Es nicht gelesen zu haben, ist eine jener Bildungslücken gewesen, die
ich ungern offen lasse.
Was für ein Land! Was für Menschen! Dr Schiwago entstammt der
Oberschicht des vorrevolutionieren Russland. Er ist ein sensibler,
universell begabter Mann mit Interesse sowohl an Poesie und
Naturbeobachtung, als auch an den Naturwissenschaften. Sein Verhalten
und sein Charakter wird von ethischen und humanitären Maßstäben
bestimmt. Folgerichtig wird er Arzt.
Die grausame Geschichte Russlands verhindert eine glanzvolle
Karriere, die seinen Begabungen entsprochen hätte. Er wird im ersten
Weltkrieg als Frontarzt zwangsverpflichtet, dann bricht die russische
Revolution aus. Es gibt bittere Hungersnöte in kalten Wintern. Er
flüchtet mit seiner Familie in den Ural, wird von Partisanen
entführt und gezwungen, ihr Feldarzt zu werden und und und ...
Der Roman ist auch ein Liebesgeschichte, aber er ist vor allem eine
Geschichte Russlands. Tragik ist nicht der richtige Ausdruck für das
Geschehen, weil ihm dazu die Unvermeidlichkeit fehlt. Es sind stets
Menschen, die entscheiden, und sie könnten auch anders. In der Weite
langer kalter Winter bewegt sich eine leidgeprüften Volksseele auf
einen Abgrund zu.
Langsam zieht die Revolution herauf, der Bürgerkrieg. Er kündigt sich
erst durch unheilvolle Vorzeichen an, wird dann allmählich stärker,
grausamer allumfassender. Der Krieg verbündet sich mit der Tundra und
ihrer Winterkälte, mit den Eitelkeiten und den Dummheit der Menschen,
er zerstört uralte Traditionen und gewachsene Strukturen.
In alledem versucht Schiwago, sich seine Menschlichkeit zu
bewahren. In einem Güterwaggon reist er nach Sibirien, muss die
Geleise vom Schnee freischaufeln und kann dabei (einer völlig
ungewissen Zukunft entgegensehend) dennoch die Schönheit der
Scheelandschaft genießen und Gedichte schreiben.
Er liebt Lara, die er von Jugend auf kennt und mit der er erst viel
später zusammenkommt. In dieser Liebe findet der Roman seinen Höhepunkt,
denn sie kann sich in der neuen nachrevolutionären Zeit nicht erfüllen:
Regimeterror und Denunziantentum lassen nicht mehr zu, dass blüht, was
blühen möchte. Seine nicht-proletarische Herkunft und sein lebenslanges
Ringen um Familienglück, ja nur ums nackte Überleben, haben genügt, ihn
zu einer unerwünschten Person werden zu lassen, die jederzeit mit
ihrer Verhaftung rechnen muss.
Lara und Schiwago lieben sich trotzdem. Sie leben den unmöglichen
Traum, flüchten in die Einsamkeit, Wölfe schleichen ums Haus und
es ist klar, es wird nicht gehen. Letztlich ist es Laras Wunsch,
einfach nur zu überleben, der beide wieder auseinandertreibt.
Sie sind noch nicht mal vierzig Jahre alt. Da ist es einfach noch zu
früh zum Sterben.
Lara ist der schöne Engel in diesem Roman, aber sie ist auch ein Opfer
ihrer Weiblichkeit und der Willkür eines Mannes, der sie in jungen
Jahren verführt und manipuliert. Tugendhaftigkeit und Sinnlichkeit
vereinen sich in ihr, ohne zu einem Widerspruch zu führen: Letztlich
strebt auch sie wie Schiwago nur nach Normalität und Liebe. Auch sie
ist ein Spielball der Zeitgeschichte, der immer dann wieder
fortgetragen wird, wenn er gerade einmal zur Ruhe gekommen ist.
Die Hauptfiguren des Romans wollen einfach nur leben, die Betonung
liegt auf einfach. Das korreliert mit der Aussage Pasternaks, der sich
schon früh vorgenommen hatte, ein "ganz einfaches" Buch zu schreiben.
Damit wollte er wohl auch ausdrücken, dass es vom theoretischen
Ballast des Zeitgeistes frei sein sollte. Es sollte ein Buch sein,
dass die Geschichte so erzählt, wie sie gewesen ist, und wie sie
empfunden worden ist, und nicht mehr. Das ist ihm sicher gelungen,
obwohl Pasternaks poetisches Naturell ihn daran hindert, zum
vollkommenen Realisten zu werden.
Trotzdem gibt es Stellen in dem Buch, in denen Weltanschauliches und
explizit Politisches einfließt. Das macht das Buch erst Recht zu einem
russisches Buch, denn es verankert sich dadurch in der Tradition
russischer Romanliteratur: Diese hatte immer schon eine Tendenz, das
menschliche Einzelschicksal in einen geschichtlichen oder
gesellschaftlichen Kontext einzubinden. Man denke nur an Tolstois
"Krieg und Frieden", man denke auch an Dostojewski.
Die großen Romane Russlands sind immer Romane, in denen man
gewissermaßen durch ein mit Eisblumen der Fantasie bewachsenes Fenster
einen Blick auf das dunkle kalte Land und seine warmen Menschen
werfen kann.
Ja, in Doktor Schiwago brennt die Glut des eisernen Ofens im
russischen Haus. Der Sturm der Zeit weht das Dach davon, und darunter
frieren die Menschen. Sie haben es schwer, sie leiden, sie lieben und
kämpfen. Der Ofen brennt weiter und Schneeflocken fliegen darauf. Das
ist für mich Russland.
Mir wurde das Buch von meiner russischen Freundin geschenkt, die mich
kurz darauf verließ. In den zehn Monaten mit ihr bin ich der dunklen
und der warmen Seite Russlands begegnet. Das Ende der Beziehung ist
mit dem Anfang der Lektüre des Dr Schiwago zusammen gefallen. Das Buch
hat meine Erfahrungen mit ihr noch einmal intensiviert, erhellt und
schließlich zu einem Abschluss gebracht.