Dr Schiwago - Boris Pasternak

  • Es nicht gelesen zu haben, ist eine jener Bildungslücken gewesen, die
    ich ungern offen lasse.


    Was für ein Land! Was für Menschen! Dr Schiwago entstammt der
    Oberschicht des vorrevolutionieren Russland. Er ist ein sensibler,
    universell begabter Mann mit Interesse sowohl an Poesie und
    Naturbeobachtung, als auch an den Naturwissenschaften. Sein Verhalten
    und sein Charakter wird von ethischen und humanitären Maßstäben
    bestimmt. Folgerichtig wird er Arzt.


    Die grausame Geschichte Russlands verhindert eine glanzvolle
    Karriere, die seinen Begabungen entsprochen hätte. Er wird im ersten
    Weltkrieg als Frontarzt zwangsverpflichtet, dann bricht die russische
    Revolution aus. Es gibt bittere Hungersnöte in kalten Wintern. Er
    flüchtet mit seiner Familie in den Ural, wird von Partisanen
    entführt und gezwungen, ihr Feldarzt zu werden und und und ...


    Der Roman ist auch ein Liebesgeschichte, aber er ist vor allem eine
    Geschichte Russlands. Tragik ist nicht der richtige Ausdruck für das
    Geschehen, weil ihm dazu die Unvermeidlichkeit fehlt. Es sind stets
    Menschen, die entscheiden, und sie könnten auch anders. In der Weite
    langer kalter Winter bewegt sich eine leidgeprüften Volksseele auf
    einen Abgrund zu.


    Langsam zieht die Revolution herauf, der Bürgerkrieg. Er kündigt sich
    erst durch unheilvolle Vorzeichen an, wird dann allmählich stärker,
    grausamer allumfassender. Der Krieg verbündet sich mit der Tundra und
    ihrer Winterkälte, mit den Eitelkeiten und den Dummheit der Menschen,
    er zerstört uralte Traditionen und gewachsene Strukturen.


    In alledem versucht Schiwago, sich seine Menschlichkeit zu
    bewahren. In einem Güterwaggon reist er nach Sibirien, muss die
    Geleise vom Schnee freischaufeln und kann dabei (einer völlig
    ungewissen Zukunft entgegensehend) dennoch die Schönheit der
    Scheelandschaft genießen und Gedichte schreiben.


    Er liebt Lara, die er von Jugend auf kennt und mit der er erst viel
    später zusammenkommt. In dieser Liebe findet der Roman seinen Höhepunkt,
    denn sie kann sich in der neuen nachrevolutionären Zeit nicht erfüllen:
    Regimeterror und Denunziantentum lassen nicht mehr zu, dass blüht, was
    blühen möchte. Seine nicht-proletarische Herkunft und sein lebenslanges
    Ringen um Familienglück, ja nur ums nackte Überleben, haben genügt, ihn
    zu einer unerwünschten Person werden zu lassen, die jederzeit mit
    ihrer Verhaftung rechnen muss.


    Lara und Schiwago lieben sich trotzdem. Sie leben den unmöglichen
    Traum, flüchten in die Einsamkeit, Wölfe schleichen ums Haus und
    es ist klar, es wird nicht gehen. Letztlich ist es Laras Wunsch,
    einfach nur zu überleben, der beide wieder auseinandertreibt.
    Sie sind noch nicht mal vierzig Jahre alt. Da ist es einfach noch zu
    früh zum Sterben.


    Lara ist der schöne Engel in diesem Roman, aber sie ist auch ein Opfer
    ihrer Weiblichkeit und der Willkür eines Mannes, der sie in jungen
    Jahren verführt und manipuliert. Tugendhaftigkeit und Sinnlichkeit
    vereinen sich in ihr, ohne zu einem Widerspruch zu führen: Letztlich
    strebt auch sie wie Schiwago nur nach Normalität und Liebe. Auch sie
    ist ein Spielball der Zeitgeschichte, der immer dann wieder
    fortgetragen wird, wenn er gerade einmal zur Ruhe gekommen ist.


    Die Hauptfiguren des Romans wollen einfach nur leben, die Betonung
    liegt auf einfach. Das korreliert mit der Aussage Pasternaks, der sich
    schon früh vorgenommen hatte, ein "ganz einfaches" Buch zu schreiben.
    Damit wollte er wohl auch ausdrücken, dass es vom theoretischen
    Ballast des Zeitgeistes frei sein sollte. Es sollte ein Buch sein,
    dass die Geschichte so erzählt, wie sie gewesen ist, und wie sie
    empfunden worden ist, und nicht mehr. Das ist ihm sicher gelungen,
    obwohl Pasternaks poetisches Naturell ihn daran hindert, zum
    vollkommenen Realisten zu werden.


    Trotzdem gibt es Stellen in dem Buch, in denen Weltanschauliches und
    explizit Politisches einfließt. Das macht das Buch erst Recht zu einem
    russisches Buch, denn es verankert sich dadurch in der Tradition
    russischer Romanliteratur: Diese hatte immer schon eine Tendenz, das
    menschliche Einzelschicksal in einen geschichtlichen oder
    gesellschaftlichen Kontext einzubinden. Man denke nur an Tolstois
    "Krieg und Frieden", man denke auch an Dostojewski.


    Die großen Romane Russlands sind immer Romane, in denen man
    gewissermaßen durch ein mit Eisblumen der Fantasie bewachsenes Fenster
    einen Blick auf das dunkle kalte Land und seine warmen Menschen
    werfen kann.


    Ja, in Doktor Schiwago brennt die Glut des eisernen Ofens im
    russischen Haus. Der Sturm der Zeit weht das Dach davon, und darunter
    frieren die Menschen. Sie haben es schwer, sie leiden, sie lieben und
    kämpfen. Der Ofen brennt weiter und Schneeflocken fliegen darauf. Das
    ist für mich Russland.



    Mir wurde das Buch von meiner russischen Freundin geschenkt, die mich
    kurz darauf verließ. In den zehn Monaten mit ihr bin ich der dunklen
    und der warmen Seite Russlands begegnet. Das Ende der Beziehung ist
    mit dem Anfang der Lektüre des Dr Schiwago zusammen gefallen. Das Buch
    hat meine Erfahrungen mit ihr noch einmal intensiviert, erhellt und
    schließlich zu einem Abschluss gebracht.

  • Schön, wenn einem bücher helfen können die eigene Geschichte zu verarbeiten. Als ich Dr. Schiwago damals gelesen habe dachte ich, damit wirst du nie fertig obwohl ich schon viele Wälzer gelesen hatte. Aber durch den film hatte ich einen roten Faden. Das Buch selbst ist noch viel politischer als der Film andeutet und zumindest angenehmer zum lesen als "Krieg und Frieden".

  • bisher habe ich mich vor dem buch gedrückt (trifft auch auf "krieg und frieden", "anna karenina" und einige andere russen zu) und meinte, der film "reicht".
    ich werde es jetzt doch einmal zu lesen versuchen...

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben." (A. Lincoln)

  • Zufällig bin ich nochmal in diesen Thread gekommen und hab die Rezi gelesen. Mal ganz bewusst- und weil sie so schön geschrieben ist, wollte ich das nochmal extra sagen. die Worte sind so bewegend, man spürt die liebe zu diesem buch.
    @ lyrix :wow ganz toll gemacht.

  • Danke für die vielen ermutigenden Rückmeldungen. Habe mir die Rezension selbst noch mal durchgelesen und bin auch etwas erstaunt, was ich da für Worte gefunden habe. Was aber nicht in der Rezi steht: Der Roman ist meiner Ansicht nach nicht ganz einfach zu lesen. Durchhaltewille (sagen wir mal: russische Robustheit) ist beim Lesen von Nutzen.

  • Beim Lesen der obigen Rezi bin ich ins Grübeln gekommen: Geht es da wirklich um das gleiche Buch, das ich auch gelesen habe?! Ich las es vor ein paar Jahren auf Russisch und ich war heilfroh, als ich das Buch zuklappen und weit hinten im Regal verstecken konnte. Ich fand es schwierig und undurchsichtig. Irgendwann habe ich nur noch quergelesen.


    Wenn ich bedenke, wie lange ich hinter dem Buch her war (es war jahrelang nicht auf Russisch zu bekommen), war das doch eine große Enttäuschung...


    ***
    Aeria

  • Zitat

    Original von Aeria
    Beim Lesen der obigen Rezi bin ich ins Grübeln gekommen: Geht es da wirklich Ich las es vor ein paar Jahren auf Russisch und ich war heilfroh, als ich das Buch zuklappen und weit hinten im Regal verstecken konnte. Ich fand es schwierig und undurchsichtig. Irgendwann habe ich nur noch quergelesen.
    Aeria


    Hallo Aeria,
    das ist dasselbe Buch! Was Du hier sagst, trifft auf das Buch genau so zu wie das, was ich oben in der Rezi geschrieben habe. Ich hatte auch Schwierigkeiten beim Lesen. Bei manchen Büchern lohnt sich aber ein wenig Mühe ...

  • lyrx : :grin Ging mir genauso...am Anfang hätte ich das Buch im hohen Bogen in die Ecke feuern mögen...aber ich hatte tapfer durchgehalten...und war dann mächtig stolz,als ich es endlich geschafft hatte (damals war ich erst ca.20 Lenze jung)!
    Inzwischen habe ich auf einem Flohmarkt eine schöne Ausgabe gefunden:Es gibt dort auch eine Liste der Personen, die ja schon mal hilfreich sein kann und ein paar hübsche Bilder...das war meine verspätete Belohnung für die "Lesemühe",aber ich glaube nicht, daß ich das so bald mal wieder lesen werde... :lache

    Nimm das Leben nicht so ernst-Du kommst eh nicht lebend raus!


    :lesend "Die Mumie"-Anne Rice
    Fastenzeit-SUB:30
    SUB-Abbau:6

  • Habe das Buch soeben beendet und muss sagen eins der besten die ich je gelesen habe. Schwierig kam es mir eigentlich nicht vor. Gut wenn man nicht besonders historisch interessiert ist ist es vielleicht etwas schwerer. Habe das Buch auch auf einem Flohmarkt erworben.


    Eine Lizenzausgabe für Bertelsmann Buchclub etc von 1958. Vorne ist auch eine List mit den wichtigsten Personen des Romans. Ist diese bei den neueren Ausgaben (Taschenbuch) auch dabei? Diese ist extrem hilfreich bei den Teils verwirrenden Russischen Namen. Was ich mir damals bei nem Dosojewski einen abgebrochen habe.


    Im Vergleich las sich Dr.Schiwago locker und leicht. Was auch interessant wäre ob in den neueren Ausgaben die Kapitel so schön kurz gehalten sind wie in meiner. Meistens 4-5 Seiten ein Unterkapitel das ermutigte mich immer weiterzulesen. Wenn ich so Kapitel habe die 30-40 Seiten lang sind hemmt es mich in der Regel eher lange dranzubleiben.


    PS: 1a Rezension :fingerhoch

  • Seit fast 7 Jahren gammelt dieses Buch in einer Nobelpreisausgabe hier herum, wenn ich mich recht erinnere, hab ich es damals von Fritzi gekauft.
    Nun hab ich Zeit und Muße, bin ja noch krankgeschrieben und werde mich dran wagen, mal sehen, wie weit ich komme :gruebel

  • Zitat

    Original von Snoopy64
    lyrx : :grin Ging mir genauso...am Anfang hätte ich das Buch im hohen Bogen in die Ecke feuern mögen...aber ich hatte tapfer durchgehalten...und war dann mächtig stolz,als ich es endlich geschafft hatte (damals war ich erst ca.20 Lenze jung)!


    Vielleicht liegts daran (ich bin 22), dass ich so froh war, als ich das Buch endlich beendet habe. Die Gedichte am Schluss hab ich dann auch nicht mehr gelesen, aus und vorbei, sozusagen.


    Ich habe das Buch von meiner Oma ausgeliehen und es hat auch ein Namensverzeichnis. Gott sei Dank, ich hab das System hinter diesen russischen Namen einfach nicht verstanden. Jeder wird in 4 oder 5 unterschiedlichen Arten angesprochen, so dass ich immer wieder "Wer ist denn das??" dachte. Das Verzeichnis half mir auch nicht immer, schlussendlich hab ich mich dann auf die Hauptpersonen konzentriert und die ganzen Nebendarsteller überflogen. Ich habe noch nie ein russisches Buch gelesen, daher hab ich keine Vergleichsmöglichkeiten, aber ich fand es langweilig. Wurde es mal spannend, war das auch schon rasch wieder vorüber und Schiwago fing wieder mit seinen Gedichten an, wofür ich mich einfach nicht begeistern konnte.


    Ich war ehrlich gesagt ziemlich enttäuscht und werde es auch sicher nicht nochmal lesen.

  • Meine Meinung


    Lange hat es gedauert, bis Pasternak mich eingefangen hatte; einen weiten (Lese-) Weg mußte ich gehen, bis ich mir meiner Meinung über das Buch sicher war. Ein Weg, der mir manchmal so lang und endlos erschien wie der, den Jurij Schiwago zurücklegen muß, bis er endlich am Ziel ankommt.


    So richtig bekannt wurde das Werk vermutlich durch die Verfilmung mit Omar Sharif in der Titelrolle. Ich gebe zu, daß ich die kenne und erst ein kürzliches neuerliches Ansehen hat mich veranlaßt, endlich auch zur Buchvorlage zu greifen. Dadurch wußte ich zwar, wie die Liebesgeschichten um Jurij Schiwago, Tonja und Lara ausgehen, das hat dem Buch aber nichts von seiner Faszination und Spannung genommen, eher im Gegenteil. So konnte ich mich eher auf den viel weiter gespannten Handlungsbogen des Buches einlassen, stand nicht unter dem Zwang, schnell weiterlesen zu müssen, um zu erfahren, wie es weitergeht.


    Denn, man ahnt es, das Buch holt viel weiter aus als der Film. Sind dort vor allem die Liebesgeschichten das Thema, so sind diese hier eingewoben in die Zeitläufte. Wir treffen zum ersten Mal auf die Hauptdarsteller, als diese noch Kinder sind und begleiten die meisten - mit Unterbrechungen - bis hin zu ihrem Ende, soweit es im Buch erwähnt wird. Das zaristische Rußland, die Revolution von 1905, der erste Weltkrieg, schließlich die Oktoberrevolution und ihre Folgen formen den Rahmen, in den die Handlung eingespannt ist.


    Vor meinem inneren Auge lief ein Film ab, der all diese Ereignisse und das Leben der Protagonisten zum Inhalt hatte und mir teilweise das Gefühl vermittelte, direkt dabei zu sein. Die Lebensläufe vieler Figuren sind miteinander verwoben. Immer wieder treffen sie sich, manchmal ohne zu wissen, wer der andere ist, und geben beim Lesen so eine Ahnung vom Schicksal. Dabei mag die schiere Anzahl des „Personals“ manchmal verwirren, gibt jedoch gleichzeitig eine gute Vorstellung davon, wie verwirrend die Zeiten für die damals Lebenden gewesen sein müssen.


    Nachdem die Revolution erst einmal begonnen hatte, war nur noch eines sicher: alles ist unsicher. Die Herrschaft (Rot / Weiß) wechselte, und je nach dem, wer gerade dran war, mußte man sehen, wie man durchkam. Die erste Zeit des Buches habe ich mich des öfteren gefragt, weshalb das seinerzeit in der UdSSR nicht erscheinen durfte, bis es, je weiter die Handlung fortschritt, mehr und mehr verständlich wurde. Erst versteckt, dann immer offener findet man Stellen, die sich als Kritik am System, an der Herrschaft der Bolschewiken verstehen lassen. Vor allem gegen Ende werden einige Mißstände überdeutlich angesprochen.


    Hier, wie schon in Scholochws „Der stille Don“, hatte ich über weite Strecken das Gefühl einer gewissen Distanz zu Figuren und Handlung, als ob ich als unbeteiligter Dritter zuschauen würde. Da es sich nicht vermeiden läßt, daß Grausamkeiten vorkommen (wenngleich für meine Begriffe sehr zurückhaltend beschrieben), war ich da durchaus dankbar dafür. Aber je mehr sich das Buch dem Ende näherte, um so mehr wich diese Distanz, um schließlich eine so große Nähe zu erreichen, daß ich mich mitten drin dabei wähnte, das Buch letztlich tief bewegt beendete.


    Am Ende angekommen wußte ich auch, weshalb so viele, die das Buch gelesen haben, sagen bzw. empfehlen, es mehrfach zu lesen. Denn es steckt so viel darinnen, wie sich beim ersten Kennenlernen nicht erkennen und verarbeiten läßt. Oder anders ausgedrückt, angelehnt an „zwei altgewordene Freunde“ (S. 608): Das Buch, das ich in den Händen halte, weiß das alles und gibt den Empfindungen Bestätigung und Sicherheit.


    Möge es viele Leser finden.



    Kurzfassung


    Ein beeindruckender Roman über Leben und Schicksal in schweren Zeiten.



    Gelesen habe ich diese Ausgabe:
    640 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
    Originaltitel: Doktor Schiwago
    Aus dem Russischen von Reinhold von Walter, Gedichte übertragen von Rolf-Dietrich Keil
    Verlag: Bertelsmann Club, ohne Jahr
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zu diesem Roman gab und gibt es kritische Stimmen, nicht nur Graham Greene konnte das „Gewese“ um ihn nicht verstehen; allein der Kalte Krieg habe, so auch ein Vorwurf, ermöglicht, dass Pasternak für dieses Werk den Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde. So unrichtig diese Behauptung ist, sie hält sich seltsamerweise nach wie vor; im Übrigen liest wohl jeder das, was er zu lesen vermag und zu lesen gewillt ist.


    Im Rahmen einer Leserunde habe ich „Doktor Schiwago“ zum wiederholten Male gelesen; es ist eines dieser Bücher, mit denen ich wohl nie fertig werde. Der russische Romancier Wenjamin Kawerin sagte zu diesem Roman, er sei „eine Beichte, die gebieterisch dazu aufruft, über uns selbst nachzudenken“ (Quelle: Sinn und Form, Ausgabe 2/1988, Seite 269). Zwar schränkt er diese Feststellung ein, indem er die Wörter „für uns“ anfügt, jedoch gilt, soweit es meine Person betrifft, sein Satz uneingeschränkt; es scheint mir die gültigste Aussage zu sein, die man für diesen Roman treffen kann – und damit reiht er sich ein in die Liste der ganz großen Werke wie unter anderem Tolstois „Krieg und Frieden“, wie Camus' „Die Pest“, ja, auch wie Nadas' „Parallelgeschichten“. Man muss nicht in totalitären Systemen leben, nicht unendlichstem Leid ausgesetzt sein, es reicht das eigene, kleine, vielleicht ganz banale bisschen Leben, um sich wiederzufinden in den Geschichten, die die großen Dichter (und Dichterinnen selbstverständlich) ge- und beschrieben haben, auch in denen um Tonja, Lara, Jurij und all den anderen Protagonisten des „Doktor Schiwago“.


    „Doktor Schiwago“ hat – für mich – einen ganz eigenen Charme: Der Roman kommt nicht allzu perfekt daher, er springt manchmal ein wenig zu arg von Szene zu Szene; es häuft sich vielleicht auch ein wenig zu sehr das, was man gemeinhin als „Zufall“ bezeichnet. Und doch: Was Pasternak seinen Figuren auferlegt an Freude und Leid, was er ihnen an Handlungen, an zu Erduldendem, an Verletzungen zumisst, verlässt bei aller epischen Größe doch nie die menschlich möglichen Spielräume (von gesetzlichen, ethischen, moralischen oder welchen auch immer ist und kann auch keine Rede sein). Er erwartet von seinen Protagonisten keine Heldentaten, die sie nicht zu vollbringen vermögen, er lässt sie in ihrem Lieben, in ihrem Scheitern, in ihren Gedanken und Gefühlen, in ihrem Leben und in ihrem Sterben das bleiben, was sie sind: Menschen, gefangen in ihren gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten, die für alle Freiheiten, die sie sich nehmen – und bei weitem nicht nur die -, bezahlen müssen. Er weiß zu genau um die menschlichen Stärken und besonders die Schwächen, als dass sie sich nicht wiederfinden würden in seinem Werk.


    Bei Lew Kopelew habe ich nachlesen können, dass sich Spuren von Goethes Faust im „Doktor Schiwago“ finden lassen, und da mir die Handlung fast schon ein bisschen zu bekannt war, habe ich verstärkt darauf geachtet. Ja, man findet sie, Faust, Gretchen und natürlich Mephisto. Vielleicht bietet es sich allzu leicht an, in Jurij Schiwago den Faust zu sehen, in Komarovski den Mephisto. Lara als Gretchen, verführt genug ist sie, und das nicht nur in einer Beziehung. Die Rolle des Faust würde ich nicht nur einer Figur, nicht nur Jurij Schiwago zuordnen, sondern zwei, sozusagen Antipoden, Rivalen auch, nämlich Schiwago und Antipov. Und der Mephisto? Nun, so verheerend das Gebaren des Komarovski für seine „Opfer“ ist, ist es doch letztlich sozusagen lokal begrenzt. Es scheint mir nicht nötig zu sein, das „Wesen“ namentlich zu benennen, das in Umkehrung des Wortes, es sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (J. W. v. Gothe, Faust, 1. Teil, 1. Akt, Studierzimmer) weit größere, fatalere, vernichtendere Wirkung entfaltet hat.

  • Ist wohl fast 30 Jahre her, seit ich das Buch gelesen, oder besser gesagt, verschlungen habe. Ich bin in das Land und die Zeit eingetaucht. Und ich weiß noch, dass ich mir fest vorgenommen habe, meine Tochter später einmal Lara zu nennen. Und dann bekam ich nur zwei Söhne ...


    Grüße von missmarple

    "Ein Archäologe ist der beste Ehemann, je älter eine Frau wird, um so mehr interessiert er sich für sie."
    Agatha Christie

  • Nach dem Tod seiner Mutter kommt der zehnjährige Juri Schiwago zu seinem Onkel Nikolai Wedenjapin und reift bei ihm zum Mann heran. Er absolviert ein Medizinstudium und heiratet seine Jugendliebe Tonja. Parallel dazu lernen wir die hübsche Larissa Antipowa, genannt Lara, kennen und erfahren, wie sie als Erzieherin in einem Privataushalt anfängt und sich später zu einem Studium an der Universität entschließt. Bei einem tragischen Unfall lernen Juri und Lara sich kennen, verlieren sich aber wieder aus den Augen. Erst viele Jahre später, im großen vaterländischen Krieg, treffen sie einander wieder. Juri ist inzwischen ein angesehener Arzt, der von einer Gewehrkugel verletzt wurde. Lara hat sich als Krankenschwester freiwillig an die Front gemeldet und pflegt ihn im Lazarett gesund. Viel Zeit zum Durchatmen bekommen niemand, denn danach breitet sich die Februarrevolution von Moskau stetig weiter aus. Das ganze Land befindet sich im Umbruch und Dr. Schiwago wird von seiner Familie getrennt und zur Zwangsarbeit verurteilt. Als er nach vielen Jahren freikommt, trifft er Lara wieder und verliebt sich in sie. Anstatt zu seiner Familie zurückzukehren, bleibt er bei Lara, obwohl sie beide wissen, dass ihr Glück nicht von langer Dauer ist. Schließlich zwingen die Umstände sie zur erneuten Trennung und Juri versucht sein Leben allein unter Kontrolle zu bekommen. Doch nicht einmal seine Arbeit als Arzt sagt ihm mehr zu.

    Boris Pasternaks berühmter Roman erzählt die Lebens- und Leidensgeschichte des Doktor Schiwago, festgemacht an vielen wichtigen Punkten der russischen Geschichte. Neben Hauptpersonen Juri und Lara tauchen mehrere hundert Personen auf – manche nur kurz, andere länger. Dadurch zeigt sich sowohl sein epochaler Umfang als auch seine größte Schwäche. Die Geschichte ist viel zu weitläufig erzählt. Vor allem ab dem Beginn der Februarrevolution ufert die Handlung immer weiter aus. Zig Kapitel haben nichts mit Juri oder Lara zu tun und man merkt deutlich, dass der Autor hier etwas den Fokus verloren hatte. Statt fortlaufender Handlung überwiegen ellenlange Dialoge und Monologe, damit scheinbar jede Person ihre Weltansicht detailliert erläutern kann. Leider setzt sich das bis zum Ende fort. Selbst nach Doktor Schiwagos unspektakulärem Tod ist die Geschichte nicht vorüber, sondern noch mehr Gespräche und Erkenntnisse müssen ausgetauscht werden. Hätte man da einiges gekürzt, es hätte dem Roman vermutlich nicht geschadet. Zumal die Geschichte durch (viel zu) vielen Ansichten eher sachlich erscheint und dadurch Gefühle und Leidenschaft meist ins Hintertreffen geraten. Man leidet daher auch nicht mit den Figuren, sondern weiß vorwiegend über die äußeren Umstände Bescheid.