Überlegungen zum Stichwort Selbstbestimmung

  • Als protestantischer Pfarrer hast du doch auch Bultmann gelesen.
    Würdest du nicht sagen, dass Selbstbestimmung die Grundlage eines christlichen Lebens ist?
    Ich spiele auf die Sache an, dass in der eigenen Entscheidung, sein Leben G*tt zu widmen, der Mensch erst frei in seinem Willen wird, bzw. erst zu seinem eigentlichen Willen kommt.


    Mit scheint, wenn ich dich so lese, dass du auf etwas anderes abzielst, ohne dies (noch) genau benennen zu können. Redest du vielleicht eher von dem zeitgenössischen Fehlverständnis von "Freiheit" und /oder "Selbstverwirklichung"?

  • Nachtrag:
    Selbstbestimmung ist für mich elementares Menschenrecht.
    Es geht einher mit Selbstverantwortung.
    Dies ist für mich notwendige (wenngleich nicht hinreichende) Bedingung für einen sozial-freiheitlichen Umgang mit anderen Menschen.
    Sozial und freiheitlich sind doch keine Gegensätze.


    Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.


    Oder wie Kant sinngemäß meinte:
    Der Mensch kann sich selbst Ziele setzen.
    Er ist also Zweck an sich selbst.
    Daher darf er nur als sein eigener Zweck, nie als ein Mittel eines anderen betrachtet werden.


    Selbstbestimmung heißt nicht, zu tun, was einem gerade mal so in den Sinn kommt, keine reine Verlangensumsetzung. Es geht darum, herauszufinden, was gut ist.
    Und wieder Kant:
    "Ich kann, weil ich will, was ich muss."
    Heißt nichts anderes, als dass ich selbst -aus meiner eigenen Einsicht heraus- moralisch richtig gegenüber mir und anderen handeln kann.
    Dies ist kein moralischer Relativismus, sondern das Postulat, dass moralische Grundgesetze für jeden Menschen einsehbar sind. Und weil sie das sind, sind sie auch richtig und allgemein. Denn wie könnte ich nach etwas handeln, dass ich erstens nicht verstehe/einsehen kann, oder wie könnte es zweitens dann richtig/für alle gültig sein...

  • Zitat

    Original von Waldlaeufer
    Als protestantischer Pfarrer hast du doch auch Bultmann gelesen.
    Würdest du nicht sagen, dass Selbstbestimmung die Grundlage eines christlichen Lebens ist?
    Ich spiele auf die Sache an, dass in der eigenen Entscheidung, sein Leben G*tt zu widmen, der Mensch erst frei in seinem Willen wird, bzw. erst zu seinem eigentlichen Willen kommt.


    Bultmann ist zu widersprechen. Wenn das so stimmte, würde Herr Feuerbach seine Kritik bestens bestätigt sehen: Gott würde reines Konstrukt menschlichen Geistes. Das deshalb, weil er seine Wirksamkeit erst entfalten kann, wenn der Mensch es durch seine Entscheidung ermöglicht. Eine solche Abhängigkeit wäre absurd zu denken.
    Vielmehr würde ich (leicht übertrieben antithetisch) eher von einer Fremdbestimmung reden. Die Theologie kennt dafür die Lehre von der Vorherbestimmung. Das ist auch nicht rasend glücklich formuliert. Mir sagen eher die Formulierungen zu, die von einer liebenden dem Menschen zugewandten Souveränität Gottes Sprechen. Von daher bekommt der Mensch seine Bestimmung: Die Radikale Mitmenschlichkeit Gottes verdeutlicht diese Bestimmung des Menschen: Mitmenschlichtkeit, Gemeinschaft, wechselseitige Abhängigkeit der Menschen, Sozialsinn.


    Daß heute die Begriffe Freiheit und Selbstverwirklichung völlig gegen den Strich gebürstet und völlig Egoistisch verdreht werden, ist da eher ein Symptom. Ich bin geneigt, das auch mit dem Begriff der Rücksichstlosigkeit zu bezeichnen. (Ich werde mittlerweile schon fast aggressiv, wenn ich in der Bahn sitze und die Trommeln des Typen drei Reihen vor mir sitzend ertragen muss. - Und richtig ärgerlich werde ich, wenn man mir dann sagt: setzen sie sich doch weg!)


    Worum es mir mit den Thesen geht, ist möglicherweise mehr:
    - Der Hinweis darauf, dass der Mensch nur im Sozialen Miteinander sinnvoll auskommen kann.
    - Der Hinweis darauf, daß es weder eine Schade noch von Übel ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
    - Gerade auch im Alter und bei Pflegefällen: Ein unbedingtes JA zu Würde und Selbstachtung der Menschen, aber ein großes Fragezeichen hinter dem Ziel der Selbstbestimmung um jeden Preis. Denn ist ist möglicherweise und in einzelnen Fällen ganz massiv zu bezweifeln ob das Ziel der Würde überhaupt mit dem der Selbstbestimmung vereibar ist.
    - Der Hinweis darauf, daß der Begriff Selbstbestimmung schlicht eine Illusion ist. Es geht schlicht und ergreifend gar nicht, was er suggeriert. Keiner kann unabhängig von anderen bestimmen, was für sie oder ihn gelten soll.


    Freiheit wird dann erst recht gedeihen können, wo wir von unserer erträumten Autarkie abrücken und die Freiheit der anderen und anders denkenden mit in den Blick nehmen.
    Dass es innerhalb dieses Rahmens auch ein gewisses Quantum Selbstbestimmung gibt und geben muss, ist dann eine zweite Frage.

  • Zitat

    Original von licht


    Ich möchte fragen, ob wir uns nicht sinnvoller als Teile sozialer Gefüge wahrnehmen sollten, statt als Individuen, die ihre individuellen Freiheiten, Bedürfnisse, Wünsche und Interessen zum leitenden Maßstab ihres Handelns machen.


    Ich denke nicht, daß es so etwas wie "individuelle Freiheiten" gibt - Freiheit ist immer Freiheit, also das Gegenteil von Zwang oder Fremdbestimmung. Und damit löst sich die Frage nach der Selbstbestimmung von alleine: "Selbst-bestimmung" als Gegensatz zu Fremdbestimmung ist nichts weiter als ein neumodisches Wort für "Freiheit". Und Freiheit ist sehr wohl gottgewollt - schon seit dem Auszug der Israelis aus der ägyptischen Sklaverei.

  • Zitat

    Original von licht
    Bultmann ist zu widersprechen. Wenn das so stimmte, würde Herr Feuerbach seine Kritik bestens bestätigt sehen: Gott würde reines Konstrukt menschlichen Geistes. Das deshalb, weil er seine Wirksamkeit erst entfalten kann, wenn der Mensch es durch seine Entscheidung ermöglicht. Eine solche Abhängigkeit wäre absurd zu denken.


    Weshalb wäre eine logisch-rationale Konzeption eines Gottes zwangsläufig absurd? Nur weil etwas prinzipiell als reines Konstrukt im menschlichen Verstand funktioniert, bedeutet dies nicht, dass es nicht doch etwas gibt, dass diesem Begriff in seiner Bedeutung entspricht.
    Gerade die christliche Tradition legt doch so viel Wert auf den logos.

  • Ein Gott, der "nur" erdacht wäre, wäre ein Gedicht, ein armes Würstchen. Wenn der Gottesgedanke für mich eine überzeugungskraft hat, dann der der völligen Freiheit und Souveränität: Selbstbestimmt im Vollsinn des Wortes. Dazu gehört eben auch die Unfassbarkeit und logischerweise eben auch, daß Gott nicht ein Geschöpf menschlichen Geistes sein kann.


    Es hat sicher stark platonsichen Einfluß, wenn man unsern faible für den Logos und die Logik und den Gebrauch der Ratio (seit Anselm: fides quaerens intellectum) mit Joh. 1 in Verbindung bringt. Aber der wahre Logos ist der, der Gott ist.

  • Zitat

    Original von licht
    Ein Gott, der "nur" erdacht wäre, wäre ein Gedicht, ein armes Würstchen. Wenn der Gottesgedanke für mich eine überzeugungskraft hat, dann der der völligen Freiheit und Souveränität: Selbstbestimmt im Vollsinn des Wortes. Dazu gehört eben auch die Unfassbarkeit und logischerweise eben auch, daß Gott nicht ein Geschöpf menschlichen Geistes sein kann.


    Das Denken des Menschen "erschafft" im religiösen Sinne auch nicht Gott.
    Das ist mir klar. Da setzt eben der Glaube neben dem Denken an.
    Gott ist aber durch das Denken der Menschen, durch den logos, für den (gläubigen) Menschen erfahrbar.
    Nicht hinreichend, sicherlich - aber erfahrbar.
    Will heißen: Ein Gott, der nicht denkbar wäre, könnte auch nicht im Glauben des Menschen wohnen.

  • Zitat

    Original von Waldlaeufer
    Will heißen: Ein Gott, der nicht denkbar wäre, könnte auch nicht im Glauben des Menschen wohnen.


    völlig deiner Meinung, auch wenn Gotteserkenntnis nur durch das denken auch unzureichend beschrieben ist, wie wir ja auch übereinstimmend sagen.


    Nur: gerade dieser Dein Satz zeigt an, was ich meine: Der Gott, der wie auch immer im Glauben des Menschen wohnt, der bestimmt den Menschen und sein Leben ... Die Gotteserkenntnis und der damit einhergehende Glaube sind wesentlich dadurch gekennzeichnen, dass der Mensch sich dadurch bestimmt sein läßt.
    Dazu fügt sich ganz sinnfällig das Sakrament der Taufe, dass eben auch ganz deutlich als Übereignung des Menschen an Gott zu verstehen ist.

  • Zitat

    Original von licht
    Die Gotteserkenntnis und der damit einhergehende Glaube sind wesentlich dadurch gekennzeichnen, dass der Mensch sich dadurch bestimmt sein läßt.
    (...)
    Dazu fügt sich ganz sinnfällig das Sakrament der Taufe, dass eben auch ganz deutlich als Übereignung des Menschen an Gott zu verstehen ist.


    Und was daran widerspricht Bultmann?
    Es geht doch um die selbst gewählte, selbst bestimmte Entscheidung, sich dem göttlichen Willen zu ergeben (und damit erst zu seinem eigentlichen Willensakt zu kommen).
    Du sagst es doch selbst: Der Mensch lässt sich bestimmt sein.
    Er wird nicht einfach (in dieser Hinsicht) bestimmt, sondern muss es zulassen.

  • Die Frage nach Henne und Ei ist hier in allen Fällen ganz klar zu beantworten. Ich zitiere mal: "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe Euch erwählt." (Joh 15, 16).


    Alle Gotteserkenntnis und alles, was dann richtigerweise draus folgt ist erst dadurch möglich, dass Gott sich zu erkennen gibt. Und dass er sich uns zu erkennen gibt, und dass er uns dazu befähigt, ihn zu erkennen. Damit ist es mit Bultmann recht kalte Asche bzw. wird zu einer hermeneutischen Platitüde. Denn selbst gewählt, ist nach dieser Denkweise nichts und noch weniger ist selbst bestimmt.


    ich weiss schon, dass es seit der Aufklärung gerade in Berlin eine Strömung evangelischer Theologie gibt, die möglicherweise sogar ein religiöses Apriori, eine spezifische Disposition im Menschen erkannt zu haben meint. Und dass die Herren im Gefolge von Schleiermacher zu der Bultmannthese neigen. Das macht die Theorie aber für mich nicht unbedingt besser. ;)

  • Gott hat sich durch den so gearteten Schöpfungsakt befähigt, dass der Mensch ihn erkennen kann. Das ist keine Henne und Ei Frage.
    Natürlich war Gott vorher da. Dennoch steht der Mensch in der Entscheidung seinem Wesen gemäß zu handeln oder sich an die Vergänglichkeit zu heften.
    Die aktuelle Zuwendung zu Gott liegt nicht in Gott, sondern im Menschen. Die Erlösung wiederum liegt in Gott.
    (Denn Glaube allein führt noch nicht zur Erlösung).

  • Zitat

    Original von Waldlaeufer


    (Denn Glaube allein führt noch nicht zur Erlösung).


    Eben, und da der mensch sich nicht selbst erlösen kann, spricht man auch in zweifacher Weise von der Schöpfung: da ist die creatio originans, die uranfängliche Schöpfung und da ist die creatio continua, die fortdauernde Schöpfung, die jede Stunde neu entstehen läßt.
    Und genau in diesem Zusammenhang steht die Möglichkeit Gott zu erkennen. Auch das ist ein Geschenk, was je neu werden muss, auch für jemanden, der schon von Klein auf an Gott glaubt.
    Stell Dir vor, Gott ist plötzlich gar nicht mehr zu erkennen, wie Du es gewohnt warst. Nehmen wir Hiob. Er kannte Gott als einen, der ihn bewahrt hat, dessen Regeln man befolgen kann, als einen, der es einem gut gehen läßt. Konnte er Gott hinter den plötzlichen "Schicksalsschlägen" erkennen? Er hat es kaum wahr haben wollen, als ihm dämmerte, was da läuft. Seine Dialoge, in denen er mit Gott ringt sind exemplarisch.
    Diese Situation erlebe ich als Notfallseelsorger bis heute immer wieder ... Die Frage, die so alt ist, wie der Gottesglaube: "Gott, wo bist Du, wenn ich Dich gerade brauche??" ist typisch dafür, dass wir Gott eben nicht in allem erkennen können. (Auch wenn sie weder theologisch noch philosophisch hinereichend die Gründe dafür erklärt!)


    Gott zu erkennen muss - das sollten die Beispiele zeigen - immer wieder neu geschenkt werden.
    darum mein vehementer Einspruch.