Angeregt, dies hier einzustellen wurde ich durch die Lesereihe zu Peter Pranges Werte - Buch. Aber da ich es (noch) nicht gelesen habe (was sträflich ist - ich weiss), und da die folgenden Thesen auch völlig unabhängig entstanden sind, sollen sie hier ihren Platz finden.
Vielleicht zuvor noch ein paar Sätze zu ihrer Entstehung und zu ihrem Charakter.
Verschiedene Wohlfahrtsorganisationen - vermutlich fast alle - führen als Ziel ihrer wichtigen Arbeit in der Pflege von hilfsbedürftigen Menschen die Formulierung: Ermöglichung von Selbstbestimmung als eines der wichtigsten Ziele auf. Jedesmal, wenn ich das lese oder höre, kommt in mir eine Sponatane Abwehrreaktion auf. Ihr bin ich irgendwann in der Badewanne nachgegangen und habe begonnen, Fragen zu formulieren und Thesen aufzustellen.
Die Thesen und Fragen sind "echte" Thesen und "echte" Fragen. Das soll heissen: Auch wenn die hinter den Worten stehenden Überzeugungen ganz und gar meine sind, bin ich nicht fertig, darüber nachzudenken und bin unsicher, ob ich nicht wesentliche Aspekte übersehen habe... Also ich gewähre in gewisser Weise mit der Veröffentlichung Einblick in meine Denkwerkstatt.
Es ist vielleicht schließlich sinnvoll, eigens zu erwähnen: Diese Thesen sind meine Thesen und Fragen als eines evangelischen Pfarrers, der in einem bestimmten Umfeld lebt und aufgewachsen ist.
So, genug der Vorrede:
Stichworte zum Begriff: „Selbstbestimmtes Leben“
• Der trügerische Leitsatz der Selbstbestimmtheit heißt: Wer genug Mittel hat, kann sich die Gegebenheiten seinen Wünschen anpassen, wer nicht genug Geld hat, muß die Dinge nehmen, wie sie sind.
• Der Begriff selbstbestimmt leben taucht in vielen Zielbeschreibungen besonders von Wohlfahrts- und Hilfsorganisationen – meint er da, was er sagt??
• Vermutlich ist ein Leben gemeint, dass nicht dem Diktat und der Willkür anderer ausgeliefert ist.
• Der Begriff der Selbstbestimmtheit sagt aber – wörtlich verstanden – etwas ganz anderes: er steht offenbar für die weit verbreitete Sorge: mir muß jemand helfen, ich werde von jemanden abhängig.
• Ist es im Sinne christlicher Theologie und christlicher Anthropologie, solche Ziele zu formulieren?
• Wie wäre das Gleichnis [URL=http://www.bibel-online.net/buch/42.lukas/10.html#10,30]Lk 1o [/URL] vom barmherzigen Samariter ausgegangen, wenn sich der unter die Räuber gefallene nicht hätte helfen lassen wollen, sondern lieber selbstbestimmt geblieben wäre?
• Funktioniert Gerhard Schönes Bild vom Paradies, in dem man sich mit viel zu langen Löffeln gegenseitig füttert immer noch, wenn zwar jeder gern aus Nächstenliebe füttert, aber keiner gefüttert werden will (um der Selbstachtung oder Selbstbestimmung willen)?
• Ist es im Sinne des Ersten Gebots, überhaupt von einer Art Selbstbestimmung des Menschen zu reden?
• Ist es überhaupt menschlich, selbstbestimmtes Leben zu erstreben?
• Wirklich selbstbestimmte Leute kenne ich nur aus dem Film: als die Oberschurken, denen von James Bond das Handwerk gelegt wird. Sie haben genug Mittel, die Gegebenheiten ihren Wünschen anzupassen. Damit verhalten sie sich völlig unsozial.
• Das Ziel selbstbestimmten Lebens suggeriert die Möglichkeit, unabhängig zu leben.
• Es verdeckt den Blick auf die tatsächlichen Möglichkeiten, auf die vorhandenen wie auf die nicht vorhandenen.
• Die Möglichkeit, Hilfe in Anspruch nehmen zu können, ist jedem Menschen zu wünschen.
• Jeder Mensch ist auf die Hilfe und das Miteinander in einer Gesellschaft angewiesen. Keiner kann allein und nur für sich bestehen.
• Es scheint mir wesentlich sinnvoller und hilfreicher auf die Chancen des sozialen Beziehungsgeflechtes hinzuweisen, in denen jeder Geber und Empfänger ist, statt das Geben einseitig als das besonders hohe Ziel zu stilisieren, das Empfangen von Hilfe dagegen als minderwertig abzukanzeln.
• Es bedarf seitens der Kirche einer Begrifflichkeit, die dem gegenwärtigen Trend: „Hoffentlich muß ich nicht einmal jemandes Hilfe in Anspruch nehmen.“ durch positive Formulierungen von Gemeinschaft entgegentritt.
• Der „Erhalt von Selbstbestimmung“ kann keine solche Formulierung sein, da sie eine Illusion weckt, die (schon für den gesunden Menschen) nie erfüllbar sein kann.
• Ist es nicht sinnvoller von Anfang an als ehrliches Ziel zu formulieren: Wir wollen mit hilfsbedürftigen Menschen gemeinsam nach Wegen zum Umgang mit ihrer Situation suchen und Unterstützung auf dem Weg anzubieten?
• Zu klären wäre die Frage, wo der so verführerische und trügerische Begriff der Selbstbestimmtheit herkommt. Der Gedanke der Selbstbestimmung begegnet nach meinem Urteil in der Faustgeschichte im Streben des Genies bzw. in den Angeboten Mephistopheles’.
• Möglicherweise bietet die Weisheitsliteratur des Alten Testaments bereits Sprüche wie: Ein Tor setzt all seine Hoffnung auf sich, der Weise aber vertraut dem Herrn. (Vgl. [URL=http://www.bibel-online.net/buch/19.psalmen/73.html#73,28]Ps. 73, 28[/URL])
• Die Erfahrung (und die biblische Gleichnisliteratur) lehrt, daß das Vertrauen auf Gott oft auch die Angewiesenheit auf das Vertrauen auf die Mitmenschen einschließt. ([URL=http://www.bibel-online.net/buch/40.matthaeus/25.html#25,31]Mt 25, 31-46 [/URL] im Umkehrschluß gelesen, Lk 10 u.a.)
• Es ist möglicherweise einer der genialsten Schachzüge des Teufels, uns mit dem vermeintlich positiven Begriff der Selbstbestimmung zu überlisten.
• In Wahrheit ist er antisozial, bietet er den Nährboden für Mißtrauen, führt er dazu, daß viele Menschen ihre Kräfte unnötig überfordern („Ich will ja keinem zur Last fallen.“).
• Im Grunde ist es auch wirtschaftlich kontraproduktiv, wenn wir einander nicht helfen lassen d.h. keine Dienstleistungen abkaufen.
• Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich froh und dankbar bin, daß keine Rücksicht auf mein Bedürfnis nach Selbstbestimmung genommen wird: Wenn mir jemand (notfalls mit Gewalt) den Autoschlüssel entzieht, damit ich nicht betrunken Auto fahre und möglicherweise zur Gefahr für andere werde. Wenn ich hilflos da liege und über Leben und Sterben nicht entscheiden kann. ...
• Der Mensch ist doch nur sinnvoll als ein Wesen zu denken, das von Anfang an dafür da ist, sozial zu interagieren („Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht“).
• Nachfolge Christi ist im Sinne von [URL=http://www.bibel-online.net/buch/40.matthaeus/25.html#25,31]Mt 25, 31-46 [/URL] völlige Mitmenschlichkeit.
• Ziel einer christlich motivierten Hilfe kann schlechterdings nicht Selbstbestimmheit sein, sondern muß am Ende Hilfe zur Dankbarkeit sein. (Was nichts mit resignativem „so isses halt“ zu tun haben muß.)
• Das Märchen vom König der das Hemd eines glücklichen Menschen sucht, schildert im Schlusssatz „Der Glückliche hatte gar keins.“ was mit der Dankbarkeit gemeint ist: Glück ist unabhängig von den Kategorien Erfolg, Freiheit, Macht, Geld. Der Glückliche in dem Märchen ist vermutlich nicht selbstbestimmt. Er wird sich sein Los nicht gewählt haben, er hat aber gelernt, sein Leben und das, was ihm geschenkt wird dankbar anzunehmen. Das schließt weder Träume aus noch Ziele, aber das bedeutet eben auch, sich mit Träumen und Zielen und Wünschen in Hoffnung leben zu können.
• Selbstachtung kann so viel eher gedeihen.