Thomas Hettche: Nox

  • Angeblich ist das ein Wendezeit-Roman. Ich kann mich aber des
    Verdachts nicht erwehren, dass der 9. November 1999 als Tag der
    Handlung nur gewählt wurde, damit über den zeitgeschichtlichen Rahmen
    ein Bedeutungskontext hineininterpretiert werden kann, den das Buch in
    Wahrheit gar nicht hat.


    Es muss irgendwo in Deutschland eine Schreibschule geben, die darauf
    besteht, dass Detailgenauigkeit, Faktenreichtum und Akribie bei der
    Recherche genügen, um einen guten Roman zu schreiben. Sie genügen
    nicht! Und es genügt auch nicht, eine Folge drastischer Szenen in
    einen einzigen Tag zu pressen, um atmosphärische Dichte zu
    erzeugen. Das hat früher bei Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" nicht
    richtig hingehauen, und es funktioniert bei Hettche im neuen
    Jahrtausend ebenfalls nicht.



    Also gut: Die Mauer ist offen, man kann sich auf den Rücksitz eines
    Trabi setzen, dort koitieren und gleichzeitig über die Grenze
    fahren. Man kann sich Zigaretten auf der Haut ausdrücken lassen und
    dabei an die Heilung von Wunden denken, weil die Grenze ja auch so was
    wie eine Wunde gewesen ist. Na und? Da wird dick aufgetragen, und weil
    eben doch kein rechter Tiefsinn aufkommen möchte, immer dicker und
    dicker. Es klaffen die Wunden, es eskalieren die Exzesse. Das Ganze
    ist weder glaubwürdig, noch überzeugend.



    Natürlich hat sich da wieder einer extrem viel Mühe gemacht, hat seine
    ganze Sprachgewalt bemüht, hat genau recherchiert, an den Sätzen
    gefeilt. Er kann schreiben, der Hettche, und er kann denken, nur
    kriegt er leider beides nicht zusammen. Über der Eleganz seiner Sätze
    hat er die einfachsten Fragen vergessen: Warum das alles? Warum die
    Maueröffnung mit einer klaffenden Wunde vergleichen, und nicht mit
    einer heilenden? Das Gegenteil wäre doch näher gelegen, oder? Bestimmt
    hat Hettche darauf eine kluge Antwort, und vielleicht steht sie sogar
    im Text und ich habe sie nicht gefunden. Sie würde mich nicht
    überzeugen, kännte ich sie, denn das Buch als solches überzeugt mich
    einfach nicht.


    Seit Joyce' Ulysses gibt es immer wieder Autoren, die sich der
    Herausforderung stellen, die darin besteht, die Handlung eines Romans
    auf einen einzigen Tag zu konzentrieren. Der schon erwähnte Koeppen
    hat das vor Jahrzehnten getan, und es ist intellektualisierendes
    Epigonentum dabei herausgekommen. Zeitschmerz in feinstem
    Romandeutsch. Genau daran ist auch Hettche gescheitert: Am seinem
    klugen Kopf, an seinem literarischen Feinsinn, mit dem er seine wilden
    SM-Szenen nicht adelt, sondern ihnen das Leben entzieht. Sie sind
    nämlich nicht lebendig, sondern papieren. Das bisschen Glaubwürdigkeit
    ist im Bedeutungswust und im Faktenwahn verloren gegangen.



    Ich wünsche mir wirklich, Hettche hätte ein wenig schlechter
    recherchiert und seine Sätze etwas gröber gelassen. Dann hätte er
    vielleicht mal Zeit und Muße gehabt, einen Schritt zurückzutreten und
    seinen Text platt und glatt gegen die Wirklichkeit zu halten. Er wäre
    dann unter Umständen sogar auf die Idee gekommen, die Lupe mal
    wegzulegen und mit seinen gesunden Augen hinzusehen. Dann hätte er
    sich gesagt: "Schreib doch bitte entweder eine SM-Geschichte, oder
    einen Wenderoman. Aber nicht beides gleichzeitig, das kriegst du
    nämlich nicht zusammen. Du nicht!"