Überlegungen zum Stichwort Selbstbestimmung

  • Angeregt, dies hier einzustellen wurde ich durch die Lesereihe zu Peter Pranges Werte - Buch. Aber da ich es (noch) nicht gelesen habe (was sträflich ist - ich weiss), und da die folgenden Thesen auch völlig unabhängig entstanden sind, sollen sie hier ihren Platz finden.
    Vielleicht zuvor noch ein paar Sätze zu ihrer Entstehung und zu ihrem Charakter.
    Verschiedene Wohlfahrtsorganisationen - vermutlich fast alle - führen als Ziel ihrer wichtigen Arbeit in der Pflege von hilfsbedürftigen Menschen die Formulierung: Ermöglichung von Selbstbestimmung als eines der wichtigsten Ziele auf. Jedesmal, wenn ich das lese oder höre, kommt in mir eine Sponatane Abwehrreaktion auf. Ihr bin ich irgendwann in der Badewanne nachgegangen und habe begonnen, Fragen zu formulieren und Thesen aufzustellen.
    Die Thesen und Fragen sind "echte" Thesen und "echte" Fragen. Das soll heissen: Auch wenn die hinter den Worten stehenden Überzeugungen ganz und gar meine sind, bin ich nicht fertig, darüber nachzudenken und bin unsicher, ob ich nicht wesentliche Aspekte übersehen habe... Also ich gewähre in gewisser Weise mit der Veröffentlichung Einblick in meine Denkwerkstatt.
    Es ist vielleicht schließlich sinnvoll, eigens zu erwähnen: Diese Thesen sind meine Thesen und Fragen als eines evangelischen Pfarrers, der in einem bestimmten Umfeld lebt und aufgewachsen ist.


    So, genug der Vorrede:


    Stichworte zum Begriff: „Selbstbestimmtes Leben“


    • Der trügerische Leitsatz der Selbstbestimmtheit heißt: Wer genug Mittel hat, kann sich die Gegebenheiten seinen Wünschen anpassen, wer nicht genug Geld hat, muß die Dinge nehmen, wie sie sind.
    • Der Begriff selbstbestimmt leben taucht in vielen Zielbeschreibungen besonders von Wohlfahrts- und Hilfsorganisationen – meint er da, was er sagt??
    • Vermutlich ist ein Leben gemeint, dass nicht dem Diktat und der Willkür anderer ausgeliefert ist.
    • Der Begriff der Selbstbestimmtheit sagt aber – wörtlich verstanden – etwas ganz anderes: er steht offenbar für die weit verbreitete Sorge: mir muß jemand helfen, ich werde von jemanden abhängig.
    • Ist es im Sinne christlicher Theologie und christlicher Anthropologie, solche Ziele zu formulieren?
    • Wie wäre das Gleichnis [URL=http://www.bibel-online.net/buch/42.lukas/10.html#10,30]Lk 1o [/URL] vom barmherzigen Samariter ausgegangen, wenn sich der unter die Räuber gefallene nicht hätte helfen lassen wollen, sondern lieber selbstbestimmt geblieben wäre?
    • Funktioniert Gerhard Schönes Bild vom Paradies, in dem man sich mit viel zu langen Löffeln gegenseitig füttert immer noch, wenn zwar jeder gern aus Nächstenliebe füttert, aber keiner gefüttert werden will (um der Selbstachtung oder Selbstbestimmung willen)?
    • Ist es im Sinne des Ersten Gebots, überhaupt von einer Art Selbstbestimmung des Menschen zu reden?
    • Ist es überhaupt menschlich, selbstbestimmtes Leben zu erstreben?
    • Wirklich selbstbestimmte Leute kenne ich nur aus dem Film: als die Oberschurken, denen von James Bond das Handwerk gelegt wird. Sie haben genug Mittel, die Gegebenheiten ihren Wünschen anzupassen. Damit verhalten sie sich völlig unsozial.
    • Das Ziel selbstbestimmten Lebens suggeriert die Möglichkeit, unabhängig zu leben.
    • Es verdeckt den Blick auf die tatsächlichen Möglichkeiten, auf die vorhandenen wie auf die nicht vorhandenen.
    • Die Möglichkeit, Hilfe in Anspruch nehmen zu können, ist jedem Menschen zu wünschen.
    • Jeder Mensch ist auf die Hilfe und das Miteinander in einer Gesellschaft angewiesen. Keiner kann allein und nur für sich bestehen.
    • Es scheint mir wesentlich sinnvoller und hilfreicher auf die Chancen des sozialen Beziehungsgeflechtes hinzuweisen, in denen jeder Geber und Empfänger ist, statt das Geben einseitig als das besonders hohe Ziel zu stilisieren, das Empfangen von Hilfe dagegen als minderwertig abzukanzeln.
    • Es bedarf seitens der Kirche einer Begrifflichkeit, die dem gegenwärtigen Trend: „Hoffentlich muß ich nicht einmal jemandes Hilfe in Anspruch nehmen.“ durch positive Formulierungen von Gemeinschaft entgegentritt.
    • Der „Erhalt von Selbstbestimmung“ kann keine solche Formulierung sein, da sie eine Illusion weckt, die (schon für den gesunden Menschen) nie erfüllbar sein kann.
    • Ist es nicht sinnvoller von Anfang an als ehrliches Ziel zu formulieren: Wir wollen mit hilfsbedürftigen Menschen gemeinsam nach Wegen zum Umgang mit ihrer Situation suchen und Unterstützung auf dem Weg anzubieten?
    • Zu klären wäre die Frage, wo der so verführerische und trügerische Begriff der Selbstbestimmtheit herkommt. Der Gedanke der Selbstbestimmung begegnet nach meinem Urteil in der Faustgeschichte im Streben des Genies bzw. in den Angeboten Mephistopheles’.
    • Möglicherweise bietet die Weisheitsliteratur des Alten Testaments bereits Sprüche wie: Ein Tor setzt all seine Hoffnung auf sich, der Weise aber vertraut dem Herrn. (Vgl. [URL=http://www.bibel-online.net/buch/19.psalmen/73.html#73,28]Ps. 73, 28[/URL])
    • Die Erfahrung (und die biblische Gleichnisliteratur) lehrt, daß das Vertrauen auf Gott oft auch die Angewiesenheit auf das Vertrauen auf die Mitmenschen einschließt. ([URL=http://www.bibel-online.net/buch/40.matthaeus/25.html#25,31]Mt 25, 31-46 [/URL] im Umkehrschluß gelesen, Lk 10 u.a.)
    • Es ist möglicherweise einer der genialsten Schachzüge des Teufels, uns mit dem vermeintlich positiven Begriff der Selbstbestimmung zu überlisten.
    • In Wahrheit ist er antisozial, bietet er den Nährboden für Mißtrauen, führt er dazu, daß viele Menschen ihre Kräfte unnötig überfordern („Ich will ja keinem zur Last fallen.“).
    • Im Grunde ist es auch wirtschaftlich kontraproduktiv, wenn wir einander nicht helfen lassen d.h. keine Dienstleistungen abkaufen.
    • Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich froh und dankbar bin, daß keine Rücksicht auf mein Bedürfnis nach Selbstbestimmung genommen wird: Wenn mir jemand (notfalls mit Gewalt) den Autoschlüssel entzieht, damit ich nicht betrunken Auto fahre und möglicherweise zur Gefahr für andere werde. Wenn ich hilflos da liege und über Leben und Sterben nicht entscheiden kann. ...
    • Der Mensch ist doch nur sinnvoll als ein Wesen zu denken, das von Anfang an dafür da ist, sozial zu interagieren („Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht“).
    • Nachfolge Christi ist im Sinne von [URL=http://www.bibel-online.net/buch/40.matthaeus/25.html#25,31]Mt 25, 31-46 [/URL] völlige Mitmenschlichkeit.
    • Ziel einer christlich motivierten Hilfe kann schlechterdings nicht Selbstbestimmheit sein, sondern muß am Ende Hilfe zur Dankbarkeit sein. (Was nichts mit resignativem „so isses halt“ zu tun haben muß.)
    • Das Märchen vom König der das Hemd eines glücklichen Menschen sucht, schildert im Schlusssatz „Der Glückliche hatte gar keins.“ was mit der Dankbarkeit gemeint ist: Glück ist unabhängig von den Kategorien Erfolg, Freiheit, Macht, Geld. Der Glückliche in dem Märchen ist vermutlich nicht selbstbestimmt. Er wird sich sein Los nicht gewählt haben, er hat aber gelernt, sein Leben und das, was ihm geschenkt wird dankbar anzunehmen. Das schließt weder Träume aus noch Ziele, aber das bedeutet eben auch, sich mit Träumen und Zielen und Wünschen in Hoffnung leben zu können.
    • Selbstachtung kann so viel eher gedeihen.

  • Heißt es nicht:


    Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott?


    :-]



    magali, die Selbstbestimmung unabdingbar für ein Menschenrecht hält.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich möchte einige Überlegungen einbringen.


    Eine Entscheidung zu sozialem Leben und, spezieller, zur Gewährung oder Annahme von Hilfe ist nur dann etwas wert, wenn sie freiwillig geschieht, also eine Wahlmöglichkeit besteht. Selbstbestimmung bedeutet nicht, jegliche soziale Interaktion abzulehnen und allein auf einer Insel zu leben, sondern vielmehr, die Wahlmöglichkeit zu haben, ob, mit wem und in welchen Situationen eine soziale Interaktion gewünscht ist. Mutter Theresa beispielsweise hat extrem selbstbestimmt und zugleich mit unglaublicher Nächstenliebe gehandelt, als sie ihren Orden gegründet und über Jahrzehnte geleitet hat. Gleiches gilt für den heiligen Franziskus, der sich (selbstbestimmt) gegen seine Herkunftsfamilie gewandt hat, sämtlichem Reichtum entsagt und als predigender Bettelmönch gelebt hat. An diesen und vielen anderen Beispielen wird deutlich, dass Selbstbestimmung und Materialismus nichts miteinander zu tun haben. Jemand kann sich (selbstbestimmt) sowohl für eine materialistische als auch für eine antimaterialistische Lebenshaltung entscheiden.


    Das Beispiel des Samariter-Gleichnisses möchte ich aufgreifen. Hier geht es um einen Mann, der eine Reise unternimmt. Er möchte von Jericho nach Jerusalem gehen. Dies ist seine Entscheidung (Selbstbestimmung).
    Diese Entscheidung wird nun durch eine Bande Räuber sabotiert, die ihn beinahe umbringt (die Entfaltung seiner Selbstbestimmung wird also von außen gewaltsam unterdrückt).
    Der Helfer, hier also der Samariter, beeinträchtigt nicht die Selbstbestimmung des überfallenen Mannes, da er annehmen darf, in dessen Interesse zu handeln. Vielmehr führt er ihn wieder hin zur Selbstbestimmung, indem er durch die Versorgung der Verletzungen dazu beiträgt, dass dieser wieder Entscheidungen treffen und sie umsetzen kann.


    Selbstbestimmung bedeutet für mich also "Eröffnung von Wahlmöglichkeiten". Das kann, muss aber nicht einen materiellen Aspekt haben.


    Vom (katholisch) christlichen Weltbild her möchte ich noch einige Aspekte aufzeigen:
    - Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Es erscheint mir daher paradox, seine Freiheit beschneiden zu wollen.
    - Im Gleichnis mit den Talenten wird der Mensch aufgefordert, seine Anlagen voll zu entfalten. Da der Mensch auf Gott hin geschaffen ist, bedeutet das eine Wachsen auf Gott hin. Natürlich ist auch ein Missbrauch der Talente möglich (Sünde), dennoch zeigt dieses Gleichnis deutlich, dass eine Entfaltung der Persönlichkeit (hier: Selbstbestimmung) gottgewollt ist
    - "Man kann nicht zwei Herren dienen: Gott und dem Mammon" - das ist beinahe schon ein anarchisches Bekenntnis, da die Gottesbeziehung eine individuelle ist, somit andere Autoritäten relativiert werden. Wenn aber die (individuelle) Gottesbeziehung das Maß aller Dinge ist, so bestimmt der Mensch grundsätzlich unabhängig von anderen Menschen, also selbst -> Selbstbestimmung. Das klingt in der katholischen Theologie auch häufig an, wenn zum Beispiel Papst Johannes Paul II. die Stellung des (persönlichen) Gewissens als ultimative Autorität in allen Fragen anmahnt.


    Ich weiß, hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Theologie, aber da Du zur Diskussion aufrufst, können diese Punkte vielleicht von Interesse sein.

  • danke für die ausführliche Antwort!


    ich entnehme ihr gute Anregungen zum Weiterdenken. Darauf eingehen werde ich dann auch erst, wenn ich das genauer durchdacht habe.
    LG
    Licht

  • @ Bernhard.
    Ich bin nicht so ganz sicher, ob wir über das gleiche reden.


    Zu einigen Punkten mag ich aber doch etwas schreiben:
    Ich bin überzeugt, dass sowohl Mutter Theresa als auch der Hlg. Franziskus (ebenso wie alle mehr oder weniger Heiligen) in der wunderbaren Freiheit der Kinder Gottes gehandelt haben. Dass sie aber ganz sicher nicht von selbstbestimmtem Handeln geredet hätten. Stand da nicht eher die vorbildliche Liebe Gottes im Hintergrund und die Bitte: Tut das gleiche? War da nicht eher eine dienendes Interesse leitend und der Wunsch, Gottes Willen zu tun und sich so von ihm (zur Freiheit) bestimmen zu lassen?




    Kann die Eröffnung von Wahlmöglichkeiten das sein, was wir wollen? Ich kann da nur für mich antworten: ich bin nicht davon überzeugt, daß ich überhaupt etwas für mein Leben wählen kann (ich meine dies in einem sehr grundsätzlichen Sinn.). Ich habe so gut wie keinen Einfluss darauf, was mich begrenzt, was mir für Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Ich bin auch noch nicht sicher, ob ich überhaupt wählen will, wenn ich gar nicht absehen kann, welche Konsequenzen eine Entscheidung beinhaltet.


    Es geht mir mit meinen Thesen nicht im mindesten darum Freiheit zu beschneiden. Vielmehr suche ich Wege, die uns geschenkte Freiheit adäquat zu beschreiben. Freiheit kann ja schlechterdings nicht als: Alles ist erlaubt verstanden werden. Freiheit bleibt immer auch die Freiheit der andersdenkenden. Freiheit ist m.E. aber eben auch keine Autokratie, sondern ein Geschenk, ein Rahmen, eine Ermöglichung zu einem gelingendem Miteinander.
    Wenn wir uns in der Freiheit mit Gott vergleichen wollten (was ja nun doch vielleicht als gewagt gelten darf), sollten wir es aber auch konsequent tun. Und uns anschaun, welche Freiheit Gott für sich gewählt hat (, um uns gleich zu werden.) Ich denke, an dieser Stelle ist jedenfalls Vorsicht angesagt. (Ich verweise gern nochmals auf Mt 25, 31ff., aber noch deutlicher wird es, wenn wir die Passionsgeschichte, oder aber die vergleichsweise niedlich erzählte aber doch drastische Weihnachtsgeschichte lesen.)



    In diesem seine Talente voll auszureizen widerspricht dem Gedanken nicht im mindesten, sondern unterstreicht ihn. Nur ist auch hier die Entfaltung der Gaben nicht zu verwechseln mit dem heute so verbreiteten Gedanken: ich will mich Entfalten und alles, was mich daran hindert ist doof.


    Auf dem Felde katholischer Theologie halte ich mich zurück. Ich bin zwar etwas unsicher, ob angesichts der starken Betonung der Gemeinschaft der Heiligen, die individuelle Gottesbeziehung "das Maß aller Dinge ist", überlasse das Urteil darüber aber getrost komopetenteren. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass dieser Aspekt besonders bei den Pfingstlerisch geprägten Freikirchen beheimatet ist, aber vielleicht ist da mein Wissen auch zu sehr begrenzt.


    LG
    Licht

  • Zitat

    Original von licht
    War da nicht eher eine dienendes Interesse leitend und der Wunsch, Gottes Willen zu tun und sich so von ihm (zur Freiheit) bestimmen zu lassen?


    Das vermute ich auch. Diese Menschen haben sich radikal von ihrem Wunsch leiten lassen - Deine Interpretation, dieser Wunsch sei gewesen, "den Willen Gottes zu tun", ist sicherlich zulässig. Sie haben das freiwillig getan, insbesondere Franziskus hätte auch ein völlig anderes Leben führen können. Das tut er aber nicht - er folgt seinem Wunsch und prägt sein Leben entsprechend. Er tut das sogar ohne Rücksicht auf Verluste - die verstörte Reaktion seiner Familie ist ja überliefert. In meiner Begriffswelt ist das exzessive Selbstbestimmung.


    Zitat

    Original von licht
    Ich kann da nur für mich antworten: ich bin nicht davon überzeugt, daß ich überhaupt etwas für mein Leben wählen kann


    Das würde allerdings die Diskussion zum Thema "Selbstbestimmung" ad absurdum führen, da diese dann nur als Illusion verstanden werden könnte. Das widerspricht allerdings nach meinem Verständnis fundamental dem christlichen Menschenbild, nach dem ein Mensch gewaltige Wahlmöglichkeiten hat. Ansonsten wäre auch der Begriff der Sünde obsolet (wenn ich keine Wahlmöglichkeit, keine Selbstbestimmung, habe, kann ich auch nicht das Falsche/ Böse/ Sündige wählen).


    Zitat

    Original von licht
    Es geht mir mit meinen Thesen nicht im mindesten darum Freiheit zu beschneiden. Vielmehr suche ich Wege, die uns geschenkte Freiheit adäquat zu beschreiben. Freiheit kann ja schlechterdings nicht als: Alles ist erlaubt verstanden werden. Freiheit bleibt immer auch die Freiheit der andersdenkenden. Freiheit ist m.E. aber eben auch keine Autokratie, sondern ein Geschenk, ein Rahmen, eine Ermöglichung zu einem gelingendem Miteinander.


    Hier ist mir der Zusammenhang zum Thema "Selbstbestimmung" nicht klar. Was Du beschreibst, ist in meiner Begriffswelt eher "Isolation". "Selbstbestimmung" bedeutet demgegenüber, dass ich mich für ein Leben in sozialer/ physischer/ moralischer Isolation entscheiden kann. Wenn ich mich dafür entscheiden muss, bin ich nicht mehr selbstbestimmt. Ebenso selbstbestimmt kann ich mich für die "Freiheit der Andersdenkenden" oder ähnliche von Dir angeführte Konzepte entscheiden.


    Zitat

    Original von licht
    Und uns anschaun, welche Freiheit Gott für sich gewählt hat


    Das für mich entscheidende Wort hierbei ist: gewählt. Gott hat gewählt, er war in keiner Weise gezwungen, so zu handeln, wie er es tat.
    Wenn wir mal die Naturgesetze als die Regeln nehmen, die Gott in der Welt verankert hat, dann zeigt dieses Regelwerk erhebliche Freiräume auf. Das ist die Welt, die er für uns (seine Geschöpfe) geschaffen hat. Durch eine andere Definition der Naturgesetze hätte er sündiges Handeln von vornherein unterbinden können. Hat es aber nicht getan. Ist es zu gewagt, darin einen göttlichen Willen zu vermuten, den Menschen so etwas wie Selbstbestimmung zu gewähren ...?

  • "Ebenso selbstbestimmt kann ich mich für die "Freiheit der Andersdenkenden" oder ähnliche von Dir angeführte Konzepte entscheiden."


    -- das möcht ich aber im konfliktfall nicht erleben, wie das ausgeht, wenn da zwei leute genau das für sich in anspruch nehmen wollen und anders denken. dann gibts nämlich beulen. Gerade an dieser stellen werden doch die sozialen Grenzen, die ich eben absolut nicht wählen kann, sichtbar.

  • "Selbstbestimmung" ist ein Freiheitswert (im philosophischen Gegensatzpaar Freiheit/ Sicherheit). "Freiheit" ist immer auch "Risiko". Je mehr Freiheit, umso mehr Risiko.


    Den Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit muss jede Gesellschaft für sich definieren.
    Wir könnten zum Beispiel die Sicherheit in der Bundesrepublik erhöhen, indem wir eine Ausgangssperre zu Einbruch der Dunkelheit verhängten. Die meisten Verbrechen finden nachts statt, es ist plausibel, anzunehmen, dass weniger Verbrechen stattfänden, wenn nachts niemand mehr die Wohnung verließe. Diese zusätzliche Sicherheit würden wir aber mit einer Einbuße an Freiheit (an der Selbstbestimmung der Bundesbürger) bezahlen - man hat eben bei Dunkelheit nur noch die Handlungsoptionen, die man innerhalb seiner eigenen vier Wände realisieren kann.
    Anderes Beispiel: Individueller Personenverkehr. Wir könnten die Sicherheit erhöhen, wenn wir Privatpersonen das Führen eines Kraftfahrzeugs untersagen würden. Es ist plausibel, anzunehmen, dass es ohne PKWs erheblich weniger Verkehrstote geben würde - das Leben wäre also "sicherer". Der Preis dafür wäre eine Einbuße der Freiheit durch weniger Mobilität.
    Man könnte auch umgekehrt die Freiheit zu Lasten der Sicherheit erhöhen: Abschaffung der Führerscheinpflicht zum Beispiel.


    Es gilt also, das rechte Maß zu finden.


    In den Beispielen, die Du eingangs angeführt hast, scheint mir das gegeben. Eine Tante von mir arbeitet beispielsweise in einem karitativen Werk, wo sie lange Zeit mit der Individualbetreuung von Senioren betraut war. Dadurch war es diesen möglich, in ihrer Privatwohnung zu wohnen. Sie haben eine Wahlmöglichkeit, eine Alternative zum Altersheim bekommen. Sie konnten dadurch selbst bestimmen (sic!), ob sie lieber zu Hause wohnen bleiben oder in ein Heim ziehen wollten.
    Ich kann nicht erkennen, was daran schlecht wäre.

  • Zitat

    Original von licht
    sorry, habe ich auch nur an einer stelle kategorien von gut oder schlecht bemüht??????


    Ich zitiere Deinen ersten Beitrag:

    Zitat

    Original von licht
    Verschiedene Wohlfahrtsorganisationen - vermutlich fast alle - führen als Ziel ihrer wichtigen Arbeit in der Pflege von hilfsbedürftigen Menschen die Formulierung: Ermöglichung von Selbstbestimmung als eines der wichtigsten Ziele auf. Jedesmal, wenn ich das lese oder höre, kommt in mir eine Sponatane Abwehrreaktion auf.


    Da Du von "spontaner Abwehrreaktion" schreibst, gehe ich davon aus, dass der Begriff "Selbstbestimmung" bei Dir negativ belegt ist - falsch interpretiert?

  • Zitat

    Original von licht
    dann lies bitte mal bis zum Ende.


    Nun...das habe ich nun schon zum dritten Mal getan und muß gestehen, dass ich immer noch nicht weiß, worum es Dir genau geht. glaube allerhöchstens eine klitzekleine Ahnung davon bekommen zu haben :-(


    Beim Durchlesen Deiner Badewannen-Überlegungen kam mir allerdings das in den Sinn, was eine meiner Kursteilnehmerinnen uns gerade erzählt hatte:


    Sie arbeitet in Uganda hauptsächlich in einer Art Großküche, die von einem Unternehmen in Europa unterstützt wird.


    Ziel der Küche ist es 1) der notleidenden Bevölkerung ausreichend Lebensmittel zu verschaffen und die Menschen vor dem Hungertod zu bewahren.


    2) Langfristig ist das Ziel aber, die Menschen NICHT abhängig zu machen von den Spenden aus Europa, sondern sie ganz praktisch zu sozialem Miteinander anzulernen und ihnen zu helfen, mit den Lebensmitteln vor Ort zu überleben. Stichwort: Hygiene, Haltbarmachen, Kochen für mehrere...zum Beispiel mit einem Grundbrei aus grünen Bananen und einem vor Ort wachsenden Getreide (ganz nebenbei: kein Europäer würde diesen recht bitteren Brei auch nur anrühren).


    3)...und auch ganz nebenbei und äußerst vorsichtig und sensibel versucht sie und ihre Mitarbeiter die Bevölkerung - wenn schon nicht von den leider immer noch stattfindenden Beschneidungen der Mädchen - abzubringen, so doch wenigstens tatkräftig mitzuhelfen durch Aufklärung, dass die Rasierklingen, die dabei benutzt werden, wenigstens steril sind.


    Also würde ich schon behaupten wollen, dass die Helfer dort die Selbstbestimmung der ugandischen Bevölkerung - zumindest in den von mir genannten Beispielen - respektieren und achten.


    Und ähnlich sehe ich auch die Bedeutung von Selbstbestimmung: man kann und sollte m.E. andere NICHT mit Gewalt davon abhalten, den von ihnen eingeschlagenen Weg zu gehen, selbst wenn man ihn für falsch und für sich selbst nicht gangbar hält.


    :wave
    Ikarus

  • hallo Ikarus, dein Zitat bezog sich nun eben auf Bernard.


    Worum es mir geht, kann ich vielleicht kurz gefasst (und damit verkürzt (!)) so sagen:
    Ich möchte fragen, ob wir nicht völlig in die Irre gehen, wenn wir meinen über uns selbst bestimmen zu können.
    Ich möchte fragen, ob wir uns nicht sinnvoller als Teile sozialer Gefüge wahrnehmen sollten, statt als Individuen, die ihre individuellen Freiheiten, Bedürfnisse, Wünsche und Interessen zum leitenden Maßstab ihres Handelns machen.
    Ich möchte fragen, ob ein verändertes, sozial zu denkendes Menschenbild nicht a) realitätsnäher ist (keiner von uns kann selbst bestimmen, wie sein Leben vonstatten gehen soll. - völlig ausgeschlossen!) und ob es nicht auch vom christlichen Glauben her sinnvoll und richtig ist, dieses gegenwärtige Menschenbild zu hinterfragen.


    Von daher halte ich den Ansatz, den Du schilderst für völlig OK und in meinem Sinne: Die Leute werden in ihrer Menschenwürde geachtet. Mit ihnen gemeinsam wird nach ihnen und ihrer Situation angemessenen Lösungen gesucht. Dies geschieht im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten, von denen jeder immer abhängig sein wird.


    Haltet es für Wortklauberei. Aber da geht es nicht um Selbstbestimmung sondern um Achtung vor den Menschen.

  • Wir gehen doch vom "right of selfdetermination" aus. Das bedeutet doch nichts weiter als Emanzipation von althergebrachten Strukturen, die den Menschen Zwänge bereiten - sei es nun einem Souverän gegenüber, einem Patriar- oder Materchalismus oder einer Diktatur.
    Man darf nicht mehr verheiratet werden ohne seine persönliche Einwilligung oder gar verkauft. Man darf seine Ausbildung entscheiden, seinen Beruf wählen und ist dabei keinem Zwang durch eine Person unterworfen, sondern höchtens den jeweiligen Umständen.

  • Zitat

    Original von Oryx
    Wir gehen doch vom "right of selfdetermination" aus. Das bedeutet doch nichts weiter als Emanzipation von althergebrachten Strukturen, die den Menschen Zwänge bereiten - sei es nun einem Souverän gegenüber, einem Patriar- oder Materchalismus oder einer Diktatur.
    Man darf nicht mehr verheiratet werden ohne seine persönliche Einwilligung oder gar verkauft. Man darf seine Ausbildung entscheiden, seinen Beruf wählen und ist dabei keinem Zwang durch eine Person unterworfen, sondern höchtens den jeweiligen Umständen.


    und wer oder was schafft die "jeweiligen Umstände"??

  • Oryx
    also nicht das Individuum


    @Licht
    was ich am Christentum faszinierend finde ist die Äquidistanz zu Kapitalismus und Kommunismus, nicht hie das Kollektiv oder hie der Einzelkämpfer, sondern das Individuum in der Gemeinschaft.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend  :lesend

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  • Richtig, denn das Recht auf Selbstbestimmung schliesst ja aus, dass das Individuum von jemandem anderen bestimmt werden darf. Also sind es andere Faktoren, die an einem Erfolg oder Misserfolg einer Person Anteil haben.
    Wassermangel ist oft ein Schlüssel zu Misserfolg im südlichen Afrika, denn wo keine Ernte auch kein Wohlstand, keine Möglichkeit auf Bildung und oft dadurch freier Fall in Armut und/oder Abhängigkeit.

  • hm..ziemlich viel Text im ersten Beitrag, aber sehr interessant, ich lasse jetzt mal das christliche Gedankengut beiseite..
    Und ich hoffe auch, dass ich überhaupt verstanden habe, worauf du hinauswillst.


    Komplett selbstbestimmt, kann ein Mensch gar nicht leben, ausser er ist Eremit und auch dann ist von Wind und Wetter abhängig im weitesten Sinne


    Was die Fürsorge für Mitmenschen betrifft, boahh, da gibts wohl sehr oft ein ZUVIEL. und auch ein ZUWENIG.


    Ich arbeite in einer diakonischen Alteneinrichtung, da ist das Leitbild (auch so ne moderne Erfindung) etwas genauer, und zwar:


    So viel Selbstständigkeit
    wie möglich, so viel
    Hilfe wie nötig.


    In bestimmten "Firmen" wird das auch versucht, was aber meistens an den einzelnen Mitarbeitern scheitert, die da meinen, sie MÜSSTEN den Menschen doch helfen, obwohl sie das ablehnen. (wie die Ablehnung aussehen kann, ist ein Riesenthema und sprengt evtl. den Rahmen hier)


    So hinzu kommt der Staat, der gewisse Dinge vorgibt und kontrolliert, was im Prinzip auch richtig ist, aber gegen die Menschen an sich arbeitet.
    Ich spreche hier von Verabreichung von PEKs (Sondennahrung) weil ein mensch nicht mehr essen mag. Ich spreche von Fixierungen u.u.u
    Dieser Mensch ist jetzt meist seinen Angehörigen ausgeliefert, stimmen die zu, wird er zwangsernährt, stimmen die nicht zu, kann er essen, oder es auch lassen. Was letztendlich den Tod bedeutet.
    So, möchtest du mit anschauen wie ein Mensch freiwillig verhungert, bzw. erstmal verdurstet??
    Sehr schwierig, weil der Verstand es nicht zulässt.


    Ich weiß nicht, ich denke mal gewisse Strukturen müssen sein, sonst funktioniert gar nix mehr, dass dadurch viele Menschen fremdbestimmt werden ist eben eine Folge davon.


    Noch was, meine Arbeit besteht z. größten Teil aus der Beschäftigung und Pflege von Demenzerkrankten.
    Wir versuchen sehr, die Menschen dort so leben zu lassen, wie sie es evtl. möchten, genau wissen wir das nicht, zu erfahren durch Biografiearbeit und Beobachten, aber ganz genau...hm keinen Plan.
    Wichtig ist uns, dass die Leute glücklich sind, oder den Anschein machen, es wird versucht einen normalen Alltag zu gestalten, was aber wiederum oft an den Strukturen, die nunmal in einer größeren Einrichtung herrschen, ein wenig scheitert.
    Es MUSS z.B. dort niemand schon um 8 im Bett liegen, es MUSS Keiner, essen u.s.w.
    Dennoch sind die Menschen fremdbestimmt, alleine gelassen würden sie ruckzuck vor die Hund gehen, wie sieht also die Alternative aus?!?!?
    Ausser zu Hause eine Rundumkraft..die aber auch Strukturen schafft, die evtl. GEGEN den Menschen arbeitet...hm


    schwieriges Thema finde ich