Der Büchereulen-Adventskalender 2006

  • 1. Dezember 2006 von flashfrog



    Wunschzettel


    Liebes Christkind, schreibt die Schnecke,
    ich wohne in der Weinberghecke
    Nummer 21a.
    Mein Name ist Amalia.


    Meine Nachtgebete weiß ich,
    war in der Schule immer fleißig,
    und es gab nur selten Tadel.
    Bin ein braves Schneckenmadl.
    War immer höflich, nett und lieb.
    Doch neulich kam ein Schneckendieb,
    hat in diesen dunklen Tagen
    meine Eltern fortgetragen,
    die nun im Schneckenhimmel sind.
    Bin ein armes Waisenkind.


    Ich wünsche mir zur heilgen Nacht
    (wenn es nicht zu viel Mühe macht)
    nur ein ganz besondres Futter:
    Einen Koch in Kräuterbutter.

  • 2. Dezember 2006 von Eny



    Das Christkind von Lima


    Fünfter Stock des einzigen Hochhauses im Slum von Lima: Ein Mädchen, bestimmt nicht älter als 14 Jahre, schlüpft so leise wie möglich durch einen engen Türspalt, eine dicken Tüte unter dem Arm. Das Messingschild neben dem Eingang weist sie als Angehörige der Familie Cortés aus, oder als Besucherin. Aber warum sollte ein Kind Heiligabend woanders verbringen, als im Kreis seiner Familie? Das Mädchen – nehmen wir einfach an, dass es sich um Señorita Cortés handelt – betritt den Fahrstuhl und stellt ihre Last auf den Boden. Der Lift fährt sie hinunter ins Erdgeschoss.
    Als sie das hohe Gebäude verlässt, ist es draußen bereits dunkel. Nach wenigen Minuten Fußmarsch befindet sie sich zwischen flachen Hütten aus Stein und Lehm, die ein großes Labyrinth bilden. Die Bewohner ihres Hochhauses vergessen über ihrem Wohlstand und Geld gerne, dass sie umgeben sind von bitterer Armut und Dreck: dem Slum von Lima. Aber Señorita Cortés setzt nicht dieses angeekelte Gesicht auf, mit dem ihre Nachbarn diese Gegend bedenken.
    Sie betritt eine der engen Nebengassen, in denen man sich so gut verlaufen kann. Schließlich bleibt sie vor der Tür einer kleinen Hütte, ach was, eines Verschlages, stehen. Im Inneren hört man die Stimme von zwei oder drei Kindern, durch das einzige Fenster sieht man Feuerschein. Señorita Cortés setzt ihre Tüte ab und holt ein kleines rotes Päckchen heraus. Für Elsa von Mama, kann man im Licht des Feuers darauf entziffern, in goldenen Buchstaben. Sie legt es vor der Tür nieder und geht zum nächsten Haus, wo sie ein Geschenk in blauem Papier niederlegt. Auf diesem Päckchen steht Für Elsa von Papa, diesmal in silbernen Lettern. So geht sie weiter, vor jeder Tür lässt sie ein Paket in buntem Geschenkpapier zurück. Auf jedem prangt derselbe Name: Elsa. Von Mama, Von Papa, Von Tante Anna, Von Oma, aber immer Für Elsa.
    Schließlich ist die Tüte leer.
    Elsa Cortés lässt sie bei ihrem letzten Geschenk zurück und macht sich auf den Heimweg.

  • 3. Dezember 2006 von blaustrumpf



    Festtagsgonfi – Erwachsenenversion


    Zutaten
    2 Flaschen guter, trockener Sekt
    1 Piccolo ebendieses Sektes
    (Dispens für alle, die dieses Rezept ausprobieren wollen, aber noch unter 16 Jahren alt sind, oder die aus anderen Gründen des Alkohols entsagen)
    2 Tüten Gelierzucker
    Zimt, gemahlen
    eventuell Anis, gemahlen
    Weitere Gewürze nach Geschmack
    Blattgold


    Festagsgonfi – Alkoholfreie Version


    Zutaten
    2 Flaschen sehr guten Traubensaft, wenn es geht, sortenrein
    Der Piccolo entfällt, sonst Zutaten wie oben.


    Kleine Einmachgläser mit Schraubdeckeln gibt es im gut sortierten Fachhandel.
    Blattgold gibt es nicht bei der Degussa oder beim Zahnarzt, sondern in Geschäften, die sich auf Malerbedarf spezialisiert haben, sehr gut sortierte Bastelgeschäfte haben es bisweilen auch.


    Zubereitung:
    Den Piccolo kalt stellen. (Oder eben nicht)
    Die Gläser und Deckel sorgfältig spülen und in klarem, heißem Wasser stehen lassen.
    Entscheidung treffen: Wie soll die Gonfi werden – eher ein bisschen süß und schnittfest oder eher herb und tropffreudig? Davon hängt die Menge des verwendeten Gelierzuckers ab. Ich habe die besten Resultate mit einem Sekt (oder Saft)-Zucker-Verhältnis von 1:1 erzielt.


    Die Sektflasche öffnen. Je wärmer der Sekt ist, desto leichter sprudelt er über. Wir hätten ihn vielleicht doch kalt stellen sollen? Je nun.


    Fürs nächste Mal: Sektflaschenöffnen für Fortgeschrittene
    Folie (Alukapsel) über dem Korken entfernen. Draht lockern. Handtuch über den Korken legen und am Flaschenrand so festhalten, dass der Korken nicht losschießen kann. Mit der anderen Hand den Korken vorsichtig drehen, bis er sich von selbst hebt. Mit dem Handtuch ordentlich gegenhalten, so dass der Korken nur allmählich rauskommt. Dann macht es zwar nur äußerst dezent plöpp, aber das gehört sich eh nur auf Junggesellenpartys.


    Warum das so ausführlich? Weil der Rest so schnurzeinfach ist, dass man nebenher ganz prima den Piccolo trinken kann. Wenn man nicht gerade die alkoholfreie Version zubereitet.


    Den Sekt (oder Traubensaft) in einen – ja, das muss leider so sein – sauberen Topf geben.
    Gewürze dazu. Vorsicht, der Zimt färbt stark, da wäre ich nicht zu großzügig mit. Anis, für die die ihn mögen, oder andere Gewürze nach Geschmack (auch Safran färbt sehr stark!).
    Gelierzucker einrühren.
    Nach der Anleitung auf der Tüte aufkochen und für die dort angegebene Zeit am Kochen halten.
    Das Blattgold kann man auf einem Brettchen in kleinste Fitzelchen zerteilen. Das tut aber nicht wirklich Not, bei energischem Rührbeseneinsatz gibt es sowieso Kleinflitter.


    Wenn die auf der Tüte angegebene Kochzeit fast rum ist, die Einmachgläser aus dem heißen Wasser holen (Vorsicht! Heißes Wasser heißt so, weil es so ist!) und auf ein Handtuch stellen. Tipp für Spezialisten: Öffnung nach oben!


    Mit einem Schöpflöffel die heiße Geleemasse in die Gläser füllen. Sollte sich das Blattgold nicht so anmutig verteilt haben wie erhofft, ein bisschen mit einer Gabel rühren. Gläser zuschrauben und mit dem Deckel nach unten hinstellen.


    Nun der wichtigste Teil:
    Betrachte Dein Werk wohlgefällig.
    Leere die Piccoloflasche auf Dein Wohl.
    (Oder belohne Dich sonstewie)


    Wenn die Gläser abgekühlt sind, kannst Du sie prima verzieren. In der Zwischenzeit: Küche aufräumen, Schlachtfeld beseitigen etc.


    Eine fröhliche Adventszeit wünscht


    Inge Lütt
    (blaustrumpf)

  • 4. Dezember 2006 von magali



    Barbarazweige


    Gregor stapfte verdrossen den Pfad entlang. Der frische Schnee wirbelte auf und ließ sich dann auf den Spitzen seiner Stiefel nieder. Er trat fester auf, er mochte Schnee nicht. Der Nordwind wehte scharf, ihm war kalt. Warum tat er sich das an? Jedes Jahr dieses alberne Theater. Konnte sie nicht einfach Hasel im Blumengeschäft kaufen? Mußte es immer dieser Kirschbaum sein? Er warf Wiebke einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte die Kapuze übergestülpt, nur ein paar helle Löckchen kringelten sich unter dem Pelzbesatz hervor. Den Kopf hielt sie aufrecht, ihre Augen sahen sicher kerzengeradeaus. Das war es, was ihm aufgefallen war vor siebzehn Jahren, als sie ins Büro gekommen war, dieser geradeaus gerichtete Blick aus schmalen blauen Augen. Sie wirkte zupackend und kompetent. Erdverbunden. Wie hatte er sich so irren können.
    Wiebke, die perfekte Sekretärin, Hausfrau und Mutter entpuppte sich als eine noch perfektere Träumerin. Sie hatte es mit Drachen und Elfen, mit Feen und Wurzelzwergen. Wie eine Epidemie hatten sich die Geschöpfe im Lauf der Jahre in seinem Haus ausgebreitet. Wohin man sah, stand, saß oder schaukelte so ein dämliches Ding.
    Heute war es wieder besonders schlimm gewesen. Gleich nach dem Mittagessen hatte sie sich ans Fenster gestellt und über eine Stunde stumm nach draußen gesehen. „Laß uns gehen“, hatte sie plötzlich gesagt.
    „Warum jetzt?“ hatte er gefragt und sich sofort geärgert. Interesse zeigen, das steigerte ihren Wahn doch noch.
    „Schau.“ Sie hatte zum Himmel gezeigt. Dunkelgraue Wolken zogen vorbei.
    „Ich schaue. Und?“
    „Das sind die Lastschlitten vom Nikolaus. Sie fahren zu den Zwergenwerkstätten. Die Weihnachtsgeschenke sind fertig, die Spielsachen bunt bemalt, die Nüsse vergoldet. Nun holen sie die Geschenke ab.“
    Gregor hatte ungläubig die Wolken angestarrt. Sie waren langgestreckt, ein wenig rechteckig. Helle, am hinteren Ende aufgebogene Wolkenschleier, die unterhalb der dunklen schwebten, konnten eine Andeutung von Kufen sein und die dünnen grauen Streifen in halber Höhe des vorderen Teils der Wolkenbank mit viel Phantasie als Zügel durchgehen.
    „Keine Zugpferde. Sie fahren wohl mit Benzin?“
    „Sie werden von Rentieren gezogen. Die kann man nur in der Weihnachtsnacht sehen“, hatte Wiebke sanft lächelnd erklärt.
    „Und warum mußt du ausgerechnet jetzt diesen idiotischen Spaziergang machen?“
    „Das ist das Zeichen.“ Der Anflug von Trotz in ihrer Stimme hatte ihn verstummen lassen.


    Warum tat sie sich das an? Wiebke spürte Gregors Abwehr fast so stark wie den Nordwind. Ihr war kalt. Aber sie würde sich nicht davon abhalten lassen, am Tag der schönen Barbara Zweige zu schneiden. Vier Zweige noch vor dem Vesperläuten, für jeden in der Familie einen. Sie würde sie in warmes Wasser stellen und hegen und hüten, damit am Christtag, dem Tag des großen Wunders, ihr kleines Wunder geschah. Kirschblüten für Gregor, für Christopher und Gerald.
    Dabei lebten die Jungen nur noch in den Ferien bei ihnen. Eigentlich war es verrückt. Sich vorzustellen, daß sie, Wiebke, das graue Mäuslein, und Gregor, Buchhaltungsexperte und Solidität auf zwei Beinen, zwei Wunderknaben gezeugt hatten. Es war schließlich Solidität gewesen, die sie dazu bewogen hatte, damals Gregors Antrag anzunehmen. Er war fünfzehn Jahre älter und lebte in gesicherten Verhältnissen. Mit achtzehn war sie eine kleine Sekretärin gewesen, mit neunzehn sagte sie dem Büro Adieu und wurde Ehefrau. Es gefiel ihr, hinter den schützenden Mauern eines Hauses zu leben, hinter einer festen Tür, mit der sie die äußere Welt aussperren konnte, um eine eigene Welt zu bauen. Die Jungen liebten sie und diese Welt, ihre Geschichten von Feen, Zwergen und Drachen. Doch inzwischen besuchten die beiden Internate für Hochbegabte. Gregor meinte, daß es besser wäre. Sie war mit den Geschichten allein geblieben.
    Sie atmete tief ein und bereute es sofort, die kalte Luft schmerzte in der Kehle. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Traurige Gedanken gehörten sich nicht am Barbaratag. Es war ein Tag der Hoffnung, Blüten bedeuten doch Wärme, neues Leben und Glück.


    Hinter den alten Schrebergärten, die sich am Rand der Siedlung erstreckten, lag das Wäldchen, ein kleiner Flecken Land mit dichtem Buschwerk, das von einem schmalen Trampelpfad durchzogen wurde. Er führte zu einigen verwilderten Obstbäumen. Nur ein Mal im Jahr, Anfang Dezember, zog es sie dorthin. Gregor begleitete sie. Nie würde er sie allein gehen lassen, es war unvorstellbar für ihn, daß sie etwas allein unternahm. Selbst wenn es mit ihrem „Märchenkrams“ zusammenhing.
    Dabei war die Geschichte der Heiligen Barbara kein Märchen. In der Kirche am Markt stand die Statue der Schutzheiligen. In der Hand hielt sie einen dickbauchigen grauen Turm, in dem sie der Legende nach von ihrem Vater eingeschlossen worden war. Es war eine ganz alte Statue. Wiebke hatte die gelben Haare, das Rosenmündchen und das Knallrot des Mantels insgeheim kitschig gefunden und die grausige Legende auf der Wandtafel daneben übertrieben. Aber die Sache mit den Kirschzweigen war schön. Und das Wäldchen erschien ihr heute, so mit Schneestaub überpudert, wie ein richtiges Märchenland.
    Sie hatten die Schrebergärten gerade hinter sich gelassen, als sie helle Stimmen aus dem Wäldchen hörte, und dann ein leises Klingen wie kleine Glocken. Sie verlangsamte ihren Schritt.


    „Was ist denn?“ fragte Gregor unwirsch.
    „Da sind Kinder, ich will sie nicht erschrecken.“
    „Was für Kinder? Hier ist niemand.“
    „Eben haben sie noch gesprochen. Hast du sie nicht gehört?“ Wiebke schob die Kapuze zurück. „Da vorne.“
    „Ich habe nichts gehört.“
    „Doch, ganz bestimmt. Sie haben einen Schlitten dabei mit Glöckchen und ...“ Unter Gregors Blick brach Wiebke ab.
    „Schon wieder dein Schlitten“, sagte er scharf. „Siehst du hier Spuren?“ Er wies auf den Boden. „Keine Fußabdrücke, gar nichts, nicht mal Spuren von Krähen. Frischer Schnee. Nichts sonst.“
    Wiebke betrachtete den Pfad. „Vielleicht sind sie vor dem Schnee gekommen“, meinte sie zaghaft. Sie lauschte, aber es war nichts mehr zu hören.
    „Hier ist niemand. Du wirst den Wind gehört haben.“ Gregors Stimme war jetzt laut.
    „Du hast recht“, sagte sie schnell. Sie haßte es, wenn er laut wurde. „Ich habe mich wohl verhört.“
    „Verhört! Eingebildet hast du es dir. Bei der Kälte Kinder! Unsinn. Warum nicht gleich deine Elfen oder Wichtel. Als nächstes siehst du noch Barbara in eigener Person.“
    Gregor hätte gern weitergeschimpft, aber die eisige Luft schnürte seine Kehle zu. Er sah, wie Wiebke die Schultern einzog. Es war ihm gleich, er hatte genug. Das war das letzte Mal, daß er sich auf so etwas einließ. Sobald sie wieder zuhause waren, würde er den ganzen Mist einsammeln und aus dem Haus werfen. Zwergenwerkstätten, Nikoläuse, Feen, Rentiere, bah! Schluß damit. Er rannte jetzt fast.


    Zwischen den Büschen war es ziemlich dunkel. Wiebkes Augen flogen über den Boden auf der Suche nach einem Fußabdruck, nach der Spur einer Schlittenkufe, einem Beweis, daß sie sich nicht geirrt hatte. Doch da war nichts.
    ‚Er hat eben recht’, dachte sie entmutigt. ‚Ich habe es mir eingebildet, wie ich mir alles einbilde. Immer schon, mein ganzes Leben lang.’ Plötzlich wußte sie, daß sie seine Gegenwart nicht länger ertrug.
    „Ich muß mal“, sagte sie laut.
    „Was?“ Gregor blieb abrupt stehen.
    „Ich muß mal“, wiederholte Wiebke. Sie war schon dabei, sich durch die Haselbüsche zu drängen. „Warte hier. Ich bringe die Zweige mit. Brauchst dich nicht zu kümmern.“ Fast panisch zwängte sie sich zwischen die Büsche. Die Zweige bewegten sich heftig, Schnee rieselte zu Boden, dann war sie verschwunden.


    War das zu fassen? Gregor hob die Hände. Warum mußte sie nach dem Essen auch immer Tee trinken. Pinkeln in dieser Kälte!
    „Weg mit dem Gerümpel“, sagte er laut. Seine Stimme klang seltsam hohl hier. Er ging ein paar Schritte vorwärts, die Arme ausgestreckt, weil die Büsche den Weg fast überwuchert hatten. Die Zweige wichen zur Seite und schlossen sich wie auf Befehl hinter ihm. ‚Klar, ich befehle’, dachte er zufrieden.
    Er warf einen Blick über die Schulter. Der Weg musste eine Biegung gemacht haben, er konnte die Schrebergärten nicht mehr sehen. Eigenartig, daß ihm das früher nie aufgefallen war. Er sah auf. Der Himmel war jetzt dicht bewölkt, es herrschte ein eigentümlich lichtloses Grau. Der Wind hatte sich gelegt, kein Laut war mehr zu hören.
    „Frei“, wiederholte er. „Frei soll alles sein!“ Die Worte kamen ihm verrückt vor, als ob sie ein anderer sprach. Er schüttelte den Kopf. Dummes Zeug. Er sah auf die Uhr. Wo blieb sie nur?
    „Wiebke?“ rief er. Niemand antwortete. Gregor konnte spüren, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Trotzdem fror er noch mehr als zuvor. ‚Ruhe’, befahl er sich, aber es half nichts. Auf einmal fühlte er sich allein.

  • Wiebke drückte rücksichtslos die Zweige zur Seite. Nur fort, fort von ihm. Nach ein paar Schritten taumelte sie auf eine lichtere Stelle hinter dem Haselgebüsch. Aufatmend hielt sie inne und erschrak. „Oh, Verzeihung!“ sagte sie laut.
    Im nächsten Moment schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Das war der alte Sandsteinfelsen, kein Mann. Wie konnte sie nur so dumm sein. Ein wenig ähnelte der Felsen aber tatsächlich einem der Hirten in den langen Mänteln, die früher auf den Wiesen Schweine und Schafe gehütet hatten. Heute waren die Wiesen überbaut und die Hirten verschwunden.
    „Ich muß aufhören damit!“ sagte sie laut. Sie schlug die Hand auf den Mund. Aber gesagt war gesagt.
    ‚Aufhören’, dachte sie. ‚Aufhören mit den Geschichten, den Wichteln und Elfen.’ Die Kinder waren Teenager. Sie war Ende Dreißig, eine erwachsene Frau.
    Ihre Blase drückte jetzt tatsächlich, Wiebke sah sich um. Sie hätte die zweite Tasse nicht trinken sollen. Gregor hatte recht gehabt. Immer hatte er recht. Er kannte die Welt.
    Sie machte schutzsuchend einen Schritt zum nächsten Busch hin. Albern. Hier war doch niemand, das war nur ihr Schamgefühl, warum sie sich beobachtet fühlte.
    „Ich muß wirklich“, sagte sie entschuldigend und trotzig zugleich. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwand. Na, bitte, sie mußte sich nur durchsetzen. Sie schob den Anorak hoch. Als sie in die Hocke ging, entdeckte sie nur einen Schritt vor ihr die Spuren kleiner Stiefelabdrücke, die im Gebüsch verschwanden.
    ‚Hier waren sie gewesen.’ Erleichterung durchströmte sie zugleich mit dem warmen Fluß, der sich unter ihr ergoß. ‚Ich habe mich nicht geirrt’. Lächelnd musterte sie die Spuren. Es mußten allerdings sehr kleine Kinder gewesen sein, sie konnte sich nicht erinnern, daß Gerald oder Christopher jemals so winzige Schuhe getragen hatten. Nun, die Kinderzeit lag lange zurück.
    Sie erhob sich und richtete die Kleider. Sie hatte sich nicht verhört und sie war keine Träumerin. Immer hatte sie gewußt, daß die Geschichten nur Geschichten waren. Sicher hatte es eine Zeit gegeben, als sie an Märchenwesen geglaubt hatte. Ihre Mutter hatte ihr unzählige Geschichten vorgelesen und war mit ihr im Wald spazierengegangen. Moos hing dort von den Bäumen, das sie ‚Zwergenbart’ genannt hatte, und die Fliegenpilze ‚Hexenzauber’. Doch als Wiebke erwachsen wurde, war sie aus der Märchenwelt herausgeglitten, wie man auf einer Rolltreppe in ein anderes Stockwerk gleitet. Fast unmerklich, aber unaufhaltsam aus der Märchenzeit heraus und hinein in die Welt.
    ‚Ich habe es nicht glauben wollen’, dachte sie. ‚Versteckt habe ich mich. In den Geschichten. Hinter Gregor. Hinter den Mauern.’
    „Barbara muß aus dem Turm heraus“, sagte sie laut. „Ich muß den Turm verlassen!“ Es klang verrückt, aber sie mußte neu beginnen. Sie würde direkt nach Hause gehen und die Vergangenheit wegpacken. In Gregors Büro suchten sie eine Sachbearbeiterin. Sie würde sich heute noch bewerben.
    Wiebke straffte die Schultern und schüttelte die Locken zurecht. Sie warf einen letzten Blick auf die Stiefelabdrücke. Wenn sie aufrecht stand, waren sie kaum zu sehen, so winzig waren sie. Um sie herum glitzerte es.
    „Feenstaub“ sagte sie halblaut. „Zwergenspuren und Feenstaub von den goldenen Nüssen.“ Sie warf den Kopf zurück und lachte laut. Was für ein kindischer Unsinn. Die Sonne strahlte vom blauen Winterhimmel. Ihre Strahlen ließen den Schnee funkeln und glitzern. Es war wunderschön, aber kein Wunder. Es gab keine Zwerge, es gab nur kleine Kinder. Nüsse waren golden, weil man einen Pinsel in die Hand nahm und sie anmalte. Alles ließ sich erklären und das war das Schönste überhaupt. Wo Vernunft war, war das Glück.
    Sie würde hier keine Zweige mehr schneiden. Warum einen alten Baum quälen und noch dazu riskieren, daß sie einen toten Zweig abschnitt? Sie würden beim Blumengeschäft vorbeigehen, dort wußten sie Bescheid. Sie würde Zweige kaufen und die würden sicher blühen.
    „Gregor?“ Wo war er? Männer waren so unvernünftig, nie blieben sie stehen, wo sie stehen bleiben sollten. „Gregor?“


    War Nebel aufgekommen? Gregor bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Die Luft war erstickend. Das Wäldchen schien so dunkel. ‚Wie in einem Tunnel’, dachte er. ‚Ich habe mich in einem Tunnel verirrt’. Seine Hände waren schweißnaß. ‚Mein Leben ist ein Tunnel.’
    Das Büro am Tag, das ruhige Reihenhaus am Abend. Seit die Jungen im Internat waren, war es noch ruhiger geworden. Er vermißte die Jungen. Farbe in sein Leben brachten nur Wiebkes Märchen und ihre kleinen Figuren. Zu jeder kannte sie eine Geschichte. Warum hatte er sie nie hören wollen? Das mußte sich ändern. Er brauchte sie doch, das Licht, die Wärme.
    Hatte da etwas geraschelt?
    „Wiebke?“ fragte Gregor voll Angst. Keiner antwortete. ‚Ich muß hinaus’, dachte Gregor. ‚Hinaus aus diesem Tunnel.’ Er machte drei unbeholfene Schritte vorwärts. Das Wäldchen war klein, der Weg mußte doch bald enden.
    War da ein Funkeln? Kam die Sonne zurück? Er reckte den Kopf. Im nächsten Augenblick schloß er geblendet die Augen. Ein Blitz, es hatte geblitzt. Er stöhnte leise, seine Stirn schmerzte von dem grellen Licht. Er holte Luft und blinzelte dann vorsichtig durch die halbgeschlossenen Lider. Da war sie ja. Erleichterung durchströmte ihn. Er öffnete die Augen ganz. „Wieb ...“, begann er.
    Da stand eine Frau auf dem Weg, nicht besonders groß und blond. Aber es war nicht Wiebke. Ihre Haare waren weder weißblond noch kurzgelockt, sondern goldfarben, und sie flossen in sanften Wellen über ihren Rücken bis fast zur Taille. Sie trug auch keinen Anorak, sondern ein weißes langes Kleid und darüber einen hellroten Mantel, dessen weiche Falten sie umschmeichelten. Um sie herum flirrte und flimmerte Licht wie ein feiner Schleier. Sie war sehr jung und sie war wunderschön. Schöner als alles, was er je gesehen hatte.


    Die Frau musterte ihn eingehend, dann verzogen sich ihre Rosenlippen zu einem Lächeln. Gregor konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. Auf einmal war die ganze Welt strahlend hell. Er spürte Wärme, die ihn durchströmte, sein Lächeln verwandelte sich in ein lautes Lachen. Nie zuvor hatte er so etwas gefühlt. Ein solches Glück, Lachen und Licht.
    Nun hob sie die Hand und deutete auf einen Zweig gleich neben ihm. Etwas glitzerte auf, Gregor sah genauer hin. Dort hing eine kleine goldene Nuß. Er warf der Frau einen unsicheren Blick zu, sie nickte. Vorsichtig streckte er die Hand aus, im nächsten Moment fiel die Nuß hinein. Da lag sie, leuchtend und unendlich kostbar. Behutsam schloß er die Finger darüber. Sie war wunderbar warm. Er drehte sich um, wollte danken, etwas fragen, etwas sagen. Doch der Pfad war leer. Gregor blinzelte, dann öffnet er rasch seine Faust. Wieder strahlte das Gold der Nuß auf. Gregor holte tief Luft. Warum es abstreiten? Warum leugnen? Das alles war Wirklichkeit. Er hatte sie gesehen und sie hatte es ihm bewiesen. Nie mehr würde er zweifeln. Es gab sie, die Wesen aus der anderen Welt, und wo sie waren, war das Glück.


    „Da bist du ja!“ Wiebke kam den Weg entlanggelaufen, ihre Augen leuchteten.
    „Und die Zweige?“ fragte Gregor abwesend.
    „Der Baum ist tot“, erklärte Wiebke entschieden. „Wir gehen beim Blumengeschäft vorbei. Es muß ja nicht immer Kirsche sein. Wir können auch Hasel nehmen.“
    Vorsichtig glitt seine Hand mit der Nuß in die Hosentasche. Er konnte noch nicht darüber sprechen. Zuhause würde er ihr alles erzählen. Er würde sie endlich glücklich machen.
    Wiebke fiel in einen gemächlichen Trott an seiner Seite. Gregor mochte keine Überraschungen, man mußte ihm Zeit lassen. Zuhause würde sie ihm alles erzählen. Sie würde ihn endlich glücklich machen.

  • 5. Dezember 2006 von Nudelsuppe



    „Humbug, alles Humbug“, sagte Michael und trommelte mit den Fingern auf der Theke ein imaginäres Schlagzeugsolo.
    „Was ist Humbug?“
    „Weihnachten.“
    Ich trank einen Schluck Wodka und sah danach ins Glas, in dem sich das Licht der Bardekoration spiegelte. Ich nickte.
    „Frauen sind auch schlimm“, sagte Michael, hörte auf zu trommeln und dachte nach.
    Ich bestellte ein neues Glas Wodka und nickte, obwohl ich Frauen nicht schlimm fand.
    „Aber Weihnachten und Frauen zusammen, das ist die Hölle“, sagte er und fing wieder an zu trommeln.
    So langsam verstand ich, was er sagen wollte, und ich fragte „Warum?“
    „Lisa will einen Tannenbaum, und ich soll ihn besorgen.“
    „Hm, ja.“
    „Das heißt, ich bin so gut wie verheiratet.“ Er hörte wieder auf, Lärm zu machen.
    „Das wird schon“, sagte ich.
    Jetzt kippte Michael den Wodka hinunter und bestellte einen neuen. Für mich gleich mit.
    „Was soll ich jetzt machen?“ fragte er.
    „Das, was sie sagt.“
    „Meinst du wirklich?“
    „Nein. Aber alles andere hat keinen Sinn.“
    Er überlegte. Er überlegte lange, zum Glück hielt er dabei die Finger still. Ich trank drei Wodka, die Lichterkette verschwamm langsam zu einem Bandwurm, die anderen Gäste sahen schon viel sympathischer aus. Eine etwas ältere Frau mit langen Zöpfen und rosa Bluse am Stehtisch, die gerade in eine Bratwurst biss, wirkte auf mich sogar fast erotisch anziehend. Ich sah wieder in mein Glas und schwor, nächstes Jahr mit dem trinken aufzuhören.
    „Ich glaube, ich tue es“, sagte Michael.
    „Was?“
    „Sie heiraten.“
    „Hilft nichts. Du musst den Tannenbaum trotzdem besorgen.“
    Michael sah mich an. Nickte. Begann wieder Gene Crupa zu imitieren.
    „Na gut“, sagte er und legte seine Hände flach auf die Theke, „du hast Recht. Ich besorge also diesen verdammten Tannenbaum, und dann heirate ich sie.“
    Ich klopfte ihm auf die Schulter. Er grunzte. Wir stießen noch mal an, dann sah ich kurz hinüber. Die Frau schob den letzten Zipfel der Bratwurst in den Mund und lächelte mich an. Ich prostete ihr zu. Michael hatte Recht. Frauen und Weihnachten, das ist die Hölle. Aber wer will schon den Himmel, wenn es eine solche Hölle gibt?

  • 6. Dezember 2006 von Prinzesschen



    Eine Mutter, ein Kind und ein Problem


    „Duuuuuuu, Mama?“
    „Ja? Was ist denn?“
    „Wann kommt denn der Nikolaus endlich? Es ist doch schon so dunkel draußen.“
    „Er wird eben etwas später kommen.“


    ~~~


    „Mama?“
    „Was ist denn jetzt schon wieder?“
    „Warum liegt eigentlich draußen noch gar kein Schnee?“
    „Vielleicht hat Frau Holle dieses Jahr etwas länger Urlaub bekommen als sonst. Ich weiß es doch auch nicht.“
    „Aber wie soll denn dann der Nikolaus kommen, ohne Schnee?“
    „Er könnte doch auch laufen.“
    „Und die Geschenke? Kann er mir dann gar nichts mitbringen?“
    „Der Nikolaus wird sich schon was einfallen lassen. Vielleicht braucht er auch deshalb so lange. Ganz bestimmt bringt er auch dir etwas mit.“
    „Hoffentlich ist er bald da!“

  • 7. Dezember 2006 von SheRaven



    Hilfe vom Christkind


    „Katharina, komm schnell, wir wollen uns eine Weihnachtsüberraschung für Oma und Opa ausdenken!“ Marvin stürmte in Katharinas Zimmer und hüpfte vor Aufregung von einem Bein auf das andere, so aufgeregt war er bei diesem Gedanken. Auch Katharina gefiel diese Idee sofort.
    Die Kinder machten es sich in Melinas Zimmer unter dem Hochbett gemütlich. Melina hatte aus dem Küchenschrank ein paar Süßigkeiten gemopst und irgendwie war sie auch an eine Flasche Cola herangekommen. „Melina, du weißt doch, dass wir nicht so viel Cola trinken dürfen!“, entrüstete sich Katharina, aber Melina meinte, heute könnten sie ruhig mal eine Ausnahme machen, denn schließlich wollten sie sich eine Weihnachtsüberraschung für Oma und Opa ausdenken und wenn sie die Cola trinken würden, könnten sie bestimmt besser nachdenken. Katharina sah Melina etwas zweifelnd an. Marvin und Marius hatten bereits Gläser für alle aus der Küche geholt und Melina füllte diese bis zum Rand. Eine zeitlang hörte man nur genüssliches Schmatzen und Schlürfen, aber dann ergriff Marvin das Wort: „Also, hat jemand eine Idee, wie wir Oma und Opa überraschen können?“ „Wir können alle Fenster ganz bunt anmalen!“, krähte Marius, aber Melina meinte, sie wisse nicht, ob Oma und Opa sich darüber wirklich freuen würden. Katharina und Marvin konnten ihr nur zustimmen. Nachdenklich stopfte Melina sich noch ein Weihnachtsplätzchen in den Mund und nuschelte: „Wir können doch einen Weihnachtsbaum besorgen, da freuen sie sich doch ganz bestimmt“. „Opa hat vor ein paar Tagen doch schon einen Baum gekauft, er steht hinterm Haus“, warf Marvin ein. „Wartet, ich hab eine Idee!“, rief Katharina und sprang vor Aufregung auf, wobei die halbvollen Colagläser bedenklich wackelten. „Wir können den Baum doch für Oma und Opa schmücken!“ „Und wie und wann sollen wir das machen, ohne dass jemand etwas merkt?“, meinte Melina skeptisch. „Und wie sollen wir den Baum in den Ständer bekommen?“ Katharina runzelte nachdenklich die Stirn und sagte bedächtig: „Das macht Opa. Einer von uns geht zu ihm hin und sagt, dass es doch viel praktischer wäre, wenn er den Baum schon heute im Ständer festmachen würde. Und wir können ihn – also, den Baum, nicht Opa – dann morgen Vormittag schmücken, während Oma und Opa einkaufen sind!“ „Ja das ist eine super Idee“, strahlte Marvin und auch Marius hüpfte zustimmend auf und ab. Die Kinder einigten sich darauf, dass Katharina mit Opa reden sollte, und bevor sie ihre geheime Zusammenkunft auflösten, schärften sie Marius noch mal ein, ja kein Wort zu verraten.


    Am Morgen des 24. Dezembers wachten alle vier schon sehr früh auf, denn sie hatten ja noch viel Arbeit vor sich. Marvin und Katharina hatten sich bei Oma und Opa getroffen, um zu sehen, wann die beiden das Haus verlassen würden. Da, jetzt war es endlich soweit! Oma zog sich in aller Ruhe ihre Jacke an, während Opa schon mal das Auto aus der Garage holte. „So Kinder, wir sind dann mal weg“, sagte Oma. Katharina und Marvin konnten vor Aufregung nur nicken. Kurze Zeit später hatten sich auch Melina und Marius eingefunden und gemeinsam machten sie sich auf, den Weihnachtsbaum, den Opa tatsächlich gestern noch im Weihnachtsbaumständer festgemacht hatte, hereinzuholen. „Oh Mann, ist der aber groß!!“, staunte Marvin, aber Melina überlegte schon, wie sie den Baum am besten ins Wohnzimmer tragen sollten. „Zuerst ziehen wir uns mal dicke Handschuhe an, damit die Nadeln nicht so pieksen und dann kippen wir den Baum am besten ganz vorsichtig um und fangen ihn dabei auf, damit die Äste nicht abbrechen“, meinte sie. Gesagt, getan, schon bekam der Baum einen leichten Schubs und fiel um, aber Katharina und Marvin fingen ihn gekonnt auf. Dann trugen die Kinder den Baum gemeinsam ins Wohnzimmer ihrer Großeltern. Melina umfasste dabei den Stamm, dann kam Katharina, dann Marvin und ganz vorne, die Spitze des Baumes umfasst, ging Marius. Das Aufstellen des Baumes bereitete ihnen zwar einige Schwierigkeiten, aber gemeinsam schafften sie es schließlich doch. Dann holten sie, ebenfalls gemeinsam, den Christbaumschmuck aus dem Keller herauf und machten sich daran, die Weihnachtsüberraschung für Oma und Opa zu vollenden. Vorsichtig öffneten sie die vielen Kartons und staunten und freuten sich über die glänzenden Kugeln und das glitzernde Lametta. Aber wo war die Lichterkette für den Baum? Ach, da drüben lag sie ja! Geschwind hatten die Kinder die Kerzen an den Ästen des Baumes befestigt. Dann begannen sie, den Baum zu schmücken. Marius hängte große goldene Kugeln an die unteren Äste, Katharina und Marvin nahmen die etwas kleineren Kugeln und hängten diese in den mittleren Teil des Baumes und Melina machte sich daran, die obersten Äste zu schmücken, wobei sie allerdings auf einen Stuhl klettern musste, um auch die Spitze zu erreichen.
    Dann endlich war aller Schmuck aufgebraucht und die Kinder bestaunten ihr gemeinsames Kunstwerk. Wie wunderschön sah der Baum nun aus! Es glitzerte und funkelte überall und die Kerzen zauberten kleine Sternchen in den so festlich geschmückten Christbaum. Die Kinder waren sprachlos. Plötzlich rief Melina: „Seht mal, es wird ja schon fast dunkel! Jetzt müssen wir aber schnell die Kartons wegräumen!“, und schon kurze Zeit später war alles wieder ordentlich. Dann löschte Katharina das Licht und nur die Kerzen des Weihnachtsbaumes brannten noch. „Als ob das Christkind persönlich den Baum geschmückt hätte, so schön ist er“, sagte sie ehrfurchtsvoll. Und Marvin sagte leise: „So einen schönen Baum hatten Oma und Opa noch nie!“
    Nachdem die Kinder den Baum noch eine Weile bestaunt hatten, fragte Marius, wann denn Oma und Opa wiederkommen würden. „Stimmt, eigentlich müssten sie doch schon längst wieder hier sein“, sagte Melina und rannte zum Fenster um hinauszusehen. Inzwischen war es richtig dunkel geworden und es hatte angefangen zu schneien. Es schneite sogar ganz gewaltig! In kürzester Zeit war alles weiß! Die Bäume sahen aus, wie mit Puderzucker bestäubt und große dicke Schneeflocken sorgten dafür, dass auch die Straße mit einer weißen Schicht bedeckt wurde. Alle vier Kinder sahen dem Treiben der Schneeflocken zu. „Wisst ihr“, sprach Katharina weiter, „ich mache mir wirklich Sorgen, das Oma und Opa etwas passiert ist. Was ist, wenn sie im Schnee stecken geblieben sind? Sie sind schon so lange weg!“ Katharina machte ein ängstliches Gesicht und auch Marvin und Melina waren auf einmal sehr besorgt. Nur Marius machte ein fröhliches Gesicht und sagte: „Wenn die beiden im Schnee stecken geblieben sind, dann kann das Christkind ihnen doch helfen! Das ist doch bestimmt schon unterwegs!“ „Aber woher soll das Christkind denn wissen, wo Oma und Opa sind?“, fragte Melina verzweifelt. „Das Christkind weiß alles“, sagte Marius entschieden.

  • Plötzlich hörten die Kinder, wie sich die Haustür öffnete und die Großeltern prustend die Treppe hinauf stapften. „Oma, Opa!“, riefen alle vier erleichtert, rannten auf die beiden nassen Gestalten zu und umarmten sie heftig. „Kinder, ihr schmeißt uns ja noch um!“, japste Oma und hielt sich am Treppengeländer fest, denn sonst wäre sie wirklich umgefallen. „Wenn ihr wüsstet, was uns passiert ist! Aber lasst uns erst mal hereinkommen, dann erzählen wir euch alles!“ Während Oma und Opa sich trockene Sachen anzogen, bereitete Melina eine Kanne heißen Tee zu. Dann betraten Oma und Opa das Wohnzimmer. Und konnten überhaupt nicht mehr aufhören zu staunen. „Wo kommt denn dieser Weihnachtsbaum her?“, fragte Opa und machte große Augen. „War etwa das Christkind hier?“ „Jaaaa“, riefen Melina, Marvin, Katharina und Marius, „ aber es waren vier Christkinder!“
    Da staunten Oma und Opa gleich noch mal und die Kinder lachten.
    „Und jetzt erzählen wir euch, was uns heute passiert ist“, begann Opa und Oma sprach weiter:
    „Nachdem wir alle Einkäufe erledigt hatten, war es schon recht spät geworden und wir wollten eine Abkürzung durch den Wald fahren, weil wir doch schnell wieder daheim sein wollten. Aber plötzlich fing es an zu schneien. Es schneite wie verrückt und ruck-zuck waren wir im Schnee stecken geblieben. Wir kamen einfach nicht mehr von der Stelle, egal, was Opa auch anstellte. Wir haben uns dann ins Auto gesetzt und gehofft, dass jemand vorbeikommt, der uns helfen kann. Wir warteten und warteten. Dann sahen wir plötzlich ein Glitzern und Schimmern durch die mit Schnee bedeckte Windschutzscheibe und dachten, ein anderes Auto wäre vorbeigekommen. Wir sprangen so schnell wir konnten aus dem Wagen, aber da war nichts. Plötzlich erblickten wir wieder etwas glitzerndes, aber diesmal weiter hinten im Wald. Opa und ich sahen uns erstaunt an. Es war uns, als wäre da jemand durch den Wald gehuscht. Dann hörten wir ganz deutlich ein leises Glockengebimmel, welches sich langsam entfernte. Dann war es wieder ruhig um uns herum. Wir wandten uns um, um wieder ins Auto zu steigen, da sahen wir, dass der Schnee vor unserem Auto ganz dick mit goldenem, glitzernden Staub bedeckt war. Ihr könnt euch vorstellen, wie erstaunt wir waren. Opa versuchte dann noch mal, aus dem Schneeloch herauszufahren, und dank des Goldstaubes ist es ihm auch gelungen. Die ganze Heimfahrt haben wir uns überlegt, woher dieser glitzernde Staub wohl so plötzlich gekommen ist, aber wir haben keine Erklärung dafür. Das wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Ein Weihnachtsgeheimnis“, beendete Oma ihre Erzählung.


    Melina, Marvin, Katharina und Marius grinsten geheimnisvoll, denn sie wussten genau, woher der glitzernde Goldstaub gekommen war.

  • 8. Dezember 2006 von Mariegod



    Gehaichnis


    Nathalie ist heilfroh, weil sie rechtzeitig an die Montage der Winterreifen gedacht hat. Mittags setzte überraschend der erste Schneefall für dieses Jahr ein. Eigentlich hat sie eine halbe Stunde Fahrzeit für den Heimweg eingeplant, aber heute würde sie wohl länger brauchen, um ihre Wohnung auf den kleinen Aussiedlerhof von Marie zu erreichen.
    Es ist der erste Winter, den sie auf dem Hunsrück erlebt. Im Frühjahr des Jahres hatte sie sich auf die ausgeschriebene Stelle als Touristikfachwirtin auf dem Flugplatz Hahn beworben und den Umzug aus dem Ruhrgebiet in die Provinz gewagt.
    Nervös trommelt sie auf das Lenkrad, kriecht im Schneckentempo über die verschneite Hunsrückhöhenstraße. Hunsrück! Sie lächelt bei der Erinnerung an die Reaktion ihrer Familie, als sie von ihren Umzugsplänen erzählte. „Wo liegt denn das? Was willst Du denn dort? Da sagen sich doch Fuchs und Hase gute Nacht“. Nathalie kichert leicht, denn nicht nur Fuchs und Hase leben hier denkt sie, sondern auch die Mopsfledermaus. Genau diese Mopsfledermaus hat es fast geschafft, den Ausbau der Startbahn zu verhindern. Aber die Mopsfledermaus wurde umgesiedelt, die Startbahn ist verlängert und der Job ist gesichert.
    Es schneit immer heftiger, die Fahrbahnbegrenzungen sind fast nicht mehr zu erkennen. Nathalie setzt den Blinker, bremst vorsichtig ab und biegt Richtung Rhein ab. Sie hofft, dass die Nebenstrassen geräumt sind, sonst muss sie sich auf eine Rutschpartie einstellen.
    Wie paradox das alles ist, denkt Nathalie. Da wohne ich nun auf einem kleinen Bauernhof fernab der Großstadt und sehe mehr von der Welt als früher. In der nächsten Woche würde sie nach Venedig und nach Mailand fliegen, um die touristischen Sehenswürdigkeiten des Hunsrücks an den Ständen in den Flughäfen von Treviso und Bergamo zu vermarkten.
    Doch jetzt ist ermal Wochenende, und morgen wird sie mit Marie für einen gemütlichen Einkaufsbummel auf dem Weihnachtsmarkt in die Landeshauptstadt fahren. Nathalie liebt Weihnachten, schon immer. Übermorgen ist bereits der zweite Advent, aber dieses Jahr will sich bei ihr einfach keine Weihnachtsstimmung einstellen. Wie auch bei dem ganzen Stress in der letzten Zeit? Und die ungewöhnlich milde Witterung gaukelte uns bis vor wenigen Tagen noch einen zweiten Frühling vor.
    Nathalie muss nun sehr langsam fahren, es geht bergab und immer wieder bremst sie vorsichtig. Sie hofft, dass Marie wohl mit einer Verspätung rechnen wird bei diesem Wetter, und mit dem Essen noch wartet. Bei dem Gedanken an das Essen beginnt prompt ihr Magen zu knurren. Marie hat ihr für heute Abend ein typisch Hunsrücker Mahl versprochen – Gefüllte Klöße. So heißt das Gericht auf hochdeutsch, in Mundart würde sie es nie aussprechen können ohne sich lächerlich zu machen. Der hiesige Dialekt gefällt Nathalie, sie hört ihn sehr gern und versteht ihn zunehmend besser. Einige Wörter sind wirklich lustig, denkt sie. So wie meggerlisch, was klein bedeutet, oder Strembel – das Hühnerbein, oder Flabbes – Depp. Die Hunsrücker Zeitung hat jetzt das schönste Hunsrücker Wort gesucht und gewonnen hat „Gehaichnis“! Seltsames Wort und niemand hat ihr erklären können, was es denn bedeutet. Das Wort gibt es nur auf dem Hunsrück wurde ihr gesagt. Es sei Ausdruck für ein ganz bestimmtes Gefühl. Sie nimmt sich vor, Marie nach der Bedeutung von „Gehaichnis“ zu fragen.
    Endlich erreicht Nathalie die Zufahrt zum Aussiedlerhof. Sie fährt langsam auf den Hof und stellt den Motor ab. Wie schön das Haus aussieht, warmes Licht scheint einladend durch die Sprossenfenster. Alles ist tief verschneit und die Schneeflocken fallen immer noch dicht herab. Nathalie steigt aus und genießt diese Winterlandschaft, die klare Luft, den Schnee und die Ruhe.
    Und ganz plötzlich ist sie da - die ersehnte Weihnachtsstimmung.
    Nathalie drückt die Türklinke herab und betritt das Haus. Ein köstlicher Duft schlägt ihr entgegen. Sie zieht Jacke und Schuhe aus und geht ins weihnachtlich dekorierte Wohnzimmer. Marie kommt ihr aus der Küche entgegen. „Da bist Du ja“ sagt sie lächelnd. „Das Essen ist in einer viertel Stunde fertig, wir können es uns noch ein wenig gemütlich machen.“ Gemeinsam setzen sie sich auf das bequeme Sofa und Nathalie spürt, wie die Anspannung der Fahrt von ihr abfällt. Sie schaut ins Kaminfeuer und betrachtet die brennenden Scheite. „Marie“ sagt Nathalie leise „gibt es ein schöneres Gefühl, als nach einer anstrengenden Woche nach Hause zu kommen, die Füße hochzulegen und sich rundum wohl und glücklich zu fühlen.“ Marie schließt die Augen, kuschelt sich tiefer in die Sofaecke und bestätigt „Ja, Nathalie. Das nennen wir Gehaichnis.“



    Rezept für Gefillte Klees – (Festessen im Hunsrück)


    Zutaten für 4 – 6 Personen


    200 g Lauch
    1 Zwiebel
    100 g durchwachsener Speck
    1 Brötchen
    300 g Hackfleisch
    Salz, Pfeffer, Paprika rosenscharf,
    1 Knoblauchzehe
    4 Eier
    750 g rohe Kartoffeln (mehlig)
    750 gekochte Kartoffeln (mehlig)
    ca. 200 g Mehl


    3 Eßl. Semmelbrösel
    80 g Butter


    Zubereitung:


    Für die Füllung den Lauch längs aufschlitzen und gründlich waschen. Die Zwiebel schälen, beides fein hacken. Das Brötchen und den Speck in kleine Würfel schneiden.


    In einer Pfanne den Speck auslassen. Das Hackfleisch unter Rühren krümelig braten, die Zwiebeln untermischen und kurz mitbraten. Die Brotwürfel unterrühren, kräftig mit Salz, Pfeffer und Paprika würzen. Die Knoblauchzehe schälen und durch die Presse dazudrücken.


    Den Lauch untermischen und weitere 10 Min. unter Rühren braten. Abschmecken, vom Herd nehmen und abkühlen lassen. Die Hälfte der Eier verquirlen und unterziehen.


    Für den Klossteig die rohen Kartoffeln waschen und schälen, fein reiben. I einem Tuch fest auspressen. Die gekochten Kartoffeln pellen und durch die Kartoffelpresse drücken. Gekochte und rohe Kartoffeln in einer Schüssel mischen. Die restlichen Eier und soviel Mehl unterkneten, dass ein geschmeidiger Teig entsteht, der nicht an den Fingern klebt. Mit Salz, Pfeffer und Muskat würzen.


    Mit kalt abgespülten Händen Klöße formen und füllen: Jeweils eine faustgroße Menge Teig abnehmen, in die Handfläche geben und eine Mulde hineindrücken. Je etwa 1 El Füllung hineingeben, den Teig um die Füllung herum zusammendrücken und glatte Klöße rollen. Sie sollten mindestens doppelt so groß sein wie normale Beilagen-Klösse.


    Reichlich Salzwasser aufkochen. Klöße hineinlegen, kurz aufwallen lassen. Die Hitze verringern und die Klöße etwa 30 Min. ziehen lassen.
    Die Semmelbrösel in Butter goldgelb rösten, über die Klöße gießen.


    Mit Apfelmus servieren.

  • 9. Dezember 2006 von Lotta



    Drahtseiltänzerin


    Sie schleicht sich ins Haus. Mit ihr weht der kühle Wind herein, und der Geruch des Treppenhauses, nach Räucherstäbchen und Zimtplätzchen, Glühwein und gebrannten Mandeln. Die Zehen spürt sie nicht mehr, und als sie versucht die Mundwinkel zu bewegen um etwas Gefühl in die winterroten Wangen zu bringen, kommt nicht mehr als ein jämmerliches Wimmern über ihre wunden Lippen. Sofort hält sie inne, holt Luft. Die Wände hier sind so dünn, dass sie ihn im Schlaf murmeln hören kann. Unentschlossen steht sie im Flur, sieht sich im gedämpften Schein der Lichterketten um, als erlebte sie alles zum ersten Mal. Die Wohnzimmertür ist halb geöffnet, schemenhaft kann sie den geschmückten Baum ausmachen, meint sogar Musik zu vernehmen, aber das ist wahrscheinlich nur Einbildung. Zu dieser Jahreszeit hört man überall Musik, sogar im Kopf.


    Es liegt an der Weihnachtszeit, entscheidet sie später, während sie sich die Zähne putzt und ins Schlafzimmer schielt. Sie verleitet einen dazu, Dinge zu tun, die dir sonst im Traum nicht einfielen. Und wenn dich jemand fragt, ob du heute Abend Zeit hast, dann sagst du ja, obwohl du ein Zuhause hast und einen Mann, der den Christbaum für dich schmückt. Du trinkst mehr als üblich, weil das Licht dich schummerig macht, und du fühlst dich einen Augenblick lang nicht mehr verloren in einer Welt, die sich bereits pünktlich zum ersten September rotgrün färbt. Ihre Schläfen pochen. Es ist, als balancierte sie ein schmales Seil entlang, und während das Laub zu ihren Füßen zu Schnee wird, kommt alles zur Ruhe und macht Platz für Besinnlichkeit; für die Zeit, in der Glück zu Unglück wird und andersherum.


    Sie wacht auf, und weiß nicht, wo sie ist.
    „Fröhliche Weihnachten!“, sagt er, und küsst sie auf den Mund, auf dem sie noch die Lippen eines anderen spürt. Sie murmelt schlaftrunken eine Antwort, lässt sich zur Hälfte aus dem Bett fallen und liegt im nächsten Moment wieder sicher in seinen Armen. Sein Atem riecht nach Zahnpasta mit Pfefferminz. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.


    „Ich muss dir etwas sagen…“
    Er ist mit seinem Brötchen beschäftigt, die Hälfte hält er in der Hand, die andere im Mund, während ihm der goldgelbe Honig klebrig am Kinn herunter rinnt. Sie muss lächeln.
    „Möchtest du ein Orangenplätzchen zu deinem Ei? Gestern Abend nach einem Geheimrezept entstanden! Was willst du mir denn sagen, Schatz?“
    Sie hat Luft geholt und damit begonnen, die Hände zu ringen, jetzt bricht sie ab und starrt ihn an. Es gibt Momente, in denen Sinne anderen Sinnen nachgeben, und in diesem Augenblick sind seine Worte so intensiv zu fühlen, dass sie die Stimme kaum wahrnimmt.
    Sie schweigt. Und schweigt noch ein bisschen mehr. Er kaut, und schluckt, und sieht sie erwartungsvoll an.
    „Was? Oh, ich… also… der Baum ist wirklich schön geworden.“


    Er lächelt, drückt ihre Hand, und während sie sich an seine Brust schmiegt und der Honig auf den weißen Stoff ihres Kaschmirpullis tropft, schüttelt sie sanft den Kopf, schließt die Augen, und denkt ab sofort keine Gedanken mehr.

  • 10. Dezember 2006 von Kim Meridian



    Ein fast ganz doofer Tag


    Jan lag im Bett und war wütend.
    Der Regen klopfte laut an die Scheibe und übertönte die fröhlichen Weihnachtslieder, die aus dem Kassettenrekorder dudelten. Jan war froh darüber, denn er war alles andere als in Weihnachtsstimmung. Er war nämlich krank. Grippe, hatte der Doktor gesagt und dass er die ganze Woche zuhause im Bett bleiben solle. Also Jan, nicht der Doktor.
    Jan fand im Bett bleiben doof.
    Nicht mal seine große Schwester Lena war im Kinderzimmer.
    Mama hatte gesagt: "Jan braucht viel Ruhe, damit er schnell wieder gesund ist. Komm, Lena, wir gehen in die Küche."
    Also lag Jan jetzt ganz allein im Bett und fand alles doof.
    Gestern hatte es tatsächlich ein bisschen geschneit und es war sogar etwas liegen geblieben. Lena hatte draußen kleine Schneemänner gebaut, aber Jan war ja krank und durfte nur vom Fenster aus zusehen. Und nun regnete es und der ganze Schnee wurde zu ekligem Matsch, in dem man kein bisschen spielen konnte. Aber Jan durfte ja sowieso nicht nach draußen.
    Er hörte seine Schwester in der Küche lachen. Was machten die denn da? Bestimmt irgendetwas ganz toll Lustiges und er durfte nicht mitmachen, weil er krank war.
    Jan hätte beinah geweint, aber dafür war er mit fünf und ein bisschen schon zu alt. Also blieb er liegen und fand alles und jeden doof.
    Der Kassettenrekorder klackte laut. Die Kassette war zu Ende. Endlich.
    Jan hätte "In der Weihnachtsbäckerei" nicht noch einmal ertragen, zumal nun aus der Küche ein süßer Keksbackgeruch ins Kinderzimmer zog. Das hatten Lena und Mama also gemacht. Kekse hatten sie gebacken und ganz ohne ihn. Jetzt weinte Jan doch ein bisschen und Teddy konnte ihn auch nicht trösten.
    Plötzlich ging die Tür auf und Lena stürmte herein. Jan wischte sich schnell das Gesicht trocken, doch Lena sah gar nicht zu ihm hin. Sie öffnete eine Schublade, nahm etwas heraus und versteckte es hinter ihrem Rücken.
    "Was hast du da, Lena?"
    "Gar nichts!", rief Lena lachend und lief wieder zurück ins Wohnzimmer.
    Dabei hatte Jan genau gesehen, dass sie etwas mitgenommen hatte. Etwas aus der Bastelschublade. Mama und Lena hatten also Geheimnisse vor ihm. Was für ein blöder Tag! Er war krank, er durfte nicht raus, der Schnee war fort, er hatte keine Kekse gebacken und nun hatten seine Mutter und Lena auch noch Geheimnisse vor ihm. Jan kam sich ganz allein und verlassen vor und die Tränen begannen erneut zu kullern.
    Doch da ging die Tür plötzlich noch mal auf und diesmal kamen Lena und Mama herein.
    "Oh, Jan, hast du etwa geweint?", fragte Mama ganz besorgt. Jan schüttelte trotzig den Kopf.
    "Nein, ich hab nur müde Augen."
    Mama lächelte.
    "Ohje, können deine Augen denn dann überhaupt die Überraschung sehen, die im Wohnzimmer auf dich wartet?"
    "Ja, klaro!", rief Jan und sprang geradezu aus dem Bett. Vielleicht war der Tag heute doch nicht so furchtbar?
    Er beeilte sich ins Wohnzimmer zu kommen. Gespannt öffnete er die Tür und sah, was Mama und Lena ohne ihn gemacht hatten. Das Wohnzimmer war fast dunkel, nur die zwei Kerzen auf dem Adventskranz flackerten. Lena ging an Jan vorbei und warf sich aufs Sofa. Mama kam aus der Küche und brachte ein großes Tablett mit. Als sie es auf den Tisch stellte, sah Jan einen großen Teller voll Kekse und drei Tassen.
    "Hier Kekse und Kakao, hast du Lust? Das soll ganz prima gegen Wintergrippe helfen", sagte Mama.
    Jan setzte sich schnell zu Lena und nahm seine Tasse entgegen. Der Kakao war genau richtig schokoladig und warm. Jan nahm sich einen Keks. Der war innen noch ein bisschen warm und schmeckte wunderbar weihnachtlich.
    "Wir haben auch noch was für dich gemacht", verkündete Lena mit einem breiten Grinsen.
    "Was denn?"
    Jan sah sie erwartungsvoll an. Lena griff hinter ein Kissen und warf eine Handvoll Papierschnipsel in die Luft. Nein, es waren keine Schnipsel, es waren Schneeflocken, ganz fein aus Papier ausgeschnitten. Also hatte Lena ihre Bastelschere aus dem Kinderzimmer geholt!
    Lena warf noch eine Hand. Fast wären einige Schneeflocken in den Kerzen gelandet.
    "Seid vorsichtig!", mahnte Mama und pflückte die Papierschneeflockensterne aus dem Kranz.
    Jan musste plötzlich lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. Aus dem doofen war doch noch ein ganz toller Tag mit Keksen, Kakao und Papierschnee geworden.

  • 11. Dezember 2006 von Corinna



    Ein besonderer Engel



    Vorsichtig steckte Spooky seinen Kopf aus dem Loch im Erdreich, gerade so weit, dass jemand, der zufällig in seine Richtung schaute, nur die grünen struppigen Borsten erkennen konnte. Die würde derjenige dann vermutlich für alles mögliche halten, aber sicher nicht für Haare. Und genau genommen waren es ja auch keine Haare, sondern eben Borsten. Grün und spitz, ein bisschen wie Tannennadeln. Auf jeden Fall giftig. Zumindest, wenn man ein Mensch war. Spooky war kein Mensch. Mehr. Was man – abgesehen von den Borsten – auch an den dicken braunen Schuppen auf dem Rücken erkannte, die die Haut ersetzten, und an den Schwimmhäuten zwischen den Fingern.
    Was seine rot umrandeten Augen mit der goldenen Iris sahen, trug nicht eben dazu bei, seine ohnehin schon miese Laune zu heben. Leise grummelnd ließ er sich zurück in das Loch gleiten, ohne an Morty zu denken, der direkt hinter ihm gehockt hatte und auf dem er jetzt landete.
    „Au!“, protestierte Morty. „Pass doch auf, wo du hintrittst!“
    „Tschuldige“, murmelte Spooky. „Schließlich hab ich hinten keine Augen im Kopf.“
    Morty griente. „Aber sicher doch! Schon vergessen? Seit wir…“
    „Ja, ja, ist ja gut!“, unterbrach Spooky seinen alten Kumpel. „Sagen wir, ich hab’s verdrängt.“
    „Also, ich finde, das ist wenigstens eine Sache, die ganz nützlich ist an unserem ...“, Morty zögerte kurz, „Zustand.“
    „Ich wollte, du würdest aufhören, dich so gequirlt auszudrücken. Unseren ‚Zustand’, Morty, kannste nämlich mit einem Wort beschreiben, und es hat nur drei Buchstaben: T.O.T.“
    „Häh?“, frage Morty. Er war schon zu Lebzeiten ziemlich ungebildet und des Lesens und Schreibens nicht wirklich mächtig gewesen. „Ach so“, sagte er dann nach einer Weile, in der Spooky nichts erwidert hatte. „Aber eigentlich sind wir doch gar nicht ... du weißt schon, was. Ich meine, wir leben doch, oder nicht?“
    „Hmpf“, machte Spooky. „Ist alles ne Definitionsfrage. Wenn du das Rumhocken in Erdlöchern in dieser grauenhaften Gestalt ‚leben’ nennen willst, bitte.“
    „Besser als wurmzerfressen in irgend’ner Kiste liegen“, trumpfte Morty auf. „Und überhaupt“, wechselte er das Thema, um sich mit ängstlicher Stimme zu erkundigen: „Haste ihn gesehen? Isser da?“
    „Noch nicht.“
    „NOCH nicht? Was soll das heißen?“
    „Genau, was ich gesagt habe. Ich hab das mulmige Gefühl, dass wir ihn nicht abhängen konnten. Trotzdem ist im Augenblick außer einer Familie mit einem Hund niemand zu sehen.“
    „Guck noch mal. Sicherheitshalber!“, forderte Morty.
    Spooky verdrehte die Augen, bevor er ebenso vorsichtig wie eben ein zweites Mal den Kopf aus dem Loch steckte – und ihn blitzschnell wieder zurückzog. „Da ist ...“, fing er heiser an, bekam aber kein weiteres Wort raus. „Der ...“ versuchte er es noch mal. „Der E...“.
    „Der Engel?“, kreischte Morty auf.
    „Leise, verdammt noch mal!“ Spooky hatte seine Stimme wiedergefunden. „Willste vielleicht, dass der uns hier unten aufspürt?“
    Morty zitterte am ganzen Leib. „Neeeeee.“
    „Dann halt gefälligst die Klappe.“ Es war genau das eingetreten, was Spooky befürchtet hatte. Sie waren hinter ihnen her, um sie einzufangen. Wo sich einer dieser verdammten Engel rumtrieb, war meist die ganze Sippe nicht fern, und der bloße Gedanke an das, was diese Typen mit Morty und ihm anstellten, besonders nachdem sie versucht hatten abzuhauen, verursachte ihm Gänsehaut. Als Spooky noch gewesen war wie diese Leute da oben, die mit ihren Kindern dabei waren, einen Weihnachtsbaum auszusuchen – auch wenn er zugegebenermaßen nie Kinder gehabt und vor allen Dingen auch ganz sicher niemals, absolut nie, nie, nie einen Weihnachtsbaum hätte haben wollen –, hätte er jeden ausgelacht, der ihm mit so was wie Engeln gekommen wäre. Tja. So schnell konnte sich die Sicht auf die Dinge ändern. Man musste nur kurz sterben. Tot sein. Sich verwandelt haben zu dem, in was man sich nach dem Tod nun mal verwandelte. Jedenfalls wenn man sich als Lebender mit den Mächten des Geistes der Weihnacht anlegte.
    In diesem Moment ertönte über ihnen ein leises Tapsen. Spooky sah nach oben. Der Hund der Familie hatte das Loch entdeckt, in dem die beiden hockten, und es wohl für einen Kaninchenbau gehalten. Der Hund begann zu bellen.
    „Kscht!“, versuchte Spooky das Tier davonzujagen. Fehlte noch, dass der Spaniel den Engel anlockte mit seinem Gebell und Gewinsel.
    „Hau ab, du Mistvieh!“, drohte Morty wortgewaltiger. „Oder willste meine Borsten spüren?“ Er zog sich ein Stück hoch und hielt dem Hund seine ‚Haare’ vor die Nase.
    „Lass das doch!“, begehrte Spooky auf.
    Aber es war zu spät, eine der spitzen Borsten hatte genau in die Nase des Hundes gepiekt. Erschrocken heulte der Spaniel laut auf und sprang vom Loch zurück. Das wiederum lockte die Menschen an, denen der Hund gehörte. Sie riefen nach ihm, doch nach einem letzten, nun wieder leiseren Winseln verstummte das Tier.
    „Mann!“, schimpfte Spooky leise. „Du hast die arme Kreatur ...“
    „Quatsch. Der is bloß betäubt“, widersprach Morty. Er wollte noch was sagen, wurde aber von einem neuerlichen, stetig lauter werdenden Geräusch unterbrochen. Sicher die Leute, die ihren Hund holen wollten.
    Spooky starrte zusammen mit Morty nach oben und erwartete jeden Moment überraschte und zornige Stimmen, aber stattdessen schwoll das Geräusch weiter an, es klang ... es klang wie Flügelschlagen.
    Und dann, bevor er wegguckten konnte, erschien über ihnen ein Gesicht, dessen Schönheit ihm fast den Atem raubte. Allerdings nur im ersten Moment, im zweiten erkannte er, dass es nicht die Schönheit, sondern seine pure Angst war, die ihm die Luft nahm.
    „Was haben wir denn da?“, erscholl eine überirdisch schöne, glockenhelle Stimme. „Zwei nette entflohene Weihnachtsverweigerer, wenn ich mich nicht irre!“ Dabei lächelte der Engel warmherzig und fuhr fort: „Ich würde vorschlagen, ihr kommt da rausgekrochen. Freiwillig am besten. Ich könnte euch natürlich auch nachhelfen...“
    „Nein!“, rief Morty entsetzt.
    „Nicht nötig, danke, Gabriel“, entgegnete Spooky leicht ironisch, obwohl ihm die Angst fast die Kehle zuschnürte.
    „Aber mein lieber Junge, wir wollen doch nicht frech werden, bitte“, sagte der Engel und drohte mit dem kleinen gnubbeligen Finger. „Was sollen denn die himmlischen Heerscharen von dir denken?“
    „Scheiß auf die...“ Weiter kam Spooky nicht, da hatte er den kleinen gnubbeligen Finger schon in einem seiner vier Augen. Er schrie auf.
    „Ich bat dich, nicht frech zu werden. Unartige Leute bekommen nichts zu Weihnachten und werden streng bestraft.“ Das Lächeln des Engels zog sich über beide rotbäckige Wangen. „Und nun, wenn ich bitten dürfte: Kommt heraus!“
    Hinter Spooky fing Morty an zu schluchzen, und auch Spooky selbst war sehr danach zumute, wenn er daran dachte, was auf sie zukam. Aber es gab keine Entrinnen, er fügte sich in sein Schicksal und kletterte nach oben, wo Gabriel, Michael oder wie immer er heißen mochte stand und umgeben von einem Lichtkranz auf ihn wartete. Obwohl Spooky Hunde eigentlich mochte, verfluchte er diesen ganz speziellen Spaniel, der den Engel auf sie aufmerksam gemacht hatte. Andererseits, der Hund konnte nichts dafür. Es war nur passiert, weil dessen blöde Familie unbedingt heute in den blöden Wald gekommen war, um einen blöden Weihnachtsbaum zu schlagen. Überhaupt: Weihnachten. Dieses dämliche Fest war Schuld an der ganzen Misere, in der sie steckten. An diesem ... Zustand. An diesem T.O.T.


    „Weinachten ist nicht dämlich!“, protestierte Sam. „Und Weihnachtsbäume sind auch nicht blöd!“
    „Ist das meine Geschichte oder deine?“, gab Jay zurück.
    „Aber so will ich das nicht! Engel sind Engel, und Leute, die kein Weihnachten mögen, sind…“, Sam zögerte und zog nachdenklich die Stirn in Falten.
    „Na, was sind die?“, fragte Jay.
    „Blöd“, bekundete Sam.
    „Genau. Deswegen werden sie ja auch bestraft. Wie Spooky und Morty.“
    Eine Weile ließ Sam sich das durch den Kopf gehen. „Robert will dieses Jahr keinen Baum. Keinen Plumpudding. Überhaupt kein Weihnachten“, sagte sie schließlich langsam. Und vehementer: „Ich wollte, Mom hätte nie wieder geheiratet!“
    Jay grinste schief, sagte aber nichts. Er konnte sehen, wie Samantha anfing zu grübeln. Sie sah aus wie ein kleiner Engel, ihre langen blonden Haare waren frisch gewaschen und fielen ihr in Locken auf die Schultern, ihre blauen Augen blickten unschuldig.
    „Aber“, fing sie schließlich zögernd an. „es ist nur eine Geschichte. Oder?“
    Jay zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Klar. Nur eine Geschickte.“
    „Und ... wer hat Spooky und Morty bestraft?“
    „Na, die Engel. Die bestrafen alle, die nicht an Weihnachten glauben. Diese wirklich ... ignoranten Leute werden dann T.O.T.“
    „Das würden Engel aber nicht tun“, widersprach Sam. „Es sei denn, es sind keine richtigen Engel.“
    „Es reicht ja, wenn sie aussehen wie Engel. Wie du. Und würdest du nicht auch Leute bestrafen wollen, die vorhaben, Weihnachten ausfallen zu lassen?“, fragte Jay. Er ließ die Worte wirken, bis er sah, dass das, was er meinte, bei Sam angekommen war. Sie riss erschrocken die Augen auf, allerdings nur kurz.
    „Wie denn?“, wisperte sie.
    „Ich hätte da eine Idee – aber ich brauche dich dazu. Einen Engel eben...“

  • 12. Dezember 2006 von Babyjane



    Weihnachtsstimmung....


    Ok, ich sitze seit einer Stunde vor dem Bildschirm und stiere ein leeres Word-Dokument an. EINE STUNDE… So lange habe ich noch nie für eine Geschichte gebraucht.


    Wenn mein Blick zwischendurch aus dem Fenster fällt, dann sehe ich den strahlend blauen Himmel und einen riesigen aufblasbaren Weihnachtsmann, der mir mit einer Hand zu winkt und in der anderen ein Schild hält, das verkündet, dass es dort unten schon jetzt Tannenbäume und Bäumchen zum sagenhaften Preis ab 20 € gibt.
    Sehr weihnachtlich eigentlich, würden um den Marshmallow-Weihnachtsmann herum nicht durchs immer noch grüne Gras zwei kleine übermütige Zicklein tollen und sich mit Bocksprüngen des Lebens freuen.
    Ich schaue den Zicklein zu und grinse…


    Wo war ich? Ach ja, Büchereulen-Adventskalender-Story. Weihnachtsstimmung muß her, schnell! Ich schiebe meine extra für Weihnachten erworbene Christina Aguilera X-Mas-Hits-CD in den Player und zünde meine Lebkuchenkerzen an. Statt weihnachtlichen Klängen schallt Popmusik aus meiner Anlage, welche dann doch ab und an im Text das Wort X-Mas vorweisen kann, mehr Weihnachten gibt’s auf der Cd nicht.
    Wenigstens die Kerze verbreitet brav ihren Weihnachtsduft.


    Als ich mich wieder dem Text zuwende, fällt mein Blick auf meinen am Boden liegenden Baumschmuck. Lichterkette, riesige Kristallkugeln und kleine Schneemänner.
    Scheiß auf den Adventskalendertext, erstmal den Baum schmücken, vielleicht kommt so die richtige Stimmung auf.
    Wobei ich gestehen muß, dass ich lediglich vor 3 Jahren einmal sehr kurz eine Tanne in meiner Wohnung hatte. Die Katze fand das Ding irgendwie bedrohlich und hat es in meiner Abwesenheit zu Kleinholz verarbeitet, seit dem Tag hab ich eine Weihnachtspalme. Die lässt die Katze aus unbekannten Gründen leben und tippt höchstens mal vorsichtig gegen die Kugeln, um sich dann schnell unterm Sofa zu verstecken, wenn es anfängt zu klingeln und zu klimpern.


    Nach 20 Minuten und etwas Fingerarbeit ist die Palme weihnachtlich herausgeputzt, draußen scheint immer noch die Sonne und die Zicklein hopsen herum. Der aufblasbare Weihnachtsmannriese streckt mir die Zunge heraus.
    Ich recke meinen Mittelfinger und zische ein „Lach du nur…blöder Kerl!“ in seine Richtung und setze mich wieder vor den PC. Auch mein Weihnachtsholunderpunsch mit Zimt weckt keine Weihnachtsstimmung.


    Wie zum Geier soll man Weihnachtsgeschichten schreiben, wenn draußen die Vögel singen, die Zicklein springen, die Sonne scheint, das Thermometer 12 Grad PLUS anzeigt und einem dann auch noch ein aufblasbarer Riesennikolaus in die Wohnung schielt? Das geht nicht!!
    Ich rolle mit den Augen, starre an die Decke und schalte mit meinem dicken Zeh meine Weihnachtssternchenlichterkette am Fenster an und aus.
    Von gegenüber bekomme ich auf meine ungewollten Morsezeichen Antwort. Der Asiwohnblock dort ist schon seit Oktober komplett beleuchtet. Mir strahlen blaue grüne und rote Weihnachtssterne entgegen, auf einem Balkon steht ein beleuchteter Schlitten samt Rentier und ich zähle sage und schreibe 10 kletternde und blinkende Weihnachtsmänner. Ein bisschen schäme ich mich für meine mickrige Sternchenbeleuchtung und stelle noch schnell ein Windlicht ins Fenster, sieht man aber nicht, die Sonne scheint ja immer noch.

    Ich drücke meine Nase ans Fenster und wünsche mir Schnee, große weiße Flocken, zum Schneemänner und Iglos bauen und zum Schneeball werfen, so wie früher. Früher war eh alles besser, da hat es noch zur Adventszeit geschneit und nicht im Mai und es gab Bratäpfel und Plätzchen von Mutti und keine verbrannten Schrumpeldinger und sternförmige Betonsplitter aus dem eigenen Backofen, nach deren Zubereitung man erstmal die Küche neu renovieren muß.
    Man freute sich auf Geschenke und jeden Sonntag hat man eine Kerze am Adventskranz angezündet.
    Geschenke sind dieses Jahr out und den 50 € teuren Adventskranz hat die Katze gestern erst vom Tisch geschmissen und sich dann damit ein Nest gebaut.


    Ich versinke in Weihnachtserinnerungen, sehe meinen Vater mit Videokamera und meine Mutter mit einem kleinen Glöckchen in der Hand, meinen Bruder, wie er mir meine neue Barbie entreißt und damit um den Tannenbaum rennt, meine Schwester, wie sie sich die Haare am Adventskranz anzündet, Oma wie sie mir mit ihren Rotkohlfingern in die Wange kneift und ich denke, dass es manchmal ganz gut ist doch ein wenig älter zu sein. Ich bin so in Gedanken, dass ich gar nicht höre, wie der Jemand die Türe öffnet und mit einer Nikolausmütze auf dem Kopf und einem Tablett selbstgekaufter Kekse ins mittlerweile dunkle Zimmer schleicht. Erst als er lautstark Jingel Bells intoniert, bemerke ich ihn.


    Er stellt das Tablett ab und während der kleine Plastiknikolaus an seiner Zipfelmütze fröhlich blinkert fragt er: „Na schon fertig?“
    Ich gucke entgeistert auf den Bildschirm, der mehrere Absätze Text zeigt, dabei hab ich doch gar nichts gemacht?
    Ich strahle den Jemand an und klicke auf den Button zum Speichern. „Ja! Schon fertig!“
    Der Tannenbaum-Werbenikolaus am Fenster zwinkert mir zu und im Schein der Straßenlampe segeln ein paar Schneeflocken durch die Luft, die Zicklein liegen in ihrer Krippe und schlafen friedlich.
    „Fröhliche Weihnachten!“ krähe ich und schiebe mir einen Keks in den Mund.

  • 13. Dezember 2006 von Iris



    13. Dezember


    Der Schlüssel knirscht im Schloß, die Tür schnappt auf. Mit einem Seufzer tritt sie ein, und ihre Tasche plumpst auf die Kommode, aber sie bleibt stehen.
    Ich werfe ihr aus dem Sessel ein „Hallo Liebling“ zu, aber sie antwortet nicht. Deshalb stehe ich auf, gehe in den Flur, wo ihr Duft schwebt, höre sie atmen. Sie steht tatsächlich vor der Kommode.
    „Frau Winkler ist gestorben“, sagt sie heiser, „die nette alte Dame mit dem Mammakarzinom.“
    Ihre bestrumpften Füße machen winzige hohle Geräusche, wenn sie aus den Schuhen schlüpft. Ihre Sohlen streichen über den weichen Teppich, mit einem Luftzug nähert sie sich. Ihre Finger streichen mir das Haar aus der Stirn.
    „Ich war die ganze Zeit bei ihr“, flüstert sie erstickt.
    Meine Hände finden den Weg um ihre Taille, sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter, so daß ihr Atem warm unter meinen geöffneten Hemdkragen strömt, und schmiegt sich an mich.
    „Ich habe Rumpsteaks vorbereitet“, sage ich leise über ihr feines Haar hinweg.
    „Das ist lieb von dir.“ Sie drückt mich, richtet sich dann auf und entfernt sich in Richtung des Schlafzimmers, während ich mich zur Küchentüre umdrehe.
    Alles ist an seinem Platz, die scharfen Messer, das Brett. Ich fasse in die Kälte des Kühlschranks und finde auch das Fleisch, wo es sein sollte. Die Pfanne wartet schon auf dem Herd. Als ich die Rumpsteaks unter dem Wasserstrahl wasche, erklingt hinter mir das Klicken des Lichtschalters, und die Leuchtstoffröhre fängt an zu brummen. Ich tupfe das Fleisch trocken, taste nach dem Salzstreuer und der Pfeffermühle, während mir von links der Duft heißen Olivenöls in die Nase steigt. Neben mir schneidet sie knirschend Scheiben vom Baguette ab und rührt unter leisem Klirren die Salatsauce an.
    Die Steaks gleiten zischend in die Pfanne, und in der Küche breitet sich ihr Duft aus, mischt sich mit dem von frischem Brot, Salat und Kräutern. Ein Korken ploppt leise.
    Als wir später am Tisch sitzen, umhüllt von der Wärme des Kochens, dem Duft, tappen meine Finger auf der Suche nach dem Weinglas vorsichtig über das glatte Holz.
    „Ein Uhr“, sagt sie, und ich spüre ihr Lächeln, höre das feine Rascheln des Stoffes, als sie sich herüberbeugt, bis ihre Lippen warm meine Wange berühren. Ich halte das Glas am Stiel hoch, damit sie mit mir anstößt, lausche dann dem Verklingen des Tons, den Schwankungen, die entstehen, wenn ich das Glas schwenke.
    „Laß uns auf die alte Frau trinken“, sage ich.
    „Frau Winkler“, erwidert sie. „Mein Mammakarzinom.“
    „Möge sie ihren Frieden gefunden haben.“
    Der Wein duftet nach Brombeeren und Pflaume, liegt schwer und ein wenig holzig auf der Zunge. Die Wärme der Kerzen schmeichelt meinen Wangen. Inzwischen brummt auch die Leuchtstoffröhre nicht mehr, statt dessen zischen die Dochte kaum hörbar.
    „Warum haben ihre Angehörigen sie alleingelassen?“ fragt sie unvermutet. „Warum ist niemand gekommen?“ Das Besteck klirrt auf dem Tellerrand.
    „War es sehr schlimm für sie?“
    „Wir haben ihr Morphium gegeben, aber sie war bei klarem Verstand. Ich hielt ihre Hand, sie schaute das Bild ihres neugeborenen Urenkels an. Irgendwann ließ sie mich los.“
    Ich tastete nach ihrer Hand, die ich auf dem Tisch vermutete, stoße mit den Fingern gegen ihren Teller, ihr Glas. Der Schreckenslaut erstickt in ihrer Kehle. Hart schrammen die Stuhlbeine über den Boden, als sie aufspringt, hinausrennt, über die Schwelle stolpert. Der dicke Teppich im Flur verschluckt ihre Schritte.
    Ich sitze da und erinnere mich an die Weihnachtsfeier in der Klinik vor genau einem Jahr. An die dröhnende Stimme ihres Vorgesetzten, des Chefarztes. Palliativmedizin. Er tätschelte sie. „Sie machen das wundervoll, Sie sind unsere Beste.“
    Er sprach von Sterbebegleitung.
    Ich stand in einer Wolke seines teuren Rasierwassers und hielt ihre Hand, als müßte sie mich führen. Mich, den armen Blinden.
    Sie alle kennen die Welt nicht, in der ich lebe. Ich rieche, was sie essen und trinken, wo sie einkaufen, höre jeden verborgenen Unterton in ihren Stimmen, all ihre Falschheit liegt offen vor mir. Zuerst empfahlen sie teure Kliniken in den USA und Rußland, dann brachten sie aus dem Urlaub Wasser vom Odilienberg mit, damit ich meine Augen darin bade.
    Eine Spur ihres Parfums führt mich ins Schlafzimmer. Schon an der Tür erreicht mich das dünne Schluchzen, das sie im Kissen zu ersticken versucht. Ich setze mich auf den Bettrand, streichle ihr Haar, ihr seidenfeines Haar, das sich aus der Spange gelöst hat.
    „Laß uns auf den Weihnachtsmarkt gehen“, sage ich.
    Vollkommen still liegt sie unter meinen Händen. Sie atmet kaum. Ich lächle. Sie wundert sich.
    „Frau Winkler würde es wollen“, sage ich.

  • 14. Dezember 2006 von Alexx



    Alle Menschen (haben) Brüder?


    Matti saß auf dem Bett und betrachtete ihren Adventskalender. Dieses Jahr war ein großer Tannenbaum abgebildet und jedes Kerzenlicht darauf war ein Fenster.
    Jeden Tag zählte sie die Fenster, 10 waren noch geschlossen. Heute hatte sie das 14. geöffnet und zum Vorschein kam das Bildchen eines Teddybären, der ein Geschenk in der Hand hielt.
    Sie schaute sich das Doppelfenster mit der Zahl 24 an. Der 24. war immer ein Doppelfenster, warum eigentlich?
    Matti freute sich auf Heiligabend, das war der aufregendste Tag im Jahr. Schon am Vortag wurde das Wohnzimmer abgeschlossen und eine Decke vor das Türfenster gehängt. Mama erzählte immer mit leiser Stimme, dass das Christkind seine Ruhe braucht, um den Baum zu schmücken und die richtigen Geschenke durchs Fenster zu bringen. Und wenn man es stört, oder zu neugierig ist, fliegt es davon und kommt auch nicht mehr. Davor hatte Matti Angst und niemals würde sie auch nur einen Blick riskieren wollen.
    Mama sagte auch immer, nur zu braven Kindern kommt das Christkind. Matti glaubte, dass sie auch dieses Jahr ganz schön brav war. Einmal fragte sie, wie das Christkind es wohl schafft, einundreißigmillionen Kinder gleichzeitig zu beschenken, Mama lachte nur, und sagte, „das kann eben nur das Christkind“.
    Sie starrte auf das Doppelfensterchen. So gerne würde sie mal schauen wollen, was darunter verborgen ist... wenn es doch niemand sieht, könnte sie es tun.
    Matti schloss die Kinderzimmertür, zog die Gardinen zu und öffnete das Papierfenster, nur einen Spalt. Zu sehen war die Krippe mit Maria und Joseph, den Tieren, den heiligen drei Königen und natürlich das Jesuskind. Schnell drückte sie es wieder zu, machte die Augen zu und wartete ab, was passierte. Nichts, es passierte einfach nichts. Eigentlich war sie sich sicher, dass es blitzen oder donnern müsste, oder dass irgendein Zeichen kommt. Sie schaute noch mal in das Fensterchen, aber alles blieb ruhig.
    Auch an Heiligabend stand eine Krippe im Wohnzimmer, sie war von innen beleuchtet und wunderschöne Figuren standen darin. Jedes Jahr standen sie gleich, frisches Stroh in der Wiege, und vor der Krippe lag Moos, auf dem die Tiere ruhten. Matti hat die Figuren ab und zu umgestellt, aber niemals Maria und Joseph oder gar das Jesuskind. Die waren heilig, so was fasste man nicht an.
    Beim Vorlesen der Weihnachtsgeschichte war sie jedes Mal empört über die bösen Menschen, die dem heiligen Paar keinen Unterschlupf bieten wollten und Maria und Joseph taten ihr unendlich leid, dass in einem Stall wohnen mussten, um dort Jesus auf die Welt zu bringen. Sie schmiegte sich an dieser Stelle immer an Papa und war froh über ihr schönes Zuhause.
    Matti hing den Kalender ab, legte ihn auf das Bett und strich fest mit ihren kleinen Fingern über das Fenster mit der Nummer 24, es blieb einfach nicht zu, sie überlegte was sie tun könne.
    Plötzlich ging die Tür auf. Ihr Bruder, 6 Jahre älter, stürmte herein und rief fröhlich, „Na, hast du auch schon in alle Fenster geguckt?“
    Matti wurde rot und ihr schlechtes Gewissen machte sich breit.
    „Nee, hab ich nicht, sonst kommt das Christkind nicht.“
    „Mann, bist du blöd“, lachte der Bruder, „das Christkind gibt’s doch gar nicht! Den Baum schmückt Papa immer früh morgens und die Geschenke kaufen Mama oder Papa und legen sie unter den Baum!“
    Matti schrie „Nee, du bist blöd und doof, du lügst, zu dir kommt schon mal gar nicht das Christkind!“
    Ihr Bruder lachte und sagte beim Hinausgehen: „Es gibt kein Christkind, keinen Nikolaus und schon gar keinen Osterhasen. Das erzählen sie dir nur, damit du immer brav bleibst!“
    Matti ärgerte sich. Sie wollte brav sein, immer, sie wusste dass das Christkind und der liebe Gott sie immer sahen und beobachteten. Sie konnte gar nicht böse sein, sonst würde sie ins Fegefeuer kommen und davor hatte sie die meiste Angst.
    Sie nahm ein Buch aus dem Regal und legte es auf den Adventskalender, in der Hoffung dass sich das Papierfenster über Nacht wieder schließt, setzte sich auf das Fensterbrett, zog die Gardinen auf und schaute auf die Straße. Papa stapfte auf den Hauseingang zu. Er hielt etwas langes in der Hand: Skier, es waren schwarze Skier, das stand auf ihrem Wunschzettel ans Christkind............

  • 15. Dezember 2006 von keinkomma



    Das Dessert zum guten Buch:
    Panna Cotta leicht gemacht


    „Ich halte Kochen für einen schöpferischen Vorgang, der sich allerdings von den Künsten dadurch unterscheidet, dass man ihn unmittelbar vom Endprodukt her genießen kann“.
    Günter Grass



    Es gibt Bücher, die verlangen beim Lesen nach etwas Süßem nebenbei.
    Es gibt Besucher, die will man mit einer Kreation aus der eigenen Küche verwöhnen oder beeindrucken.
    Und es gibt Rezepte, die der Mythos des „schrecklich kompliziert“ umweht.
    Panna Cotta ist so eines – dabei ist es euleneinfach:


    Für 4 – 6 Portionen braucht Ihr:


    400 gr. Sahne (= 2 kleine Tetrapacks)
    150 gr. Zucker
    4 – 6 Blatt Gelatine (lieber mehr)
    Vanillezucker
    Orangenzucker, Orangenaroma oder Orangenlikör


    Die Blattgelatine etwa 5 Minuten in EISKALTEM Wasser einweichen.


    Die Sahne mit dem Zucker und der Vanille vorsichtig aufkochen (Milch und Sahne kochen übrigens nicht über, wenn man den inneren Topfrand mit etwas Butter einfettet). Nehmt Ihr Orangenaromen, dann das auch gleich mitkochen, den Likör erst später zugeben.


    Heiße Sahne vom Herd nehmen. Gelatineblätter aus dem Wasser nehmen, auspressen (damit kein Wasser mehr dran ist), in die heiße Sahne geben und umrühren.


    Nun das Ganze in Schälchen füllen – am schönsten wirken kleine Schalen wie z.B. Eierbecher, aber auch in einem langstieligen Weinglas sieht’s toll aus… - und für mindestens 5 Stunden, am besten aber über Nacht in den Kühlschrank stellen.


    Wer mag, kann vor dem Servieren noch fertig gekaufte Caramelsauce drübergeben…fruchtiger wird’s mit Erdbeersauce.


    Wer sich stilecht zeigen will, der macht die „Caramelkruste“ anders: etwas Zucker in einer Pfanne schmelzen und den karamellisierten Zucker vor der Sahnemasse in die Förmchen geben.


    Ihr könnt die Panna entweder in hübschen Becherchen servieren, oder auf große Teller stürzen (vor dem Stürzen am Rand mit einem spitzen Messer entlang fahren). Mit etwas Kakaopulver und ein paar Früchten dekoriert erntet Ihr dafür garantiert ein lautes „Aaaah!“


    GUTEN APPETIT & EINE SÜSSE ADVENTSZEIT wünscht Silke Porath

  • 16. Dezember 2006 von polli



    Die verbotenen Wörter


    Es war am 6. Dezember, also Nikolaus, als uns auffiel, dass sich Papa nicht wie sonst mit Schwung in seinen Lieblingssessel fallen ließ. Stattdessen legte er ein Kissen unter, ächzte leise und nahm behutsam darauf Platz. Meine kleine Schwester Ina durfte nicht wie sonst auf seinen Knien herumturnen, und wenn sich Papa erhob, verzog er vor Schmerzen das Gesicht.


    „Papa, tut dir was weh? Bist du krank?“, fragte ihn Britta. Das ist meine große Schwester. Papa brummte irgendwas. „Er möchte nicht darüber sprechen“, übersetzte Mama.
    „Warum nicht? Ist es vielleicht was Ekliges?“, fragte Britta hoffnungsvoll. Wir ließen nicht locker, bis Papa uns beschwor, keinem etwas zu verraten. Dann sagte er, er habe einen Furunkel. „Was ist ein Funkel?“, fragte Ina. Er erklärte, dass er einen riesigen Eiterpickel habe, und deshalb habe er Schmerzen und könne nicht gut sitzen.
    Ina musste lachen und sang: „Es funkelt, es furunkelt an Papas Po“, worauf er zischte: „Hör sofort auf!“, und dann mussten wir schwören, dass wir nie, nie, nie etwas weitererzählen würden. Das taten wir und dann sagten wir noch, wir seien außerordentlich gut darin ein Geheimnis zu bewahren. Mama guckte etwas zweifelnd, sagte aber nichts.


    Am nächsten Tag, es war der zweite Advent, war es bei uns wie immer. Wir aßen Lebkuchen und Marzipan, übten etwas Blockflöte und zankten uns, wer nach dem Mittagessen mit Spülen und Abtrocknen dran war. Nachmittags gingen wir Oma besuchen und schafften es irgendwie, an den Furunkel nicht einmal zu denken, und abends fiel uns allen ein, dass wir noch Hausaufgaben zu erledigen hatten.


    Ein paar Tage später klingelte eine Nachbarin bei uns. „Ich wollte Ihnen etwas Murmeltierfett geben. Sie wissen schon. Für Ihren Mann“, sagte sie verschwörerisch zu meiner Mutter, drückte ihr ein Päckchen in die Hand und ging. Mama war verblüfft. Kurze Zeit später klingelte es erneut. Diesmal war es der Polizist, der schräg gegenüber in unserer Straße wohnt. Er war etwas außer Atem, als er sagte: „Ich wollte nur schnell das hier für Ihren Mann abgeben. Hat mir auch geholfen.“ Mama nahm eine Salbe entgegen und wunderte sich. Später schellte es noch drei Mal bei uns, und immer war es ein Hausmittel, das für Papa bestimmt war. Mama wunderte sich immer mehr, doch ehe sie uns danach fragen konnte, kam Papa von der Arbeit nach Hause.


    „Was sollen diese Päckchen und Salben im Flur? Sind die etwa für mich?“ Papa war etwas ungehalten. Mama unterbrach ihn. „Die haben wir von den Nachbarn bekommen. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.“ Daraufhin blickten die beiden zuerst sich und dann uns streng an. Papa guckte besonders streng. „Habe ich euch nicht BESCHWOREN, niemandem etwas von meinem Furunkel zu erzählen? Könnt ihr mir BITTE erklären, wie es kommt, dass die Nachbarn bei uns auf der Matte stehen und Arzneien für mich abgeben? Könnt ihr nicht EINMAL DIE KLAPPE HALTEN?“
    Wir waren empört. „Wir haben ganz bestimmt nichts weiter gesagt. Niemandem.“ Hatten wir wirklich nicht, soweit ich mich erinnere.


    Papa glaubte uns kein Wort und schimpfte weiter, während er in die Küche ging. Fürchterliche Strafen würde er sich ausdenken, seine Erziehung habe nicht gefruchtet, wir seien nur auf unser Wohlergehen bedacht, das alles predigte er, während er in der Küche auf und ab ging. Schließlich kam er wieder heraus, weil ihm eingefallen war, dass wir unsere Zimmer seit Wochen nicht aufgeräumt hätten, und das sollten wir auf der Stelle erledigen. Wir verschwanden in Brittas Zimmer und warteten, bis Papa nicht mehr sauer war. Zum Abendessen kamen wir in die Küche. Papa war immer noch ziemlich ärgerlich. Normalerweise ist unser Vater gut zu stoppen, wenn wir etwas schuldbewusst gucken und so aussehen, als habe er wirklich Recht. Diesmal half es nicht. „Gib mir mal die Butter, du Plappermaul“, sagte er zu Ina. „Quasseltanten“, unterbrach er Britta und mich, als wir etwas erzählen wollten. „Nichts könnt ihr für euch behalten.“ Mama sah ziemlich genervt aus.


    Plötzlich hatte ich eine Idee. „Papa, wir werden dir beweisen, dass wir keine Quasseltanten sind. Schreib uns irgendetwas auf, das wir auf keinen Fall sagen dürfen. Und wenn wir das schaffen, weißt du, dass wir wirklich nichts weitererzählt haben.“


    „Ja, genau!“, rief Britta. „Mach uns eine Liste von Wörtern, die wir auf keinen Fall, nie, nie, nie sagen dürfen. Wer sich dann verplappert, der kann am schlechtesten ein Geheimnis für sich behalten und der ist es bestimmt gewesen. Aber ihr Erwachsenen müsst auch mitmachen, sonst ist es ungerecht!“
    Papa seufzte. „Au ja, das wird lustig“, sagte Ina, „aber du musst Wörter nehmen, ohne die wir nicht auskommen.“
    Wir redeten alle durcheinander und schlugen verbotene Wörter vor: ja - nein - schwarz -weiß oder Mama - Papa - Oma und zwischendurch guckten wir unauffällig, ob sich Papas Laune besserte. Endlich mischte er sich ein: „Nun, wir können es versuchen. Ich hätte da auch schon eine Idee.“ Und mit diesen Worten ging er in die Küche, nahm sich ein Blatt vom Notizblock und einen Stift und setzte sich an den Tisch. „Geschafft“, flüsterte Britta. „Jetzt haben wir ihn abgelenkt.“ Mutter schüttelte den Kopf. „Ihr seid mir eine Bande!“


    Schließlich stand Papa auf und verkündete: „Ich habe eine Liste von zwölf Wörtern gemacht, die ihr bis Silvester, also 23 Tage lang, auf keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall, sagen dürft. Weder draußen noch drinnen, weder laut noch leise. Ihr dürft sie noch nicht einmal schreiben. Wenn ihr das schafft, und ich glaube nicht, dass ihr es schafft, dann will ich euch noch einmal verzeihen, vor allem derjenigen von euch, die sich verplappert hat, so dass jetzt alle Welt von meinem Furunkel weiß. Ich hänge die Liste mit den zwölf Wörtern an der Kühlschranktür auf. Dann kann jede von euch einen Blick darauf werfen. Und mit diesem Gongschlag“ - Vater schlug mit der flachen Hand an die Küchentür - „gilt meine Liste, und zwar für jeden von uns. Ist das klar?“
    „Ach Papa, kannst du uns nicht eben die Liste vorlesen?“, fragte Ina harmlos.
    „Ihr wollt mich wohl für dumm verkaufen. Lest selber und versucht nicht mich hereinzulegen.“ Mit diesen Worten verschwand er im Wohnzimmer und ließ sich behutsam in seinen Lieblingssessel fallen. Wir sahen uns Papas Liste an und schüttelten den Kopf. Das würden wir nie durchhalten! Papa hatte genau die Wörter gewählt, die wir in den nächsten Wochen am dringendsten brauchten. Schließlich war schon Advent und wir alle freuten uns auf ..., na, auf das Fest. Fragt mich bitte nicht, welches Fest, denn dieses Wort stand auch auf der Liste.
    Ich beschloss die Wörter heimlich abzuschreiben und auswendig zu lernen und dann so schnell wie möglich aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Meine Schwestern wollten es genauso halten. Mutter warf einen Blick auf die Kühlschranktür und murmelte etwas Unverständliches. Eines der zwölf Wörter war nicht dabei, schade.


    In den nächsten Tagen passierte nichts Besonderes. Mutter backte Zimtsterne, Monde und Schokotaler und füllte vier Blechdosen. Wir halfen beim Ausstechen und bissen uns fast auf die Zunge, denn es ist unmöglich zu backen, ohne ein einziges Mal das Wort zu erwähnen, wonach es im ganzen Haus duftet. Beim letzten Blech vergaß Mutter auf die Uhr zu achten, und als sie zu spät das Backblech mit den verkohlten Dingern - ihr wisst schon, was ich nicht sagen darf - aus dem Ofen zog, schimpfte sie: „Das ist ja eine schöne - -„ und da biss sie sich gerade noch rechtzeitig selbst auf die Zunge, denn das, was sie sagen wollte, ruft sie immer, wenn ein Missgeschick passiert. „Puh, das ist ja noch einmal gut gegangen!“, rief sie erleichtert.


    Am nächsten Samstag rief uns Tante Else an. Sie wohnt in Dresden, und jedes Jahr im Advent fragt sie uns am Telefon, ob wir wohl erraten, was sie uns dieses Mal schicken wird. Vater hatte den Telefonhörer in der Hand, und wir hörten voller Schadenfreude zu, wie er sagte: „Ja, Tante Else, ich weiß, was du uns schicken willst. Es ist ein Original Dresd- - ich meine, es ist das Gleiche wie im letzten Jahr.“
    „Nein, Tante Else, ich finde nicht, dass ich irgendwie anders am Telefon bin.“
    „Nein, Tante Else, ich habe nur gerade keine Lust, das mit Namen zu benennen, was du uns wie jedes Jahr schicken willst.“
    Ina hüpfte um Vater herum und sang: „O Zitronat, o Zitronat, wie arm der Dings, der keines hat.“ Mutter unterdrückte ein Lachen. Vater versicherte: „Nein, Tante Else, ich habe nichts getrunken, ich bin völlig normal, und meine Lieben sind wohlauf. Ganz bestimmt. Auf Wiederhören, Tante Else.“ Mit letzter Kraft legte er den Hörer auf, dann rief er: „Was habe ich mir da bloß ausgedacht, das hält ja keiner aus! Es sind doch nur zwölf Wörter, die ich nicht sagen darf. Man sollte meinen, es gibt noch genug andere auf der Welt!“

  • Der nächste Tag wurde für unsere Eltern schwierig. Wie jedes Jahr hatten sie vor, in den Wald zu fahren und einen kleinen, gerade gewachsenen, hm, wie soll ich sagen, stachligen Waldbewohner zu fällen. Nein, keinen Igel. Sie wollten das Auto nehmen. Wir mussten zu Hause bleiben, damit der Waldbewohner hinten im Kombi Platz hatte. „Wir müssen uns beeilen, für heute Nachmittag haben sie im Radio Glatteis und Sch- -ietwetter angekündigt. Kinder, den Gefallen tu ich euch nicht, ihr wisst selber, welches Wetter ich meine. Denkt daran, wenn es losgeht, in der Garage ist Streusalz. Und hockt nicht so viel vor der Flimmerkiste, lernt lieber Vokabeln.“
    „Jaha, machen wir“, versprachen wir, schlossen hinter den beiden die Haustür und schalteten den Fernseher ein.


    Wie jedes Jahr im Advent sang im Fernsehen ein Kinderchor festliche Lieder. Ich singe für mein Leben gern laut mit, und es ist mir nicht einmal peinlich das zuzugeben. Nur, jetzt fingen für mich die Schwierigkeiten an. Meine Schwestern lauerten darauf, dass ich mitsang und voller Inbrunst ein falsches Wort losließ. Gut, beim ersten Lied blieb ich mühelos stumm. Es war „O Zitronat, o Zitronat, wie grün sind deine Blätter.“ Ihr wisst schon. Das zweite Lied singe ich normalerweise besonders gern und besonders laut: „Morgen kommt der ...“ Und an genau dieser Stelle verkniff ich mir den Rest. Bloß nichts falsch machen, schwor ich mir und presste meine Lippen zusammen. Meine Schwestern versuchten mich in ein Gespräch zu verwickeln. „Ob er wohl in Himmelpforten wohnt? Und ob sein Gespann für die Elche nicht zu schwer ist?“
    „Genau. Ob er schon den Elchtest gemacht hat? Stell dir vor, wie das ganze hoch beladene Gespann umkippt. Und dann waren mal wieder die Elche schuld. Die am meisten schimpfen über die Elche, die waren früher selber welche.“
    „Spinnt ihr?“, rief ich ärgerlich dazwischen. „Das waren doch keine Elche, die den Schlitten zogen. Das waren - - “
    Die plötzliche Spannung in den Gesichtern meiner Schwestern alarmierte mich. Beinahe wäre mir eins der zwölf Wörter herausgerutscht. Gerade noch rechtzeitig rief ich: „Ihr wisst schon!“
    „Schade“, seufzte Britta. „Fast hätte es geklappt.“


    Als unsere Eltern wiederkamen, fragten wir uns gerade gegenseitig Vokabeln ab. Wir hatten nämlich die Autotür gehört und schnell den Fernseher ausgeschaltet. Sie warfen erst uns, dann sich einen liebevollen Blick zu und verschwanden im Keller, um den zukünftigen Schmuck für unseren benadelten Wohnzimmergast zu kontrollieren.
    „Kinder, die Kugeln habe ich gefunden“, rief Vater zu uns nach oben. „Aber wisst ihr vielleicht, ob wir noch einen Rest von dem silbernen Aluzeug haben?“
    Ich sah meine Schwestern an und rief scheinheilig zurück: „Aluzeug? Was meinst du denn damit? Suchst du vielleicht Alufolie? Die ist in der Küche, zweite Schublade!“
    Vater rief zurück: „Erstens meine ich keine Alufolie, liebes Kind, und zweitens musst du dir was Besseres einfallen lassen, wenn du mich hereinlegen willst! Schreibt schon mal auf, was uns fehlt, dann könnt ihr morgen in den Laden gehen und welches kaufen. Golden oder silbern, das überlasse ich euch.“
    Britta stand auf, holte Stift und Papier und wollte gerade das Gewünschte aufschreiben, als ihr auffiel, wie still es auf einmal war. Vater stand in der Tür und hielt den Atem an. Sie blickte auf. „Habe ich etwas Falsches gesagt? O Gott, beinahe hättest du mich ausgetrickst, Papa. Hier, schreib selber auf, was wir kaufen sollen.“


    Abends saßen wir am Küchentisch und machten Pläne für das Fest. „Was habt ihr eigentlich für Wünsche? Oder möchtet ihr lieber eine Überraschung? Und es wäre sinnvoll, wenn wir die diesbezügliche Angelegenheit des Nehmens und Gebens für alle besprechen könnten, dann haben wir Gewissheit.“ So krampfhaft redete Mama nie. Uns war klar, was sie meinte, und so redeten wir ausführlich über die diesbezügliche Angelegenheit. Ina wünschte sich neue Schlittschuhe und zwei Computerspiele, ich hatte etwas Geld für eine kleine Musikanlage mit Mikrofon gespart und wünschte mir den Rest von meinen Eltern, und Britta wünschte sich Inline-Skater. Mama hatte wie jedes Jahr keine besonderen Wünsche, außer Gesundheit und einem neuen Jahr ohne böse Überraschungen. Wahrscheinlich würde Papa sie wieder im Januar ins Theater und ins Restaurant ausführen, und an den Kosten mussten wir uns dann beteiligen. Na ja, nicht sehr originell, aber wir hatten wenigstens keinen Anlass uns zu versprechen. Papa sollte etwas Nützliches bekommen, meinte Mama, und machte dabei ein wichtiges Gesicht. „Ich verstehe“, sagte er und stand auf. „Besprecht in Ruhe ohne mich, was ihr mir - - Darf man eigentlich Wörter sagen, die mit dem ursprünglich verbotenen Wort verwandt sind?“ Wir wussten es nicht.
    „Schweigen ist Silber, Reden ist Gold. Ach ja, habt ihr schon das Aluzeug gekauft?“
    „Ja, Papa, haben wir. Und jetzt brauchen wir eine männerfreie Küche.“


    Nachdem sich Papa brummelnd ins Wohnzimmer verzogen hatte, zeigte uns Mama, was sie bereits gekauft hatte. Einen Frotteebademantel, einen warmen Schlafanzug und Skiunterwäsche. Lang. Dunkelblau. „Sehr originell“, meinte Britta, und Ina flüsterte: „Das wärmt den Funkel.“
    Wir mussten so lachen, dass uns Mama aus der Küche schob und an unsere Hausaufgaben erinnerte.


    Meine Deutsch-Hausaufgabe hätte ich am liebsten unterschlagen. Wir hatten nämlich eins der zwölf Wörter auf. So was wie Hänsel und Gretel oder Frau Holle. Ich hatte mir die Bremer Stadtmusikanten ausgesucht und „Eine Tiergeschichte“ als Überschrift gewählt. In der Schule musste ich mein Werk vorlesen, und Frau Klein fand, ich hätte mir viel Mühe gegeben. Noch mehr Mühe gab ich mir, auch in der Schule alle verbotenen Wörter zu vermeiden, was dazu führte, dass ich im Unterricht ziemlich schweigsam wurde. Ich war ziemlich erleichtert, als die Ferien begannen.


    Am ersten Ferientag hatte Papa ein Problem. Der Furunkel war es nicht. Papa schwieg beharrlich, wenn wir uns nach ihm erkundigten, als wäre er das dreizehnte Wort seiner Liste. Das Problem war der Brief, den Papa wie jedes Jahr an unsere Verwandtschaft schreiben wollte. Er berichtete darin immer von den Ereignissen des letzten Jahres, fügte ein Gedicht oder eine kleine Geschichte hinzu und legte dann einen Termin für unser alljährliches Dingsbums fest, zu dem alle, auch der entfernteste Cousin und die älteste Großtante regelmäßig erschienen. Der Wortlaut für die Einladung zu diesem Dingsbums war immer gleich.
    Papa saß mit Sorgenfalten vor dem Computer. „Kann mir jemand sagen, wie ich eine passende Formulierung finde?“ „Liebe Verwandtschaft, ich lade euch wie jedes Jahr zu etwas ein, was ich dieses Jahr nicht aussprechen und aufschreiben darf“, schlug Mama vor. „Noch so ’n Vorschlag?“
    „Schick ein Foto vom letzten Jahr, schreib Termin und Ort dazu und darüber das Wort Einladung. Wer das nicht versteht, kann gern zu Hause bleiben.“ Das war Brittas Idee. Papa schüttelte den Kopf. Schließlich schrieb er: „Erinnert ihr euch noch an unsere Zusammenkunft im Waldgasthof Möller? Weil es dort so schön war, wollen wir auch im Januar wieder dort beisammen sein.“ Ich fragte ihn, ob er noch alle beisammen habe, aber ein besserer Text fiel uns nicht ein, und außerdem war es nur Papa, der sich bei der Verwandtschaft mit diesem Schreiben blamieren würde.


    Von Heiligabend kann ich nichts Besonderes berichten. Wir schmückten unseren grünen Wohnzimmergast mit Kugeln und frisch gekaufter Aludekoration, freuten uns über die Gegenstände, die anlässlich der Freude über das Geben und Nehmen gekauft worden waren und naschten die übrig gebliebenen kleinteiligen Backerzeugnisse aus Mamas Blechdosen. Später spielten meine Schwestern und ich Blockflöte. Vorsichtshalber ließen wir die meisten Lieder aus und blieben bei Jingle Bells und Alle Jahre wieder. Unsere Eltern freuten sich trotzdem, Mama sah ganz gerührt aus und Papa hüllte sich in seinen Frotteebadebantel. Es war ein schöner Tag für uns alle.
    Am nächsten Tag, ihr wisst schon, welchen ich meine, kam Oma zu Besuch. Sie erscheint immer schon vormittags und hilft dann meiner Mutter in der Küche. Und wie jedes Jahr brachte sie uns Mettwürste mit. Der Mensch lebt nicht von Süßigkeiten, er braucht auch etwas Herzhaftes, pflegte sie dann zu sagen, wenn wir protestierten.
    Und als sie Papa die Mettwürste überreichte, sah sie ihn streng an und sagte: „Ist dir eigentlich klar, dass du mich noch gar nicht richtig begrüßt hast? Du könntest das jetzt nachholen, mein Junge.“
    „Ja, Mama“, sagte Papa zu Oma und sah ungefähr so aus wie wir, wenn uns Papa ermahnt, und dann sagte er mit fester Stimme: „Mutter, ich wünsche dir frohe Weihnachten.“ Und dann sah er uns erschrocken an und sagte: „Ich glaube, ich habe mich ganz fürchterlich verplappert!“


    Oma guckte etwas irritiert, dann beruhigte sie Papa: „Nicht so schlimm, mein Junge, ich habe mich neulich auch verplappert. Du hast mir doch von deinem Furunkel erzählt, von dem keiner wissen durfte. Ich war neulich eurer Nachbarin begegnet und habe ihr aus Versehen von deinem Leiden berichtet. Sie war sehr interessiert und wollte sich gleich bei ihren Bekannten erkundigen, ob jemand ein gutes Hausmittel dagegen kennt.“


    „Tatsächlich, Oma, das hat unser Vater dir erzählt?“, fragte ich. Und dann sahen wir alle ganz streng Papa an.

  • 17. Dezember 2006 von Doc Hollywood



    Weihnachten in der Delaney Street


    Es herrschte eine erwartungsvolle Stimmung im großen Haus in der Delaney Street. Die Bediensteten waren seit Tagen damit beschäftigt, vom Keller bis zum Dachboden alles durchzufegen und vor allem die Empfangshalle vorzubereiten. Den Kaminsims in der Bibliothek zierte eine Girlande aus Tannen- und Mistelzweigen, an denen rote Kugeln und Zuckerstangen befestigt waren, und überall im Haus duftete es nach den frischgebackenen Plätzchen von Mrs. Parker, Köchin und gute Seele von Delaney Street Nr. 9. Dicke Schneeflocken hatten den beiden Steinlöwen, die den Treppenaufgang zur Eingangstür flankierten, weiße Hüte aufgesetzt und Jarvis, Major Domus und lebendes Inventar des großen Hauses, war mehrmals am Tag beschäftigt die Stufen frei zu kehren, damit sich niemand den Hals brach, wie es Mrs. Worthington, die Hausherrin, auszudrücken pflegte. Die kleine Emma hingegen drückte ihre Nase gegen das Fenster und spähte hinaus in die Nacht. Die gasbetriebenen Straßenlaternen zirkelten Lichtkreise, die wie zu helle Pfannkuchen aussahen, auf das schneebedeckte Trottoir.
    „Er kommt, er kommt!“, rief sie voller Freude, als eine dunkle Gestalt mit Zylinderhut vor der Treppe Halt machte und sich dicke Flocken aus dem Mantel klopfte. Auf dem Schlitten hinter ihm lag ein Tannenbaum fest verschnürt, den die weiße Pracht wie ein Tuch bedeckt hatte.
    Jarvis öffnete die Tür. „Warum schicken Sie bei diesem Wetter nicht den Burschen?“ Verständnislos mit dem Kopf schüttelnd, nahm er Mr. Worthingtons Zylinder entgegen und half ihm aus dem Mantel, als der Baum mehr oder weniger vom Schnee befreit in der Eingangshalle lag.
    „Jarvis, mein Vater hat bereits jeden Baum selbst besorgt und ich werde das auch so handhaben; Jahr für Jahr, und bei jedem Wetter.“ Mr. Worthington zwinkerte Emma zu, die über das ganze Gesicht grinsend ihren Vater anhimmelte. Ihre Mutter stand oben auf der Freitreppe und runzelte die Stirn. „Der sieht aber nicht sehr groß aus, Edward“, stellte sie fest und verzog die Mundwinkel.
    „Der ist groß genug, meine Liebe.“ Mr. Worthington holte ein Taschenmesser aus seiner Weste und befreite die Tanne von den Schnüren, die die Zweige und Äste zusammenhielten. Zusammen mit Jarvis bugsierte er den Baum in den gußeisernen Ständer und blickte dann triumphierend hinauf zu Mrs. Worthington.
    „Ich sagte ja, er ist zu klein. Ich werde morgen mit dem Burschen einen anderen besorgen.“ Damit wandte sie sich ab und ging wieder zurück in die obere Etage.
    „Er ist nicht zu klein!“
    „Doch, mein Schatz.“


    Am späten Nachmittag des nächsten Tages brachten Mrs. Worthington und der Bursche tatsächlich einen weitaus größeren Baum nach Hause. Mr. Worthington tadelte seine Frau mit einem Blick über den Brillenrand, als Jarvis und der Bursche größte Mühe hatten, die ausladende Tanne aufzustellen. Emma, die einige ihrer blonden Locken sorgsam mit roten Schleifchen gebändigt hatte, zupfte am Hosenbein ihres Vaters.
    „Was geschieht jetzt mit dem da?“ Sie deutete mit einem traurigen Blick auf den zu kleinen, von Mrs. Worthington ausgemusterten Baum, der achtlos neben der Treppe lag.
    „Der wird vom Burschen zu Feuerholz gemacht“, erwiderte ihre Mutter, ohne den Blick von der hoch aufragenden, neuen Tanne zu nehmen, deren Spitze bis zum Ende der Freitreppe im oberen Stockwerk reichte. Emmas Mundwinkel fielen nach unten, sie schluckte. Mr. Worthington ging in die Hocke, legte einen Arm um seine Tochter, und sah zwischen ihr und dem unerwünschten Baum hin und her. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: „Wir werden ihn retten, zusammen, nur Du und ich.“ Er zog die Augenbrauen hoch und schürzte die Lippen, auf die er verschwörerisch den Zeigefinger legte. Emma machte große Augen und ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.


    Am nächsten Tag, Heiligabend, ließ es sich Mrs. Worthington nicht nehmen, zusammen mit Jarvis und Mrs. Parker den Baum zu schmücken. Mr. Worthington hatte angeboten, mit Emma zum Schlittschuhlaufen in den Park zu gehen, um die Wartezeit bis zur Bescherung zu verkürzen.
    „Die Kleine wird Augen machen. Das ist wirklich ein wunderschöner Baum“, sagte Mrs. Parker, während sie Jarvis eine der roten, polierten Glaskugeln reichte. Der alte Hausdiener lächelte versonnen und verzierte einen weiteren Zweig.


    „Papa, das ist wirklich ein wunderschöner Baum.“ Emma sah glücklich auf die kleine Tanne, die Mr. Worthington in der vergangenen Nacht auf den Dachboden geschafft hatte. In ein paar eingestaubten Schachteln hatten sie ausgedienten Baumschmuck gefunden: verblichene und kaputte Kugeln, kleine Engel, denen hier und da ein Arm oder Flügel fehlte und Sterne mit abgebrochenen Zacken. Doch Emma war das gleichgültig. Mit großer Begeisterung schmückte sie zusammen mit ihrem Vater die kleine Tanne auf dem Dachboden und bekam mit jedem geputzten Zweig leuchtendere Augen. Als sie fertig waren, zog Mr. Worthington seine Taschenuhr hervor und stellte fest, dass es an der Zeit war vom Schlittschuhlaufen heimzukehren. An der Speichertür angelangt, wandten sie sich noch einmal um. Zwischen einer alten Schneiderpuppe, einem abgedeckten Ankleidespiegel und zahllosen Schachteln und Truhen, stand der schönste Weihnachtsbaum, den Emma je gesehen hatte.
    „Frohe Weihnachten, Emma“, sagte Mr. Worthington leise und strich versonnen durch ihre Lockenpracht. Sie drückte fest seine Hand, und ohne einen Blick von ihrem Baum zu nehmen, erwiderte sie: „Frohe Weihnachten, Papa.“