'Herzfresser' - Seiten 99 - Ende

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  • Mir hat das Buch sehr gefallen. Eine bewegende Geschichte die in einer Zeit spielt, die noch garnicht so lange her ist. Durch gut recherierte Eindrücke der damaligen Nachkriegszeit kann man sich direkt in die Zeit hineinlessen. Marie mit ihrer Angst, innere Zerrissenheit, Krankeit, aber auch Lichtblicke wie sich einen neuen Namen zu geben und neue Wege zu gehen lassen die Progatonistin sehr glaubwürdig erscheinen.
    Ich finde Monika Detering hat die Stimmung für diese Geschichte richtig eingefangen und ergreifend geschrieben, allerdings nicht zu erdrückend geschildert - was auch gut so ist. :-]

  • Hallo!
    Ich gebs zu - ich gehöre zu jenen, die in alle Bücher was reinmalen. Ich streiche mir schöne Sätze an und habe im "Herzfresser" einen wunderbaren Satz gefunden, der für sich gesehen schön ist, der aber auch - irgendwie - das ganze Buch auf den Punkt bringt:


    Seite 171:


    "Seine Augen wirkten, als hätte nie jemand da drinnen gewohnt".


    Schöner Satz. Einfach nur schön.
    :wave Silke

  • So, dann will ich mal versuchen, meine Eindrücke in Worte zu fassen.


    Was mir dieses Buch so lesenswert gemacht hat, war zum einen der anspruchsvolle Stil (diese sparsame Art, Geschichten zu erzählen, liegt mir sehr), zum anderen der Umgang mit dem Thema "sexueller Missbrauch". Aus einer gesunden Distanz heraus erzählt Monika Detering die schockierende Geschichte von Marie. Was bei anderen zu Betroffenheits- und (Selbst)Erfahrungsgeschreibsel wird, formt sie zu Literatur.


    Mit wenigen Sätzen werden hier klare und berührende Bilder erzeugt, entsteht ein Bild von engem 50er Jahre-Spießertum, von bescheidenem Wohlstand und einem klaren Moralkodex, der wenigstens nach Außen gewahrt wird. Angesichts der Rechte und Möglichkeiten, die Frauen zu dieser Zeit hatten, ist man doch gleich wieder dankbar, dass es Alice Schwarzer und ihre Freundinnen gegeben hat und immer noch gibt - auch wenn sie aus unserer heutigen Sicht der Dinge manchmal vollkommen überzogen und verbissen agieren...


    Maries Mutter wirkt auf mich nicht lieblos. Sie ist einfach hoffnungslos überfordert mit ihrer Situation, allein mit zwei heranwachsenden Töchtern, berufstätig, ohne Mann und das Geld reicht nie aus. Ich denke, sie hat von dem Missbrauch an ihrer Tochter tatsächlich nichts geahnt. Viele Täter suchen sich Partner, die an dieser Stelle einen "blinden Fleck" haben und aufgrund eigener Verdrängung das Offensichtliche nicht bemerken.


    Dass Marie von mehreren Tätern misshandelt wird, ist keineswegs ungewöhnlich. Täter werden ja meistens zu solchen, weil sie selbst einst Opfer waren. Oft gibt es zu einem missbrauchenden Vater also auch einen Vater oder Bruder des Vaters, der von ähnlichen Motiven getrieben wird. Und wenn sich der missbrauchende Vater dann auch noch ein "Opfer" zur Frau genommen hat, was ja häufig vorkommt, hat diese möglicherweise auch noch genügend Päderasten in der Verwandtschaft, wie das wohl auch bei Marie der Fall war.


    Auch die Namensänderung ist für mich ein klarer Fall: Es kommt der Tag, an dem Marie mit dem Menschen, dem das alles widerfahren ist, nichts mehr zu tun haben möchte. Sie will eine zweite Chance.


    Ich musste übrigens gar nicht spekulieren, für mich blieb nichts ungeklärt - aber das mag daran liegen, dass ich mich schon einmal mit diesem komplizierten Thema auseinandergesetzt habe (habe vor einigen Jahren ein Soz-Päd-Studium abgebrochen). Mag schon sein, dass die Geschehnisse undurchsichtig bleiben, wenn man völlig unvoreingenommen ist.


    Übrigens ist es für betroffene Kinder und Jugendliche nicht nur in den 50er Jahren schwer gewesen, sich Hilfe zu holen. Auch wenn es Hilfsorganisationen gibt, stehen die Opfer doch nach wie vor vor dem Dilemma, dass sie ihren eigenen Vater, Opa, Onkel... anzeigen, vor Gericht gegen ihn aussagen und ihn schlussendlich in den Knast bringen müssten. JEDES Kind liebt seine Eltern und tun sie noch so furchtbare Dinge, sogar Marie, deren Vater kaum in Erscheinung tritt, ist hin- und hergerissen zwischen Loyalität und Hass. Und welches Kind möchte schon lieber in einem Heim leben als bei seinen Eltern? Oft fühlen Kinder, die stark vernachlässigt und misshandelt werden, sich nur zu Hause einigermaßen zu Hause, weil sie mit "normalen" Situationen gar nicht mehr zurecht kommen.


    Dieser Roman ging mir stellenweise so unter die Haut, dass es schwer auszuhalten war. Als besonders schlimm empfand ich den Missbrauch durch den Onkel und die Ausweglosigkeit dieser Situation, die lieblose Hochzeit und Ehe mit Hans und schließlich das Verhalten von Thomas, dem Fotografen.


    Sehr beeindruckend demonstriert die Autorin, welche nachhaltigen Auswirkungen sexueller Missbrauch auf das ganze Leben hat und wie schwierig es für die Betroffenen ist, mit solchen Erlebnissen zu leben und sie zu verarbeiten. Danke für dieses schöne Buch, Monde. Es wird nicht das letzte sein, das ich von dir gelesen habe!

    Ich habe keine Lösung, aber ich bewundere das Problem.

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  • Liebe Waldfee,


    mit Deiner Meinung und Zusammenfassung hast Du einen großartigen Schluss zu dieser Leserunde gegeben.
    Ich bedanke mich bei Dir und allen anderen Teilnehmern, die ihr Feedback zum Herzfresser auf unterschiedliche Weise gaben und dadurch eine äußerst spannende Diskussion zum Thema, zum Stil für einige Tage ins Leben riefen.




    :wave, monde

  • Gestern habe ich "Herzfresser" also ausgelesen.


    Ich bin ein wenig zwiegespalten. Zum einen ist es nicht wirklich die Art Buch die ich normalerweise lese und an den Schreibstil hab ich mich bis zum Schluß nicht richtig gewöhnt. Zum anderen hinderte die Distanz zur Figur mich über weite Strecken des zweiten Teiles daran, mich wirklich in sie hineinversetzen zu können und so etwas wie Mitleid zu empfinden.


    Mag auch daran liegen, dass das Elend bei Marie kein Ende zu nehmen schien, irgendwann hab ich von Seite zu Seite nur noch drauf gewartet, welche Katastrophe jetzt wohl als nächstes passiert. Dass sie sofort schwanger werden würde war irgendwie vorauszusehen, die missglückte Abtreibung / Selbstmordversuch und die gezwungene Heirat eigentlich auch. Aber dann schmeißt der Mann ständig den Job hin, hat Affären ohne Ende und der einzige plötzlich auftauchende Lichtblick in ihrem Leben (Lichtblau) taucht nur ganz kurz auf um fast unmittelbar wieder zu verschwinden. Sie trennt sich von ihrem Mann (viel zu spät aber immerhin) und lernt Thomas kennen. Der ihrer aber schon nach kurzer Zeit wieder überdrüssig ist weil er keine "Psychokrüppel" mag (und das formuliert er wirklich SEHR deutlich). Ich frage mich, ob es Absicht ist, dass die ganze Geschichte so deprimierend geschrieben ist und positive Stellen innerhalb weniger Seiten, manchmal sogar nur Sätzen, untergehen. Erst ganz zum Schluß, mit der Namensänderung, dem Abbruch zur Vergangenheit und dem gleichzeitigen Versuch diese zu bewältigen scheint so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Trotzdem hinterlässt das Buch einen ziemlich deprimierenden Gesamteindruck auf mich.


    Zum anderen fand ich z.B. die Schilderung der Panikattacken, das Schneiden etc., sehr glaubhaft und erschütternd beschrieben, ich hab eine Freundin die das alles durchmacht, da kann ich zumindest als Beobachter mitreden. Die indirekte Darstellung der Missbrauchsszenen (indem nur das geschildert wird woran Marie sich im Selbstschutz noch erinnern kann) war ein sehr gutes Stilmittel und machte es meiner Meinung nach noch eindringlicher als wenn alles genau ins Detail beschrieben worden wäre, hier also hat der sparsame Erzählstil für mich gepasst. Die Wiederbegegnung mit dem Vater fand ich ebenfalls eine gute Stelle, über die ich mich auch entsprechend aufregen musste. Sie hat immer darauf gewartet mal mit ihrem Vater zu reden (vielleicht sogar, dass er sich entschuldigt und bereut) und dann hat der Mistkerl einfach Demenz (was Maries geistigem Zustand ja fast schon vorzuziehen ist) und ist somit von jeder Erinnerung und Schuld (zumindest in seinem eigenen Gewissen) entbunden. Das ist wirklich nicht fair. Ich glaub ich hätte den Kerl die Treppe runterstossen und nicht auch noch geführt.


    Vermutlich ist das mein ganzes Hauptproblem mit dem Buch. Ich kann in den wenigsten Fällen nachvollziehen, warum Marie handelt wie sie handelt und die sparsamen Erklärungen tragen auch nicht dazu bei, dass sich das ändert. Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass sie sich mal mit irgendjemandem ausspricht, ich frage mich die ganze Zeit, was ist mit Hanne? Es kann doch nicht sein, dass Opa, Vater und Onkel Marie vergewaltigen und Hanne passiert gar nichts? Warum hat Marie nicht einfach mal versucht vorsichtig mit Hanne darüber zu reden?


    Eine Frage hätte ich ja noch (falls monde noch manchmal reinliest): Was ist das Ziel dieses Buches? Soll damit das Thema zur Diskussion angeregt werden? Sollen betroffene Frauen ermutigt werden sich zu wehren? Wobei ich fast nicht glaube, dass die solche Bücher überhaupt lesen. Zumindest weiß ich von meiner Freundin, dass sie keine Bücher lesen will in der etwas über ihre psychische Erkrankung steht, weil ihr das Angst macht. Ähnlich könnte es Missbrauchsopfern auch gehen, denke ich.


    Für Menschen die sich mit diesem Thema befassen und schon einige Vorkenntnisse gesammelt haben mit Sicherheit ein interessantes Buch. Ich bin vermutlich sowohl für den sprachlichen Stil als auch für das Thema nicht die richtige Zielgruppe.

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Liebe Paradise Lost,


    was ist schon fair? Deine Zwiespältigkeit weiß von heftigen Reaktionen, du empfindest Wut und du hättest anders reagiert- ein Indiz, dass dich der Herzfresser trotz teilweiser Abwehr in die Geschichte Maries hineingezogen hat. Gefühle sind hinterhältig, so auch in der von dir besonders benannten Stelle der väterlichen Demenz. Ja, du hättest- Marie aber nicht- und implizierte Schuld, Hass, Zorn und auch Liebe liegen in dieser Figur dicht beieinander.


    Ziel des Buches? Dass es möglich ist, aus solch einer Geschichte auszusteigen und ein anderes Leben zu beginnen. Traumatisierte fühlen, leben und denken anders.
    Herzfresser hat keinen Betroffenheitsstatus, (bloß nicht) sondern ist ein Roman über die Nachkriegszeit, über Marie, dem missbrauchten Mädchen, dass erst in späten Jahren seinem Leben die Wende gibt durch die Möglichkeit des Verzeihens.


    Grüße von monde