Angeblich ist das ein Wendezeit-Roman. Ich kann mich aber des
Verdachts nicht erwehren, dass der 9. November 1999 als Tag der
Handlung nur gewählt wurde, damit über den zeitgeschichtlichen Rahmen
ein Bedeutungskontext hineininterpretiert werden kann, den das Buch in
Wahrheit gar nicht hat.
Es muss irgendwo in Deutschland eine Schreibschule geben, die darauf
besteht, dass Detailgenauigkeit, Faktenreichtum und Akribie bei der
Recherche genügen, um einen guten Roman zu schreiben. Sie genügen
nicht! Und es genügt auch nicht, eine Folge drastischer Szenen in
einen einzigen Tag zu pressen, um atmosphärische Dichte zu
erzeugen. Das hat früher bei Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" nicht
richtig hingehauen, und es funktioniert bei Hettche im neuen
Jahrtausend ebenfalls nicht.
Also gut: Die Mauer ist offen, man kann sich auf den Rücksitz eines
Trabi setzen, dort koitieren und gleichzeitig über die Grenze
fahren. Man kann sich Zigaretten auf der Haut ausdrücken lassen und
dabei an die Heilung von Wunden denken, weil die Grenze ja auch so was
wie eine Wunde gewesen ist. Na und? Da wird dick aufgetragen, und weil
eben doch kein rechter Tiefsinn aufkommen möchte, immer dicker und
dicker. Es klaffen die Wunden, es eskalieren die Exzesse. Das Ganze
ist weder glaubwürdig, noch überzeugend.
Natürlich hat sich da wieder einer extrem viel Mühe gemacht, hat seine
ganze Sprachgewalt bemüht, hat genau recherchiert, an den Sätzen
gefeilt. Er kann schreiben, der Hettche, und er kann denken, nur
kriegt er leider beides nicht zusammen. Über der Eleganz seiner Sätze
hat er die einfachsten Fragen vergessen: Warum das alles? Warum die
Maueröffnung mit einer klaffenden Wunde vergleichen, und nicht mit
einer heilenden? Das Gegenteil wäre doch näher gelegen, oder? Bestimmt
hat Hettche darauf eine kluge Antwort, und vielleicht steht sie sogar
im Text und ich habe sie nicht gefunden. Sie würde mich nicht
überzeugen, kännte ich sie, denn das Buch als solches überzeugt mich
einfach nicht.
Seit Joyce' Ulysses gibt es immer wieder Autoren, die sich der
Herausforderung stellen, die darin besteht, die Handlung eines Romans
auf einen einzigen Tag zu konzentrieren. Der schon erwähnte Koeppen
hat das vor Jahrzehnten getan, und es ist intellektualisierendes
Epigonentum dabei herausgekommen. Zeitschmerz in feinstem
Romandeutsch. Genau daran ist auch Hettche gescheitert: Am seinem
klugen Kopf, an seinem literarischen Feinsinn, mit dem er seine wilden
SM-Szenen nicht adelt, sondern ihnen das Leben entzieht. Sie sind
nämlich nicht lebendig, sondern papieren. Das bisschen Glaubwürdigkeit
ist im Bedeutungswust und im Faktenwahn verloren gegangen.
Ich wünsche mir wirklich, Hettche hätte ein wenig schlechter
recherchiert und seine Sätze etwas gröber gelassen. Dann hätte er
vielleicht mal Zeit und Muße gehabt, einen Schritt zurückzutreten und
seinen Text platt und glatt gegen die Wirklichkeit zu halten. Er wäre
dann unter Umständen sogar auf die Idee gekommen, die Lupe mal
wegzulegen und mit seinen gesunden Augen hinzusehen. Dann hätte er
sich gesagt: "Schreib doch bitte entweder eine SM-Geschichte, oder
einen Wenderoman. Aber nicht beides gleichzeitig, das kriegst du
nämlich nicht zusammen. Du nicht!"