18. Dezember 2006 von Heike
Heilige Nacht
Jo atmete tief durch, als er endlich den Hörer in die Gabel gedrückt hatte, und bedachte das Telefon mit einem triumphierenden Blick. Er hatte es getan, er hatte es seiner Mutter mitgeteilt, kurz und bündig, mit klaren Worten, die sie für einen Augenblick hatten verstummen lassen, ehe sie mit kläglichem Ton nachgefragt hatte, ob an seinem Entschluss nicht mehr zu rütteln sei, es sei doch so schön, und Oma Hilde habe sich doch so auf sein Kommen gefreut. Er würde anrufen, hatte er gesagt, nach den Tagen, und seine Mutter hatte lange geschwiegen, ehe sie sich mit einem gemurmelten „Na dann“ verabschiedet hatte.
Jo schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte pfeifend in sein Zimmer zurück, an dessen Tür ein überdimensionales Che Guevara-Poster prangte. Ein Geschenk von Lutz, das dieser ihm am Abschiedsabend vermacht hatte, ehe er nach Berlin gezogen war. In der Hauptstadt ging was ab, hatte Lutz gesagt, als sie vergangene Woche telefoniert hatten. Keine spießigen Weihnachtsfeier mit Konsumterror, Weihnachtsbaum und Gänsebraten, der jedes Jahr wieder nicht richtig durchgegart war, keine geheuchelte Harmonie, keine alberne Frömmigkeit, die pünktlich zur Christmette einsetzte und spätestens am ersten Weihnachtstag vergessen war. Weihnachten gehörte zu den widerwärtigsten Auswüchsen der Bourgeoisie, verhaftet in einer längst überholten Tradition, der man sich sklavisch unterwarf und deren konservativen Werte nicht in Frage gestellt wurden. Doch in diesem Jahr würden sie ein Zeichen gegen die Diktatur der Weihnachtsharmonie setzen.
Immer noch pfeifend warf Jo den alten BW-Rucksack auf das Bett und stopfte wahllos einige Klamotten hinein, dazu die beiden Flaschen Rum, die er beisteuern wollte, zwei Computerzeitschriften, den MP3-Player für die Fahrt und ein Päckchen mit Gras und Blättchen. Ein kurzer Blick zur Uhr verriet, dass er noch Zeit hatte. Gemächlich schlenderte er in die Küche, jonglierte zwei Äpfel in der rechten Hand, ehe er sie einsteckte, und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Herd stand noch der Topf mit den Nudeln vom letzten Wochenende, und in der Spüle türmten sich die Gläser vom vorletzten Abend, als sie zusammen gesessen hatten, bevor Meli und Lukas am nächsten Morgen nach Hause gefahren waren. Mit einem spöttischen Grinsen betrachtete Jo den Porzellanengel, den Meli mit einigen Tannenzweigen auf dem Küchentisch drapiert hatte, „damit wenigstens etwas Weihnachtsstimmung aufkommt“. Es war eine kitschige Figur, mit Pausbacken und gefalteten Händen, und Jo hatte den ganzen Abend gewitzelt, bis Meli genervt die Küche verlassen hatte und vermutlich bis ins Neue Jahr hinein nicht mit ihm sprechen würde. Dabei war sie eigentlich klug genug einzusehen, dass dieser Porzellangötze vor allem eines war – hässlich und albern. Jo pflückte einige abgebrannte Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher und drückte sie in die sternförmigen Öffnungen des Kleides. Dann holte er einen Edding aus seinem Zimmer und malte ein feistes Clownsgesicht auf die Puttenfratze. Meli würde toben, dachte er, während er sein Werk betrachtete und sich die zweite Zigarette ansteckte. Aber vielleicht brachte er sie so dazu, darüber nachzudenken, was sie eigentlich tat, anstatt sich willenlos den bourgeoisen Traditionen zu unterwerfen.
Als er schließlich aufbrach, dämmerte es bereits. Schneefall hatte eingesetzt und setzte sich mit dicken, weichen Flocken auf Jacke und Mütze, während er auf den Weg zum Bahnhof machte.
Sein Zug war pünktlich, und so warf er kurze Zeit später seinen Rucksack in die Gepäckablage, stöpselte den MP3-Player ein und ließ sich auf seinen Platz fallen. Ihm gegenüber hatte eine ältere Frau Platz genommen, die ihre Handtasche mit beiden Händen auf dem Schoß hielt, auf der anderen Seite saß ein Mann mit einem Kleinkind, das unaufhörlich quengelte. Der Schneefall, der inzwischen zugenommen hatte, ging mit steigender Geschwindigkeit in dem Dunkel auf, das sie umgab.
Jo schloss die Augen und versuche sich auf die Musik zu konzentrieren. Neben ihm krähte das Kind freudig, und er wandte sich mit einem genervten Seufzer zum Fenster.
„Fahren Sie auch nach Hause?“
Jo blinzelte, erkannte dann, dass die alte Frau gesprochen hatte und offensichtlich ihn meinte.
„Nein“, knurrte er und schlang die Arme fest um die Brust, als sei ihm kalt. Das hatte ihm noch gefehlt, eine geschwätzige Alte.
„Nicht? Wie schade.“ Die Frau schaute mitleidig. „Da werden Ihre Eltern aber traurig sein.“
„Möglich.“
„Wo fahren Sie denn hin?“
Jo stöhnte innerlich auf. Die Alte war wirklich anstrengend. „Zu einem Freund“, antwortete er und hoffte, dass sein schroffer Tonfall ihr deutlich machte, dass er keinen Bedarf an einem Gespräch hatte.
Die Alte war entweder auf diesem Ohr taub oder es schien sie nicht zu stören. „Wissen Sie, ich besuche meine Tochter“, plauderte sie munter weiter und lächelte. „Sie und ihr Mann waren lange im Ausland, und das ist das erste Weihnachtsfest seit mehr als zehn Jahren, das wir gemeinsam feiern werden.“
„Hmmm.“ Jo drehte die Lautstärke des MP3-Players lauter und starrte aus dem Fenster. Doch die Alte schien inzwischen in Fahrt gekommen zu sein.
„Wissen Sie, ich werde heute Abend mein Enkelchen sehen. Meine Tochter und ihr Mann waren in Japan, und der Flug ist so teuer. Mit meiner Rente konnte ich das Ticket nicht bezahlen. Es ist ein Mädchen, ein niedliches Mädchen. Ich habe ihr ein Jäckchen gestrickt, aus guter Wolle, nicht dieses künstliche Zeug, das man sonst überall bekommt.“
Der Schaffner bewahrte Jo davor, weitere Details aus dem Leben des Enkelchens zu erfahren. Nachdem er seine Karte vorgezeigt hatte, drehte er sich dankbar zum Fenster und bekam noch mit, dass sich der Mann von gegenüber erkundigte, ob sie pünktlich in Magdeburg sein würden, da seine Frau ihn und das Kind dort erwarten würde. Bestürzt mischte sich die Alte ein, warum er so spät am Heiligen Abend noch unterwegs sei, und kramte aus ihrer Handtasche eine Riegel Schokolade hervor, den sie dem kleinen Jungen gab, der freudig jauchzte.
Jo versuchte nicht mehr hinzuhören, während Greenday durch seine Kopfhörer dröhnte und er in die Nacht hinausstarrte. Verwundert stellte er fest, dass die Dunkelheit heller geworden war, durchsetzt von dichtem Schneefall, stark genug, um die Schwärze in ein undefinierbares Grau zu verwandeln. Wenigstens gab es in Berlin Straßen- und U-Bahnen, so dass er nur ein kurzes Stück durch den Schnee würde laufen müssen. Lutz hatte sicher schon Pizza bestellt. Bei dem Gedanken gab sein Magen ein dumpfes Grollen von sich, und ihm fiel ein, dass er außer den Cornflakes heute Morgen noch nichts gegessen hatte. Aber in zwei Stunden würde er ohnehin in Berlin sein, und dort gab es zur Not genügend Dönerbuden, die den Weihnachtszirkus nicht mitmachten. Greenday in den Ohren dämmerte er weg.
Der Zug ruckelte, dann stand er still. Verwundert schaute Jo auf. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie inzwischen längst in Magdeburg hätten ankommen sollen, doch statt des Bahnhofs lag alles ringsherum in Dunkelheit versunken, durchsetzt von Schneetreiben, das die wirbelnden Flocken gegen die Fenster drückte.
Jo seufzte und wollte sich wieder in seine Musik vertiefen, als der Schaffner sichtlich aufgebracht an ihnen vorbeihastete.
„Oh Gott, es wird doch wohl nichts passiert sein?“ Die alte Frau hatte eine Hand vor den Mund geschlagen und schaute bestürzt in die Richtung, in der der Mann verschwunden war.