich das staerkste, am besten gezielte, schaerfste bleibt. Ich kann mich, glaube ich, an keinen anderen Roman erinnern, der der Tragikomik in so ausgepraegter Weise eine eigene Dimension verleiht.


    Herzlich,
    Charlie

  • Selten habe ich ein Buch gelesen, dass so ausgezeichnet die interpersonellen Beziehungen einer Familie sowie die intrapersonellen Konflikte der Protagonisten zeichnet. Und auf einem höherem Layer, scheinbar aus dem off wird dem Leser Gesellschaftskritik per excellence um die Ohren gehauen! Zweifellos ist der Autor ein kleines Genie, denn das, was er wie tut, beherrschen nur wenige Kunstschreiber.


    Doch manchmal hatte ich den Eindruck, Franzen suhle sich im Dreck des Schmutzes, des Menschlich-allzu Menschlichen. Die Charaktere, so liebevoll sie gezeichnet sind, offenbaren in sich zu viel Schatten und viel zu wenig Sonne!


    Zudem fehlt mir das große Thema als Verpackung der Charakterstudien - die Geschichterln um das neue Heilmittel, das Kreuzfahrtunglück und Chip's Episode in Litauen, so schön sie auch sein mögen, für ein Kunstwerk mit 780 Seiten war das ein bisserl wenig. Manchmal hätte sich der Autor auch ein wenig kürzer fassen können. Dennoch, wer Familienromane liebt, der wird sehr gut unterhalten.

  • Meine Meinung:


    Je besser ein Buch ist, desto schwerer ist es, darüber zu schreiben. Ein Verriss ist einfach, weil man sich entspannen darf - warum sollte eine Kritik besser sein müssen als ihre Vorlage? In dieser Hinsicht ist es ein ausgewachsener Alptraum, Jonathan Franzens "Korrekturen" zu rezensieren. Anstatt das Inhaltliche wiederzukäuen, das unzählige pflichtbesonnener Kritiker schon minuziös aufgezählt haben -macht ja auch Spaß-, fliehe ich mich deshalb feige in die Subjektivität und begnüge mich damit, offenzulegen, was ich an fatalistischen (und ja, peinlichen) Befindlichkeiten durchlebt habe, während ich die "Korrekturen" las. In der Reihenfolge ihrer Häufigkeit sind das absteigend:


    1.) Habe ich jemals ein besseres Buch gelesen, oder besser ausgedrückt, kann überhaupt ein besseres Buch geschrieben werden als dieses? Wie ist es möglich, dass jemand einfach so viel besser schreiben kann als ich es jemals könnte? Und: woher weiß der Mann so viel über alles - ich meine, alles?
    2.) Wie konnte Bettina Abarbanell bei der Übersetzung dieser linguistischen Kathedrale -ja, das darf pathetisch klingen- vor Ehrfurcht auch nur ein einziger Absatz gelingen, geschweige denn das ganze Buch, und das auch noch so gut, dass man die Genialität, mit der Franzen in einem Dreiwortsatz fünfzehn Andeutungen unterbringt, scheinbar ungefiltert genießen (und sich von ihr quälen lassen) kann?
    3.) Stimmt etwas nicht mit mir, wenn ich nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann, weil ich mich gezwungen fühle, die Lebensfehler fiktiver Romanfiguren kraft meiner Phantasie korrigieren zu wollen?


    Wobei wir beim Thema des Buches wären, mit dem uns der Buchtitel so wunderbar subtextlos anspuckt. Wo er in der Vergangenheit am Rand meines Lesehorizonts aufgetaucht war, hatte genau dieser Titel dafür gesorgt, dass das Buch nie in den Fokus rücken durfte - Konnotationen mit sterilen Anwaltsplots oder verkopftem Professorengesülze* hielten es davon ab. Die Tatsache, dass es von der Kritik ehrfürchtig behandelt wurde, bestärkte mich in letzterer Version. So viel zum Thema Vorurteile. Bei den Korrekturen in den "Korrekturen" geht es weder um Akten noch um Seminararbeiten, sondern um das verzweifelte, ironische, schmerzhafte und vor allem vergebliche Ringen mit einem Haufen Unrecht, das Familienoberhaupt Alfred Lambert seiner Frau und seinen drei Kindern in Form eines hyperkonservativen "Broken Home"-Alptraums beschert. Franzen schildert gnadenlos scharfsichtig, wie die erwachsenen Kinder der Lamberts die unwiederrufbaren Traumata ihrer beschädigten Kindheit im prüden Mittelwesten Amerikas in pathologischen Beziehungen und Lebensentwürfen umzukehren zu versuchen. Das, und ganz beiläufig noch tausend Kunstgriffe mehr, schafft Franzen so wahnsinnig weltläufig, psychologisch brilliant (ich möchte ihn NICHT als Therapeuten haben, bekäme Angst vor mir selbst), durchgehend spannend und trotzdem nicht unversöhnlich, dass einem das Buch am Ende realer erscheint als das Spätherbstwetter draußen. Unfassbar, der Typ.


    Ihr findet diese und weitere Rezensionen von mir übrigens auch auf meinem kleinen Bücherblog, unter http://lehrzeilen.blogspot.de/.


    Wie findet ihr "Die Korrekturen"?


    Beste Grüße!
    Jean

  • Oje, dachte ich mir zuerst, als die Korrekturen per Post kamen. Ist das dick! 784 Seiten! Eines meiner liebsten Vorurteile ist nämlich, dass zeitgenössische US-amerikanische Autoren zu viel schwafeln. Ich meine richtig schwafeln, indem sie meinen, auch die allerbanalsten und unwichtigsten Dinge in epischer Breite vor einem ausbreiten zu müssen.


    Aber dann habe ich angefangen zu lesen. Teilweise ist es tatsächlich so, dass einige Passagen m.E. gewisse Längen haben. Dann denke ich: jetzt komm endlich auf den Punkt, Franzen. Aber eigentlich ist das nicht so wichtig, denn dieses Buch ist wunderbar. Fast unmerklich baut sich allmählich eine Spannung auf, die daraus resultiert, dass man meint, mit dieser Familie am Tisch zu sitzen. Diese Absurditäten, diese Entbehrungen, vor allem von Frau Lambert, die haben etwas Berührendes und Zeitloses. Ja verdammt, so ist das Leben, mag man da zum Ende hin beinahe sagen.


    Lg Helmut

  • Zitat

    Original von DraperDoyle
    Ich habe übrigens diese Ausgabe gelesen, klein, kompakt, mit bibeldünnen Seiten. Das Buch selbst ist schon ein Handschmeichler


    Die Ausgabe hätte ich mir mal besser auch zulegen sollen; mit meinem fast 900 Gramm schweren Klotz habe ich mir keinen Gefallen getan und es hat die Lesefreude auch immer ein bisschen geschmälert.


    Nun habe ich fast zwei Wochen mit den Lamberts verbracht und ich werde sie bestimmt vermissen.
    Man bekommt doch ziemlich tiefe, intime Einblicke hinter die Fassade einer komplexen Familie und die Geschichte der einzelnen Mitglieder.


    Letztendlich müssen sie alle an ihren Aufgaben scheitern oder wachsen, auf jeden Fall aber erwachsen werden.
    Das macht Spaß es mitzuerlesen, aber die oftmals erwähnten Längen haben mich schon auch ziemlich gestört.


    8 Punkte gibt es von mir für geniale Schlüsselsätze und zwischendurch sehr flüssig geschriebene Passagen.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“