Schreibwettbewerb Dezember 2006 - Thema: "Blau"

  • Thema Dezember 2006:


    "Blau"


    Vom 01. bis 20. Dezember 2006 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Dezember 2006 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Charlotte



    Wenn ich heute an Carlos denke, sehe ich sein blaßes schmalgeschnittenes Gesicht vor mir. Auffallend darin die ernsten dunklen Augen, die vielleicht ein Vorzeichen dessen waren, was noch kommen sollte.


    Ich lernte Carlos in Barcelona kennen. In einem kleinen Café,in der Nähe der Plaza Cataluña, begann unsere Freundschaft.
    Als er das erste mal das Lokal betrat, erweckte sein schmales Gesicht mit den tiefliegenden dunkelbraunen, fast schwarzen Augen sofort mein Interesse. Dieser Ausdruck von Trauer und Leid überschatteten dennoch nicht sein offenes, freundliches und humorvolles Wesen.
    Ich war gerade damit beschäftigt eine neue Menükarte für das Lokal zu entwerfen. Ein kleiner sicherer Nebenverdienst, mit dem ich mich hauptsächlich über Wasser hielt. Der Verkauf meiner Bilder deckte damals gerade die Unkosten für Leinwände, Farben und mein Zimmer.
    Carlos kam auf mich zu und ohne zu fragen setzte er sich mir gegenüber auf den freien Stuhl. Wir kamen schnell ins Gespräch und stellten fest, daß nicht nur die Leidenschaft zur Malerei uns verband, sondern auch die Sehnsucht nach Paris. Die Idee, uns dort gemeinsam ein kleines Atelier zu mieten, entwickelte sich erst im Laufe vieler absinthdurchtränkter Nächte zu einem Plan.


    Drei Jahre später setzten wir diesen Plan in die Wirklichkeit um. Kurz nachdem wir ein unmöbliertes Atelier in der Rue Gabrielle bezogen hatten, lernte Carlos Germaine kennen. Er malte, oder vielmehr skizzierte, sie in allen möglichen Posen und es war unverkennbar, daß er sich unsterblich verliebt hatte. Er war zu dieser Zeit Anfang zwanzig, und obwohl wir schon viele Nächte mit reichlich Alkohol und Huren verbracht hatten, offenbarte die Liebe zu diesem Mädchen eine schüchterne scheue Seite meines Freundes, die ich bisher nicht gekannt hatte. Einzig Germaine schien diese Veränderung nicht zu bemerken.
    Kurz bevor ich zu einem Besuch nach Madrid aufbrach, sprach er das erste mal mit mir über Germaine. „Hör zu, Pablo. Ich liebe dieses Mädchen über alles und werde sie fragen, ob sie meine Frau werden will!


    Die Nachricht seines Todes erhielt ich im Februar. Er hatte sich in einem Lokal erschossen, vor den Augen Germaines, der er kurz zuvor seine Liebe gestanden und die ihn abgewiesen hatte.
    Ich kehrte einige Zeit später nach Paris zurück; in unser Atelier, das nun nur noch meines war. Die fühlbare Leere im Zimmer war unerträglich. Überall standen seine begonnenen oder fertigen Bilder herum. Ich konnte es kaum ertragen, konnte nicht begreifen, warum er sich wegen einer unerfüllten Liebe das Leben genommen hatte. Meinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben half wenig.
    Ich begann wieder zu malen: Carlos auf dem Totenbett liegend, blaugrün die Farbe seines Teints, die Wunde an seiner Schläfe kaum erkennbar, dahinter eine brennende Kerze, deren Licht den Hintergrund in ein warmes Rot taucht.
    Als ich das vollendete Bild betrachtete, war ich keinesfalls zufrieden. Es drückte nicht das aus, was ich wirklich fühlte. Weitere Versuche, seinen Verlust in Bildern festzuhalten, scheiterten ebenfalls
    Aber dann kam endlich der Tag, an dem ich meine Trauer, Wut, Verzweiflung und die Enttäuschung hinaus in die Welt schrie --- lautlos, in blaue Farbtöne gehüllt. Evokation.

  • von Asrai



    An manchen Tagen wird der Druck schier unerträglich. Ich arbeite den ganzen Tag, habe dabei kaum eine Pause, ab und an darf ich etwas essen. Dann nämlich, wenn die Gedanken nicht mehr so recht fließen mögen. Stundenlang fülle ich das vor mir liegende Papier, aber dann stocke ich, komme nicht weiter und lege so nur gezwungenermaßen meine Pausen ein. Und was ich alles zu Papier bringe! Man kann mich ohne zu übertreiben als „Workaholic“ bezeichnen. Nicht, dass man es mir danken würde… Dabei bin ich hier am Institut mit Sicherheit der fleißigste Mitarbeiter. Aber es stört mich auch nicht. Dabei habe ich durchaus meine Vorlieben. Ich arbeite nur für eine Person hier und das schon seit langer Zeit. Wir sind ein eingespieltes Team und ohne mich wäre sie nichts.
    Allerdings gibt es da seit einiger Zeit etwas, das mich beunruhigt. Sie ist immer seltener in unserem Bureau und außerdem kommt auch noch immer öfter so ein Kerl vorbei. Zu Zeiten, wo alle anderen schon längst weg sind, wenn ich sie fast immer ganz für mich alleine hatte. Auch heute wieder, wo wir gerade so gut mit unserer Arbeit vorankamen. Und was macht sie? Springt auf, schiebt alle Zettel von sich!
    „Störe ich?“, fragt er, der Halunke!
    „Nein“, erwidert sie – das ist gelogen, das muss gelogen sein! „Du störst doch nicht. Ich war sowieso fast fertig, da kann ich auch gleich Schluss machen.“
    Ach, ist das so? Gerade noch hattest du doch noch über die viele Arbeit gemurrt! Und was soll das jetzt, dass er um deinen Schreibtisch herum geht? Und du streckst die Arme nach ihm aus? Da ist wohl schon einiges passiert – Vorsicht! Pass doch auf! –

    „Vorsicht, mein Schatz, du hast da gerade etwas runtergeworfen.“
    Sie löste sich ein wenig aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück um auf den Boden zu schauen. Mit einem leisen Knacken brach der Kunststoff ihres Füllfederhalters unter ihrem Absatz und auf dem Teppich breitete sich ein großer blauer Fleck aus…

  • von beowulf



    Sie hat mich verlassen und ich bin auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Unser Haus ist nicht mehr unser zu Hause, zu groß, zu leer. Von außen fand ich die Villa faszinierend. Ich bin Architekt und hatte mich sofort in das Gebäude verliebt. Der Grundrißplan super. Fünf große Zimmer. Platz fürs Arbeiten und auch wenn die Kinder mich besuchen kämen, Platz zum Spielen. Aber Blau ist eine Farbe des Zustands, sage ich zu der Maklerin und ich meine damit nicht nur den Alkohol, sondern denke an meinen Trennungsblues. „Es gab Ärger mit dem Vormieter“, meint sie schüchtern, „aber da können wir ja beim Mietpreis drüber reden.“ Ich sagte: „Hierher gehört Stuck, Fischgrätenparkett, Türknebel.“ Stattdessen eine Orgie in blau. Dunkelblauer Teppichboden, hellblaue Decke, mittelblaue Wände, in allen Räumen Schattierungen in blau. Im Schlafzimmer nachtblau, hätte ich nicht schon Depressionen, in diesem Zimmer würde ich sie bestimmt bekommen. „Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sage ich zu der Maklerin. „Selbst wenn Sie das neu streichen, das krieg ich nie aus dem Kopf, das ist völlig unmöglich.“ Ausgerechnet blau - sicher ich trage gerne Bluejeans auf der Baustelle, hab auch ein paar blaue Hemden, aber so und das in meinem Zustand. Das war too much. Ich hielt mich jeden Abend mit Westernhagens Johnny Walker im wahrsten Sinne des Wortes über Wasser und an meinem Wasserglas fest, weil ich weiß von Klaus, meinem Freund, dass Alkohol keine Lösung ist. Dem hatten sie schon vor der Scheidung den Führerschein weggenommen, dann durfte er die Kinder nicht mehr sehen, er verlor den Job und zuletzt fuhr er mit 2,8 Promille in die Donau, das würde mir nicht passieren. Meine Farbe war Rot, rot wie die Wut, die in mir herrschte und Weiß, weiß, wie die Ohnmacht, denn sie war nicht mit einem anderen Mann durchgegangen, dann hätte ich ja noch ein Ziel, eine Richtung für meine Wut gehabt, sondern sie zog zu meiner Sekretärin, zu meiner Anne. Jahrelang hatte sie mich mit ihrer Eifersucht verrückt gemacht. Ich wäre länger mit meiner Sekretärin zusammen als mit ihr und sicherlich hätte ich auch was mit ihr, dabei stehe ich nicht auf Wonneproppen...
    „Gehen wir noch in das andere Objekt?“ unterbricht mich die Maklerin. „Wie?“ Ach ja, ich habe Zeit. Viel Zeit denke ich, aber das geht dich nichts an. „Hallo,“ sagt die Maklerin. „Ja?“ „Ihr Handy klingelt.“ Ich gehe dran. „Hallo Papa“, Josie, meine Älteste, “Wo bist du? Hast du das Türschloß ausgewechselt?“ „Wir hatten doch diesen Einbruch letzte Woche, wieso?“ „Wir stehen vor der Tür und kommen nicht rein!“ „Wo ist die Mama?“ „Am Taxi, am Ausladen“ „Wie?“ „Wir wollen wieder nach Hause“ „Wieee?, Gib mir mal die Mama“ „ Geht nicht, die zahlt gerade das Taxi, kommst du?“ „Ja“ höre ich mich sagen und lege auf. Nein, sage ich zu der Maklerin, Nein wir gehen nicht zum nächsten Objekt, ich muß dringend nach Hause. Ich steige ins Auto und fahre, rase, nein schwebe zurück und um mich herum ist alles Blau- Himmelblau.

  • von Herr Palomar



    Lucien:
    Ich verlies die Gastwirtschaft eilig, nach dem ich die geplante Intrige aus den großspurigen Reden der vom Wein benebelten Bürger herausgehört hatte.
    Noch ist Zeit, sich auf den Weg in die Nachbarstadt zu machen, um die Intrige auf den ersten Ratsherrn zu verhindern.
    Ich muss nur den richtigen Stein mitnehmen.


    Sylvie:
    Ich hatte schon ein merkwürdiges Gefühl am Morgen dieses Spätsommertags als ich mit Vater die lange Brücke überquerte und plötzlich einige in dunkles Tuch gekleidete Männer hinter dem Pfeiler hervortraten. Von den ausladenden Schritten der Männer spritzten Schlammspritzer gegen mein helles Seidenkleid.
    Vater protestierte.
    "Passt doch auf und lasst meine Tochter in Frieden, ihr Lumpen!"
    Der Größte der Männer, dessen ungeschlachtetes Gesicht ein zynisches Grinsen zeigte, sprang hervor und ohrfeigte Vater.
    "Mich nennt niemand ungestraft einen Lump! Wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang zum Duell an der Waldlichtung. Wählt die Waffen, alter Mann"


    Entsetzt wich Vater zurück. Seit Jahren hatte er keine Waffe mehr in der Hand gehalten. Sein politisches Amt hat ihn bisher immer geschützt.


    Die Männer lachten und machten auf alte Ratsherren spottend kehrt.


    "Tochter, das ist doch offensichtlich ein politischer Plan mich zu beseitigen. Wie wird diese Sache noch enden?"
    Beruhigend tätschele ich seine vor Demütigung zitternde Hand.
    "Vater, alles wird gut. Glaub mir!"


    Lucien:
    Das Leuchten der Dächer, der in der Ferne langsam erkennbar werdenden Nachbarstadt bewirkt bei mir das fast fremde Gefühl der Erwartung und des Triumphs. nach Stunden des Wanderns wird die Stadt in kürze erreicht sein.
    Angst und Hoffnung, dass die Adresse richtig ist, erfüllen mich. Wenn der Stein übergeben ist, habe ich einen Teil meines Vorhabens erfüllt. Der Stein in meiner Tasche beginnt schon fast zu glühen.


    Sylvie:
    Das wiederholte Klopfen an der Tür entspricht einen fast unbekannten Code für Hoffnung, wie in Großmutters alten Geschichten beschrieben und mir schon als kleines Mädchen eingeprägt wurde. Das kann doch nicht sein? Ich hätte nie gedacht, dass ein solcher Tag kommen würde.
    Ich öffne die Tür und erblicke einen Mann in einfachster Kleidung, aber mit ungewöhnlich sympathischen Augen.


    Lucien:
    Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau erscheint. In ihrem Blick liegt Verwunderung und Angst.
    Rasch erläutere ich ihr meinen Plan.
    "Geben Sie ihrem Vater diesen Saphir. Er fördert die Konzentration und bündelt die Kräfte auf ein Ziel hin. Der Saphir wird ihn auch schützen, wenn er ihn auf der Haut trägt."


    Sylvie:
    Lucien ist gegangen.
    Ich nehme ich die Maske und den Umhang heraus, die ich morgen zum Duell tragen werde. Der blau leuchtende Saphir fühlt sich kalt an auf meiner Haut und doch meine ich, schon seine Wirkung zu spüren. Eine Ruhe erfüllt mich, alle Angst fällt ab.


    Lucien:
    Ich sah Sylvie im Morgengrauen, wie sie verkleidet den Weg zur Waldlichtung entlang eilt.
    Ich glaube fest an die Wirkung des Saphirs. Und um die Wirkung zu verstärken, folge ich ihr, um ihr mit meinem Degen und meiner Kraft beizustehen.

  • von Salome



    19.Januar 2006 5:05


    Seit einigen Stunden schon sitze ich nun hier auf diesem unbequemen Stuhl, nahe bei ihr. So oft es geht halte ich ihre kleine verschrumpelte Hand, durch die Klappe des Inkubators, in der Hoffnung sie spürt, dass ich da bin. Sie bewegt sich kaum, meine Tochter. Ich will heute nicht alleine in meinem Zimmer im Elternhaus sitzen, will nicht schlafen, muss hier sein, bei ihr. Ich glaube sie spüren, wie wichtig es mir ist und lassen mich hier sitzen und dem Herzschlag lauschen, der durch den Raum schallt.


    Ich starre aus dem Fenster, hoffend, dass diese Nacht bald zu Ende geht, ohne irgendeinen Alarm. Ein weiteres Stück auf unserem Weg hier raus, doch noch ist kein Ende in Sicht. In der Fensterscheibe reflektieren die Kontrollleuchten der unzähligen Apparate, an die sie angeschlossen ist und vermischen sich mit den pulsierenden Lichtern der Stadt. Die ganze Welt ist Herzschlag und Atem. Ihr Herzschlag und Atem. Immer wieder kommt eine Schwester in das Zimmer, unerbittlich wie eine Figur aus einem Traum, aus dem man schnell wach werden will. Mit ihr kommt diese obligatorische Frage, ob ich denn nicht schlafen gehen möchte, man würde hier doch alles Menschenmögliche für sie tun. Ich sehe mir dabei zu wie ich den Kopf schüttele. Mein Blick wendet sich wieder dem Fenster zu. Mir ist, als säße ich auf dem Boden eines Glasbeckens, voll mit meinen Tränen. Ich kriege keine Luft mehr, muss nach oben, muss an die Oberfläche, aber sie hält mich fest mit ihrer kleinen Hand, lässt mich nicht los.


    19.Januar 2006 7:38


    Ein Schimmer Licht, der das Dunkel durchbricht, als wäre ein ungeduldiger schöner Traum aus meinem Kopf ausgebrochen und hätte hier das Kommando übernommen; die blaue Stunde. Endlich! Ich bin müde, habe seit Tagen nicht geschlafen, nicht geträumt...


    ...Ich fliege durch die Gänge des Krankenhauses, hoch über den Krankenschwestern, Ärzten und diesen ganzen Maschinen. Ich suche den Weg nach draußen, aber alle Türen sind verschlossen. Meine kleine Tochter drücke ich fest an mich. Sie atmet leise, ich spüre das Heben und Senken ihrer kleinen Brust. Ich werde panisch, ich muss sie hier raus bringen. Schließlich zertrete ich die Fensterscheibe, spüre die eiskalte Winterluft schneidend in meinem Gesicht, spüre die Tränen auf meinem Gesicht gefrieren. Wir haben es tatsächlich geschafft. Wir fliegen durch das Blau, zur Dämmerung hin, nach Hause.


    19 Januar 2006 16:28


    Das Telefon klingelt. Ich schrecke hoch, bin in meinem Zimmer im Elternhaus. Wie spät ist es ? Ich schaue auf meine Armbanduhr, kurz vor halb fünf. Ich hasse dieses Telefon. Es ist immer ein Arzt, oder mein Mann. Es ist immer ein weiterer Lungenriss oder eine Infektion. Bevor ich es merke ist der Hörer an meinem Ohr und eine vertraute Stimme bittet mich zur Station zu kommen. Alle meine Gedanken sind schlagartig verschwunden. Ich ziehe mich im Eiltempo an, werfe meinen Mantel über und laufe nach draußen. Es dämmert; wieder eine blaue Stunde. Und dann laufe ich, laufe schnell, durch die Dämmerung ins Dunkel.

  • von Roxane



    »Kennst du das?«
    Ihre Finger umschlangen einander, lagen ganz symmetrisch da, bildeten ein perfektes Muster. Nur der kleine Finger ihrer rechten Hand war anders; das war falsch. Sie spreizte ihn so merkwürdig nach außen ab, wo er doch eigentlich in einem rechten Winkel mit ihrem linken kleinen Finger zusammentreffen sollte. Wie gern hätte er ihn zurechtgerückt, doch er scheute den Körperkontakt. Um nichts in der Welt wollte er sie berühren. Es war falsch.
    »Kenne ich was?«, fragte er und versuchte, ihre Wimpern zu zählen. Es gelang nicht.
    »Es ist … komisch, aber heute hab ich wieder daran gedacht. Vor einem Jahr ist es mir zum ersten Mal aufgefallen, oder vor zwei. Damals war ich gerade zwölf geworden …«
    Dann war es exakt vor anderthalb Jahren, zwei Monaten und zwei Wochen, dachte er.
    »Und?«
    »Kennst du das, wenn du eine Zahl hörst und dir diese Zahl dann farbig vorstellst? Bei mir ist eine Zwei orange. Eine Eins ist weiß, aber eine Vierunddreißig grüngelb. Kennst du das?«
    »Blau.«
    »Wie?«
    »Alles ist blau. Eins, zwei, drei. Kein Unterschied.«
    »Bei dir sind alle Zahlen blau? Wirklich?«
    »Vierunddreißig ist blau. Vierzig, fünfzig, sechzig. Alles blau. Blau ist richtig.«
    »Aber es gibt kein richtig oder falsch. Liegt das bei dir denn nicht im Unterbewusstsein?«
    Sie stützte die Ellbogen auf dem Zaun auf und legte das Kinn in die Hände. Eine Strähne rutschte aus ihrem blonden Pferdeschwanz und verirrte sich zwischen ihre Augen. Er begann einen neuen Versuch, um sich von der falschen Haarsträhne abzulenken. Die Wimpern waren zu viele, flimmerten vor seinen Augen.



    Sie sah die Blockade in seinen tiefschwarzen Augen, sah, wie die Teilnahmslosigkeit darin umherschwamm und ihre Kreise zog wie kleine dunkle Fische. Er erwiderte ihren Blick nicht wirklich, in Wahrheit gingen seine Pupillen überhalb ihrer Augen spazieren, huschten verstört umher, als ob sie etwas suchten und nicht fanden.
    Sie wünschte sich, er würde sie nur ein einziges Mal so ansehen, wie sie ihn ansah. Nicht mit dieser Sachlichkeit, nicht mit diesem Drang, Informationen aus all ihren Bestandteilen herauszufiltern.
    »Was … ist mit Buchstaben, Lars?«, hob sie an. »Sind deine Buchstaben auch blau?«
    »Blau. Blau ist richtig.«
    »Du findest blau schön, was?«
    »Schön? Nein, richtig.«
    Natürlich. Sie schluckte. Schön. Dieses Wort hatte keinerlei Bedeutung für ihn, vermittelte ihm nichts. Sein T-Shirt war jeden Tag das selbe. Marineblau, schlichter Schnitt; wenn es kalt war, zog er eine blaue Jacke darüber und zippte den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Immer bis unters Kinn. Und immer stand er dort hinterm Zaun, wenn sie von der Schule kam. Jeden Tag um halb zwei wartete er auf sie, wartete auf ein Gespräch von zehn Minuten.
    »Lars …«
    »Es ist Zeit. Ich muss ins Haus. Dreizehn Uhr vierzig.«
    »Lars, ein Buchstabe ist rot, rot wie die Liebe.«
    »Mutter ruft. Dreizehn Uhr vierzig, sechsundfünfzig Sekunden. Das ist falsch.«
    »Lars, das L ist rot. Nur das L.«
    »Blau. Dreizehn Uhr einundvierzig!« Er schrie es nun fast, Panik bebte in seiner Stimme. Er wirbelte herum, rannte ins Haus. Und hinterließ bläulichkalte Stille.

  • von Tom



    Henner ist so einer. Er entscheidet einfach, zum Beispiel, am Freitagabend in den Zug zu steigen, um nach Berlin zu fahren. Wir stehen in einem überfüllten Großraumwagen, es riecht nach Fisch. „Iß das“, sagt Henner, und hält mir eine Dose Ölsardinen unter die Nase. Der Bundeswehrsoldat, der mich ständig mit seinem Ellenbogen rammt, verdreht die Augen.
    „Wieso?“ frage ich.
    „Wirst schon sehen.“
    Er lächelt, dann schlägt er ein zerfleddertes Taschenbuch auf und versenkt sich schmunzelnd in die Lektüre. Ich nehme die Sardinen und trete dem Soldaten absichtlich auf den Fuß.


    Wir laufen Slalom um Hundescheiße und kaputt aussehende Typen, die auf dem Bürgersteig herumstehen und nichts tun. „Das muß es sein“, sagt Henner und zeigt nach vorne. Ich bin erleichtert. Die U-Bahnfahrt hierher war die Hölle. Nie im Leben hätte ich geglaubt, daß es so viele seltsame Gestalten auf einen Haufen gibt, mal von Geisterbahnen abgesehen.


    Die Kneipe sieht gemütlich aus, hinter dem Tresen steht ein dreitagebärtiger Anfangdreißiger, auf dessen T-Shirt ‚Jammern kannst Du woanders’ zu lesen ist. Henners Blick irrt durch den Raum. Dann beugt er sich vor, geht in die Knie und prüft den Tresen. „Aber das muß der Laden sein“, erklärt er, als er wieder hochkommt. Sein Atem riecht nach Ölsardinen.
    „Kann ich helfen?“ fragt der Wirt freundlich.
    Henner hebt das Buch hoch. „Das ist doch hier?“
    „Mehr oder weniger.“
    Jetzt lächelt Henner. „Wir wollen es tun.“
    „Ihr wollt was tun?“ fragt der Wirt, aber seinem Gesicht ist abzulesen, daß er etwas ahnt. Im Gegensatz zu mir.
    Henner kramt eine Eieruhr hervor und stellt sie auf den Tresen. „30 Biere in einer halben Stunde. Du kannst mit dem Zapfen anfangen.“ Dann setzt er sich auf einen Hocker und bedeutet mir, mich auch hinzusetzen.
    „30 Biere in ... Was?“ frage ich.
    Henner grinst. „Der Idiotentest. Wenn wir dreißig Nulldreier in einer halben Stunde trinken, ohne auf Klo zu gehen, müssen wir die Zeche nicht bezahlen. Und wir bekommen lebenslang jeden Abend ein Bier gratis. Steht alles in diesem Buch.“ Er legt das zerlesene Teil auf den Tresen.
    „Wir wohnen in Münster.“
    „Ist eher symbolisch.“ Er dreht sich zum Wirt, der kopfschüttelnd ein großes Bier zapft. „Hat das schon jemand geschafft?“
    Der Wirt lacht und schüttelt weiter den Kopf.
    „Na dann. Los.“
    „Äh. Halt!“ sage ich, denn ich habe nachgerechnet.
    „Weichei“, schimpft Henner und stößt mir den Ellenbogen in die Rippen. Gleichzeitig stellt er die Eieruhr. Der Wirt zuckt die Schultern und baut eine Phalanx Biergläser auf.
    „Hast du sie noch alle?“ frage ich schwach.
    „Das ist gelebte Literatur“, erklärt Henner strahlend.


    Zwanzig Minuten später knien wir nebeneinander vor zwei Kloschüsseln. Ich weiß nicht, ob ich schon gepinkelt habe, ich weiß wenig in diesem Moment, denn ich kotze Biersuppe mit Ölsardinen, es stinkt unglaublich, meine Arme zittern und ich nehme alles nur durch einen wattierten Nebel wahr. Siebzehn Biere habe ich gezählt. Henner macht ein grausiges Geräusch, als ein weiterer Schub Würfelhusten kommt.
    „Weißt du, Arschloch“, nuschele ich. „Du darfst nicht alles glauben, was in Büchern steht.“

  • von Sinela



    Dunkelblauer Himmel wölbte sich über den Häusern. Schiffen auf dem Meer gleich zogen kleine weiße Schäfchenwolken langsam von Ost nach West, warfen so ein Spiel aus Licht und Schatten auf die Erde. Rote Ziegeldächer reflektierten die gleissenden Strahlen der Sonne. Eine leichte Brise wehte über das Land, ließ die Blätter der Bäume erbeben. Die Ersten von ihnen hatten sich bereits gelb verfärbt, fielen völlig losgelöst zu Boden. Die Pflanzenwelt gierte nach Regen, der schon lange nicht mehr gefallen war. Lautes Kinderlachen erfüllte die Luft. Ein paar Jungs jagten hinter einem Fußball her, trampelten den Löwenzahn und die Gänseblümchen platt. Der jüngste Nachwuchs war mit seinen Müttern auf dem Spielplatz, formte mit seinen Plastikformen Kuchen aus Sand oder schaukelte. Etwas ältere Kinder spielten Fangen oder Verstecken, während es sich die meisten Erwachsenen auf den vor dem Haus aufgestellten Holzbänken bequem gemacht hatten. Auf dem Grill brutzelten schon die Steaks. Und das kühle Bier stand auch schon bereit. Was machte das Leben Spaß an diesem wunderschönen Sommertag!


    Mit traurigem Blick saß die 29jährige Frau am Fenster ihres Zimmers und starrte hinaus. Aber ihre blauen Augen blickten ins Leere, nahmen nichts vom bunten Treiben draußen wahr. Alles war wie in einen grauen Nebel gehüllt: Der Himmel, die Bäume, die Vögel, die Menschen. Kein Licht erreichte ihr Innerstes. Es war dunkel in dem Raum, in dem sich ihre Seele aufhielt. Sie hatte keine Gefühle mehr, konnte nicht mehr lachen oder weinen, sich über nichts mehr freuen. Das Leben war ihr eine Last, die sie nicht länger tragen wollte. Warum sollte sie sich noch länger plagen? Warum weiter kämpfen? Die dauernden Schmerzen, die ihr ihre Krankheit bescherte, mit diesen wäre sie noch klar gekommen. Irgendwie. Auch mit einigen der damit verbundenen Einschränkungen. Aber das Alleinsein, das abwenden all ihrer so genannten Freunde, weil man mit ihr ja nichts mehr anfangen konnte, die mangelnde Unterstützung der Ämter, die dauernden Geldsorgen, all das nahm ihr die letzte Kraft. Den ganzen Tag war sie eine Gefangene ihrer Wohnung, da sie niemanden hatte, der mit ihr raus fuhr. Ins Grüne, wo sie früher so viele glückliche Stunden verbracht hatte. Was würde sie dafür geben, wenn sie einmal wieder den Wald, das im Wind sich wiegende Getreide sehen könnte. Oder im Frühling unter einem blühenden Apfelbaum inmitten der Streuobstwiesen sitzen, den blauen Himmel über ihr. Schwimmen oder tanzen, mit Freunden essen gehen, Sex...... Nie wieder, nie wieder, nie wieder. Lautlos flossen Tränen über ihr Gesicht. Heute würde sie ihrem Leben ein Ende bereiten, vermissen würde sie eh niemand. Entschlossen nahm die Frau das Messer vom Fenstersims und durchtrennte mit schnellen Schnitten die blauen Bänder der Pulsadern an ihren Handgelenken. Dunkelrot pulsierte das Blut hervor und bildete auf dem Boden eine sich rasch vergrößernde Lache. Schon nach wenigen Minuten erschienen blaue, gelbe und grüne Schlieren vor dem Auge der sterbenden Frau. „Ob das Dasein im Jenseits auch für mich wieder bunt sein wird?“, war ihr letzter Gedanke, bevor die endgültige und alles verzehrende Schwärze über sie fiel.

  • von churchill



    „Du schaust so traurig.“
    „Das muss so sein. Ich kann nicht anders.“
    „Jeder kann anders. Wenn er nur will.“
    „Ich werde erst anders schauen können, wenn ich sie gefunden habe. Und dann spielt es keine Rolle mehr, wie ich schaue.“
    „Wenn du was gefunden hast?“
    „Die Blume. Alle suchen sie.“
    “Ich suche keine Blume. Es gibt doch genug davon.“
    „Du verstehst nicht. Du bist wie alle. Die Wale sind anders. Kennst du die Walreligion?“
    „Ich habe nur mal von der Delphinreligion gehört. Aber das ist doch Unsinn.“
    “Nein. Delphine sind ja Wale. Das wäre das Ziel.“
    „Sag mal. Bist du ...? Hast du ...?“
    „Alkohol interessiert mich nicht. Nicht, wenn ich suche.“
    „Und dein Job?“
    „Heute nicht. Ich mache – frei. Um frei zu werden für die Suche.“


    „Und? Bist du frei?“
    „Natürlich nicht. Werden ist etwas anderes als Sein. Der entscheidende Schritt wird immer neu blockiert.“
    „Wodurch?“
    „Multisensuale Unicolorfixierung.“
    „Multi- was?“
    „Multisensuale Unicolorfixierung. Die Suche nach der Blume konfrontiert mich permanent mit jener Farbe.“


    „Du bist verrückt“
    „Nein. Ich war noch nie so nahe dran .An der Blume. “
    „Du bist verrückt. Komm, lenk dich ab. Wir hören ein bisschen Radio.“
    „Du brauchst das Ding nicht anzustellen. Ich weiß, was sie spielen.“
    „Was denn?“
    „Heino. Enzian.“
    „Das ist ja grauenhaft!“
    „Eben. Sag ich ja. Immer und überall das gleiche.“


    „Dann lass uns spazieren gehen.“
    „Was soll das bringen? Wasser und Himmel. Nicht zum Aushalten.“
    „Aber hier drinnen wirst du die Blume nicht finden können“
    „Nur hier drinnen. Ganz tief drinnen.“
    „Du klingst depressiv.“
    „Ich bin treu. Ich muss treu sein. Ich kann nicht anders.“
    „Wem? Und warum?“
    „Wem? Das spielt keine Rolle. Warum? Sagte ich doch. Multisensuale Unicolorfixierung“
    „Das ist alles Quatsch. Du machst mir Angst.“
    “Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du Abstand hältst, passiert dir nichts.“
    „Abstand? Wovon sprichst du?“


    „Cyanwasserstoff. Ich werde daran sterben. Woran sonst?“
    „Sterben?“
    „Du wirst es nicht riechen können. Die Hälfte aller Menschen kann es nicht riechen. Bittermandel. Klingt so harmlos. Meine Nase nimmt schon lange nichts anderes mehr wahr . Das muss so sein. Es ist die Brücke zur Blume.“


    „Mir reicht es jetzt. Kannst du mir endlich sagen, wovon du die ganze Zeit sprichst? Ich begreife absolut nichts. Was für eine Blume suchst du? Und was soll das Gelaber von der multidingsda.“
    „Multisensuale Unicolorfixierung. Ich suche die gleiche Blume wie Novalis und Eichendorff. Sehnsucht. Liebe. Unendlichkeit. Und ihre Farbe begegnet mir auf Schritt und Tritt. Diese kalte brutale Farbe. Ich kann ihr nicht ausweichen. Ich bin ihr ausgeliefert. Weißt du, was es bedeutet, einer Farbe ausgeliefert zu sein? So gehe ich den mir aufgezwungenen Weg von nun an bewusst. Ich werde die Farbe annehmen. Mit allen Konsequenzen. Die Farbe und ich werden eins.“


    „Novalis? Romantik? Blume? Farbe? Ich verstehe.“
    „Endlich.“
    „Diese Farbe! Gott sei Dank!“
    „Gott sei Dank?“
    „Ich dachte schon ... ich fürchtete schon ...“
    „Was denn?“
    „Dass du mir gestehen willst ...“
    „Ja?“
    „Dass du jetzt kiffst und bei den Grünen bist ...“

  • von polli



    Glänzende rote und goldene Kugeln, mattgoldenes Lametta und filigrane Engelfiguren zierten den Weihnachtsbaum, einfach perfekt. Nur eine einzelne mattblaue Kugel störte den Gesamteindruck. Meine Nachbarin bemerkte meinen Blick und sie fragte: „Möchten Sie die Geschichte dieser blauen Kugel hören?“
    Ich nickte.
    “1981 wollten wir unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest feiern. Meine Schwiegereltern waren zum Festmahl eingeladen, die kleine Wohnung sollte so geschmückt werden, wie es mein Mann aus seinem Elternhaus kannte, mit einem Christbaum, Geschenkpaketen darunter und traditioneller Chormusik im Hintergrund. Ich gab mir große Mühe. Die Menüauswahl besprach ich mit Holger, kochte das Essen sogar vorsichtshalber am zweiten Advent zur Probe. Am Heiligabend kaufte mein Mann eine Edeltanne und nachmittags um fünf Uhr wollten wir gemeinsam den Baum herrichten. Ich hatte mir überlegt, dass blaue und silberfarbene Kugeln zusammen mit mattsilbern schimmerndem Lametta wunderbar aussehen würden, denn, das wusste ich aus den Erzählungen meines Mannes, seine Eltern legten großen Wert auf einen harmonischen und ästhetischen Gesamteindruck.”
    “Hatten Sie Angst etwas falsch zu machen?”, fragte ich vorsichtig nach.
    “Sehr viel Angst”, bestätigte die Nachbarin. “Holgers Eltern waren perfekt und sie erwarteten das Gleiche von mir. Ich holte also die Kugeln aus den Kartons und zeigte sie meinem Mann. Der war außer sich. Hast du keine roten? Rot müssen sie sein, allenfalls golden, aber doch nicht in diesem entsetzlichen neumodischen Blau, was hast du dir bloß gedacht? Es ist eine Katastrophe, so schimpfte er, bis wir einen Riesenkrach hatten. Wegen eines Dutzends lächerlicher Christbaumkugeln.
    Am nächsten Morgen redeten wir nur das Nötigste. Ich war in der Küche mit den Menüvorbereitungen beschäftigt, Holger ordnete hier und da etwas und wurde zunehmend nervös. Kurz vor dem Mittagessen erschienen meine Schwiegereltern. Holgers Mutter warf einen Blick auf unseren Baum und ließ eine einzige spitze Bemerkung fallen: Sehr ungewöhnliche Farbe! Aber wie sie es sagte, das hätten Sie hören sollen. Es klang wie: Sehr untaugliche Schwiegertochter! Ich schwieg dazu, obwohl es mir schwer fiel, aber dann sagte mein Mann exakt das Falsche: “Entschuldigt, sie wusste es nicht besser.”
    Und da bin ich wütend geworden. Habe den Christbaum umgeworfen, den Baumschmuck zertrampelt und angekündigt, dass ich auf solche tyrannischen Familienrituale pfeife, verdammtnochmal. Wer mit mir Weihnachten feiern wolle, der könne nicht verlangen, dass ich mich seinen kleinlichen Gewohnheiten unterwerfe, und wer mit mir verheiratet sein wolle, der müsse zu mir und nicht zu seinen Eltern halten! Danach bin ich aus der Wohnung geflohen bis in die nächste Eckkneipe.
    Später kam Holger nach. Er hielt einen zerrupften Tannenzweig in der Hand, geschmückt mit der einzigen heil gebliebenen Christbaumkugel, und sagte, wenn ich einverstanden sei, dann wolle er gern weiter mit mir verheiratet sein, und zwar ab sofort nur nach unseren eigenen Regeln. Ich habe zugestimmt. Unter einer Bedingung: Ich wollte nie wieder perfekt sein müssen, weder für meine Schwiegereltern noch für meinen Mann. Und daran soll uns die blaue Kugel jedes Weihnachtsfest aufs Neue erinnern.“