Eine andere Welt - Philip K. Dick

  • Philip K. Dick als Science-Fiction-Autor zu bezeichnen, ist eigentlich
    eine Falschklassifizierung, obwohl er per Konvention diesem Genre angehört.
    Eigentlich ist es offensichtlich, dass er seine Gegenwart thematisiert
    und die Stilmittel des SF-Genres nutzt, um zu verfremden und zu
    verzerren.


    In "Eine andere Welt" geht es um den Fernsehmoderator Jason Taverner,
    dessen Realität sich dergestalt verändert, dass niemand mehr ihn
    kennt. Es gibt keine Aufzeichnungen über ihn, nicht einmal eine
    Geburtsurkunde, seine Fernsehsendungen sind nie gesendet worden, und
    seine Freundin kennt ihn nicht.


    Die Welt, in der er lebt, ist von staatlicher Kontrolle
    dominiert. Ohne gültige Ausweispapiere kann man sich nicht einmal auf
    die Straße trauen. So zieht Taverner los, verschafft sich gefälschte
    Ausweispapiere und versucht das Rätsel seines Identitätsverlustes zu
    begegnen und sich selbst wieder zu "legalisieren". Dabei ist ihm
    jedoch bewusst, dass es eigentlich aussichtslos ist: Wer den "Pols"
    einmal aufgefallen ist, der hat verloren. Nur Anonymität oder
    Berühmtheit schützt vor Verfolgung, und beides hat er verloren, denn
    weil er sich nicht legitimieren kann, hat sich die Polizei schon an
    seine Fersen geheftet.


    Taverner ist das Produkt eines Eugenik-Projekts, ein sogenannter
    Sechser. Das sind Menschen mit ausgewählten Genen und besonderen
    körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Er ist sehr von sich selbst
    überzeugt. Seine Attraktivität für Frauen versucht er gezielt
    einzusetzen. Im Verlaufe des Romans begegnet er mehreren sehr
    unterschiedlichen Frauenfiguren. Er hat aus kühler Berechnung Sex mit
    ihnen oder versucht sie auf andere Weise auszunutzen, um der
    Geheimpolizei zu entgehen. Dabei lernen wir mehrere unterschiedliche
    Frauenschicksale kennen.


    Auch die Polizei ist kein anonymes Machtinstrument, sondern trägt ein
    Gesicht. Das ist gerade das Spannende an dem Roman: Es gibt keine
    klare Trennung zwischen Gut und Böse. In diesem totalitären Staat sind
    eigentlich alle Opfer. Einer der höchsten Polizeibeamten hat ein
    inzestuöses Verhältnis mit seiner drogensüchtigen Schwester. Er ist
    ein Gefangener dieser fatalen Leidenschaft, genau wie Taverner
    letzlich ein Gefangener seiner Überheblichkeit ist.


    Deshalb ist diese Utopie völlig anders als die orwellsche Vision des
    Totalitarismus. Bei Orwell hat die absolute Macht kein Gesicht, der
    "Große Bruder" ist nur ein Bild. Bei Dick dagegen sind die Verfolgten
    genau wie die Verfolger denselben Gesetzmäßigkeiten ausgeliefert. Die
    Repräsentanten der Macht sind nicht wirklich mächtig: Über ihre
    menschlichen Schwächen und ihr egoistisches Streben nach individuellem
    Glück werden sie denen, die sie unterdrücken, letztlich gleich.


    Über allem liegt der Dunst der Nixon-Ära in den beginnenden Siebzigern
    der USA. Unter der Fuchtel staatlichen Kontrollwahns windet sich die
    Menschlichkeit, und die Täter sind nur die Opfer aus der zweiten
    Reihe.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Mir gefällt der Originaltitel so gut:


    Flow My Tears, The Policeman Said


    Das sagt der trauernde Polizist Buckman auf Seite 276. Ein genialer Titel, viel tiefschürfender als der Deutsche. Und er bestätigt meine Interpretation von oben: Buckman leidet an Gefühlen in einer Welt, die mit Gefühlen nicht umgehen kann.


  • Ansichtssache.
    Viele Autoren thematisieren die Gegenwart in ihren SF Büchern. Dick ist da sicherlich keine Ausnahme. Überbevölkerung, die Genthematik, steigende Kriminalität - alles beliebte Themen der heutigen und der vergangenen Autoren. Ferner bin ich der Ansicht, das die SF auch keine eigenen Erzählstrukturen oder Erzähltechniken hervorgebracht hat. Nimmt man das Übernatürliche, die in die Zukunft projizierte Technik und die SF Elemente hinweg bleibt in der Regel ein ganz normaler Krimi, Liebesroman oder ein Landserheft übrig.


    Dick gehört m. E. auch nicht per Konvention der Riege der SF Autoren an. Er schreibt schlicht und ergreifend SF, und darum ist er SF Autor.


    Vielleicht kannst du ja die Stilmittel der SF, von denen du geschrieben hast, näher erläutern?

  • Zitat

    Original von MA1


    Dick gehört m. E. auch nicht per Konvention der Riege der SF Autoren an. Er schreibt schlicht und ergreifend SF, und darum ist er SF Autor.


    Das ist Haarspalterei! Was ich sagen wollte, ist: Ich habe den Eindruck, dass sich ein Philip K. Dick gar nicht so sehr für Zukunftstechnologien oder Utopien aller Art interessiert hat. Er gibt sich gar nicht wirklich Mühe, ein glaubwürdiges Bild einer möglichen Zukunft zu entwerfen. Der futuristische Hintergrund wirkt oft wie eine billige Fassade, die gar nicht den Anspruch hat, mehr sein als eine Fassade. Dicks wirkliche Themen sind das Mystische, der Realitätsbegriff, das Individuum in der gegenwärtigen Gesellschaft. Der Überzug aus SF ist nur ein Trick. Vielleicht muss man ihn sogar aus der SF-Ecke ganz raus holen, um ihn richtig einordnen zu können. (Nichts gegen SF, um Gottes Willen, aber Dick ist für mich aus den obigen Gründen kein typischer SF-Autor.

    Zitat

    Original von MA1
    Vielleicht kannst du ja die Stilmittel der SF, von denen du geschrieben hast, näher erläutern?


    Stilmittel ist wohl der falsche Begriff gewesen. Ich meinte die typischen Versatzstücke der SF: Weltraumreisen, Aliens, Telepathie u.s.w. Das gibts zwar bei Dick, aber wie ich schon sagte: Im Gegensatz zu anderen Autoren ist es bei ihm ein Vorwand für ganz andere Themen ...

  • Zitat

    Original von Delphin


    Klar das englische...gegen den Titel "Flow My Tears, The Policeman Said" bin ich praktisch genauso machtlos wie gegen blaue Cover. :grin


    :grin Ich glaube, ich trete in Deine Fußstapfen :-) :wave

  • Zur Frage, ob Philip K. Dick Science Fiction-Autor ist oder nicht, kann ich nur sagen, es gibt von ihm auch einige Romane (meist aus den fünfzigern) die definitiv keine Science Fiction sind.


    Beispielsweise:
    Eine Bande von Verrückten-Bekenntnisse eines Schundkünstlers (der 1975 noch zu Lebzeiten Dicks erschien)
    Die kaputte Kugel
    In Milton Lumky Territory
    Mary and the Giant


    Im zentralen Mittelpunkt dieser Romane standen meist das gesellschaftliche Leben des amerikanischen Mittelstandes und die Beziehungen von Paaren in dieser Zeit.
    In "Mary and the Giant" verliebt sich in den fünfziger Jahren eine junge, weiße Frau in einen schwarzen Jazzmusiker. Geschildert werden ihr Kampf um ihre Unabhängigkeit, (sie jobbt in einem Plattenladen) und die Probleme der Gesellschaft mit gemischtrassigen Beziehungen.


    Alle diese Romane haben mir ausgesprochen gut gefallen.


    In Kürze erscheint zum ersten mal ein bisher noch nicht veröffentlichter, früher Roman von Philip K. Dick, der auch keine Science Fiction ist:
    Voices from the street
    Ich werde ihn mir sofort bestellen. Kanns kaum abwarten. :hop

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    In Kürze erscheint zum ersten mal ein bisher noch nicht veröffentlichter, früher Roman von Philip K. Dick, der auch keine Science Fiction ist:
    Voices from the street
    Ich werde ihn mir sofort bestellen. Kanns kaum abwarten. :hop


    Bist wohl Dick-Experte! Kennst Du denn auch was Biographisches über ihn? (Nicht Internet, sondern gedruckt)

  • So, es ist gekommen und ich hab´s gelesen. :-) Feines Buch, aber hat auch einige Unstimmigkeiten (sofern ich nichts überlesen habe). Toll ist, dass man bei jeder der Figuren irgendwie unentschlossen bleibt, ob sie einem sympathisch ist oder nicht (die einzig wirklich sympathische ist meiner Meinung nach Heather Hart), aber eigentlich sind (fast) alle völlig hilflos und versuchen nur ihr Leben zu leben so gut es das (aus dem Ruder gelaufene) System eben zulässt.


    Nachdem ich es auf deutsch gelesen hab, bin ich auch der Meinung, dass man besser das Original lesen sollte - teilweise stolpert man doch über Sätze und Wörter, die im Original sicher passend sind, aber irgendwie (scheinen sie mir) seltsam übersetzt.

  • Zitat

    Original von Gretchen


    Nachdem ich es auf deutsch gelesen hab, bin ich auch der Meinung, dass man besser das Original lesen sollte - teilweise stolpert man doch über Sätze und Wörter, die im Original sicher passend sind, aber irgendwie (scheinen sie mir) seltsam übersetzt.


    Das würde mich schon interessieren, was für Unstimmigkeiten Du gefunden hast, bzw. wo Dir die Sätze nicht gut übersetzt waren. hast Du vielleicht ein Beispiel?

  • Auch ich habe diesen Roman auf meine Wunschliste gesetzt, obwohl ich nach den letzten Beiträgen zum Buch etwas unsicher geworden bin. Die Handlung könnte mir zusagen. Werde noch warten, ob noch neue Kritiken dazukommen.


    Gruß Manfred.

  • Zitat

    Original von Handyfuchs
    Auch ich habe diesen Roman auf meine Wunschliste gesetzt, obwohl ich nach den letzten Beiträgen zum Buch etwas unsicher geworden bin.


    Der Roman ist definitiv Literatur und auch nicht langweilig. Was man hier aber vielleicht wirklich noch ausleuchten könnte, ist, wo genau seine Schwächen liegen. Dazu müsste ich aber wohl selbst das Original in die Hand nehmen, aber das möchte ich aus Zeitgründen nicht tun. Also Leute, die ihrs gelesen habt: Wenn ihr was kritisches zu sagen hat, dann tut's. Mich würde es interessieren.


    Ich schreibe selbst und finde in Philip K. Dick einen sehr routinierten und cleveren Geschichtenerzähler, der gerade und vor allem das Erzählhandwerk gut beherrscht. Wo aber sind seine Grenzen?

  • Die Schwäche des Buches ist offensichtlich.


    Teilweise ist es unlogisch, teilweise werden bestehende Fragen nicht oder nicht eindeutig geklärt. Wer nach Beendigung dieses Buches sagen kann: Ich habe es verstanden! ist entweder ein Genie oder hat sich nicht selbst die richtigen Fragen gestellt.


    Mich hat es eher ratlos als befriedigt zurückgelassen.