• Emily


    Es war der erste Abend seit 37 Tagen, an dem ich freiwillig und ohne bestimmtes Ziel das Haus verließ. Schon nach dem 10. Tag hatte ich beschlossen etwas zu ändern, doch die Phase tiefster Depression und schlimmstem Selbstmitleid bestimmte weiter meinen Tagesablauf.
    Ich sah mich selbst als einen einsamen Schriftsteller, der auf Seite 269 seines Buches plötzlich nicht mehr weiter weiß und nicht zuletzt deswegen von seiner Freundin verlassen wurde.
    Um so stolzer war ich auf mich selbst, als ich einen Fuß nach dem anderen langsam und bei vollem Bewusstsein meiner geistigen Kräfte vor die Tür setzte. Im Schein des warmen Mondes schlenderte ich durch die Straßen der schlafenden Stadt. Ich hatte nichts dabei. Kein Handy, falls mich eine Bande wilder Jugendlicher überfiel, kein Geld – nicht einmal für eine Schachtel Zigaretten, sogar auf die Schuhe hatte ich verzichtet um den eiskalten Asphalt zu spüren. Alles was ich trug um mich gegen die Kälte zu schützen, die diese Nacht die Gegend umhüllte, war ein dicker Baumwollschal, den mir meine Großmutter gestrickt hatte, als ich noch in die Schule ging. Was sich seit dem nicht alles verändert hatte.
    Ich habe mehr Geld verdient, als manch ein Bankangestellter je in den Händen gehalten hat. Ich habe viele Bücher rausgebracht, die in unzählige Sprachen übersetzt wurden. Ich hatte ein halbes Dutzend Frauen, die ich alle irgendwann verließ, weil eine andere noch schöner war. Mein Haus war das größte und schönste im ganzen Viertel und jeder noch so glückliche Familienvater beneidete mich darum. Und nun wusste ich nicht weiter. Mein Geld lag sicher auf der Bank, aber ich wusste nicht wofür ich es ausgeben sollte. Mein aktuelles Buch handelte von der Unabhängigkeit eines erfolgreichen Menschen. Die wohl schönste Frau dieser Welt, war mit der Begründung fortgegangen, ich sei ein egoistischer Nichtsnutz. Und in dem riesigen Haus bewohnte ich nur drei von 24 Zimmern.
    Ich kannte die Gründe meiner Krise und die bedrückenden Unzufriedenheit, die meine Seele fesselte besser, als jede meiner Geschichten. Aber zum ersten Mal war ich entschlossen etwas zu ändern.
    Neben mir zog eine alte Dame ihre Gardinen zu, im oberen Stockwerk des Hauses schaltete jemand das Licht aus und irgendwo am Ende der Straße schreite ein kleines Kind. Diese Menschen schienen genau zu wissen, was zu tun war. Wie ich sie darum beneidete.
    Das Schicksal führte mich immer weiter in die Innenstadt. Vorbei an dunklen Gassen, beleuchteten Schaufenstern und flackernden Straßenlaternen mitten ins Herz der Stadt.
    Nicht viele Menschen waren unterwegs, doch trotzdem fühlte ich mich seit über einem Monat das erste Mal nicht allein. Es war ein merkwürdig warmes Gefühl, das mich erstaunlicher Weise dazu brachte mit jemandem Reden zu wollen. Ein Drängen und Sehnen, das ich nie zuvor kennen gelernt hatte.
    An einer etwas ruhigeren Ecke, ein Stück entfernt von den großen Geschäften saß eine zierliche Gestalt – eingewickelt in eine braune Wolldecke. Ganz von alleine ging ich immer näher an sie heran, bis meine nackten Füße schließlich nur noch wenige Zentimeter vor einer kleinen Plastikschale mit ein paar Münzen standen. Die junge Frau blickte mich nicht an. Ihr Kopf war schüchtern nach unten gelehnt, aber ich wusste, dass sie nicht schlief.
    Erst, als die Decke ein Stück tiefer rutschte bemerkte ich das kleine Baby, das in ihren Armen lag. Es hatte die Augen geschlossen, atmete sehr langsam und schmiegte sich an den warmen Körper seiner Mutter.
    Eine brennende Träne lief mir über die linke Wange, denn dieses Bild nahm mich sehr mit. Ich spürte etwas wie Liebe für diese Frau, weil sie einfach nur da saß und ihr kleines Kind schützend in den Armen hielt. Ich war nahe daran nach einer Münze zu suchen, um sie ihr in die Schale zu legen, doch noch bevor ich realisierte, dass ich ja überhaupt keinen einzigen Cent bei mir hatte, merkte ich, dass diese Frau mehr verdient hatte, als ein wenig Geld. Zum ersten Mal seit ich denken konnte, stellte ich die Wichtigkeit von Reichtum in Frage.
    „Hallo“, sagte ich leise, aber bestimmt zu der geheimnisvollen Erscheinung. „Keine Angst. Ich tue Ihnen nichts. Ich würde Ihnen nur gern helfen.“ Mein Gegenüber bewegte sich keinen Zentimeter, hörte jedoch schlagartig auf zu atmen. Ich machte mir Sorgen sie könnte ersticken und kniete mich hin um ihr zu zeigen, dass ich wirklich nichts Böses wollte. Langsam erhob die junge Mutter ihren Kopf und mich blickten zwei Augen an, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Sie drückten eine solche Traurigkeit aus, dass mir für einen Moment das Herz stehen blieb. Irgend etwas in mir veränderte sich in diesem Moment gewaltig. Unter normalen Zuständen hätte es mir wahrscheinlich schreckliche Angst bereitet, aber in diesem Moment konnte ich nicht anders, als meinen Arm um die Frau zu legen, die noch immer kein Wort gesagt hatte. Jeder Mensch dieser Stadt, der auch nur einmal im Monat die Nachrichten las, hätte auf die Sekunde gewusst wer ich war und mich mit Hochachtung und Bewunderung nach meinem neuesten Buch gefragt. Dabei konnte ich die Gedanken an diese Geschichte nicht einmal in einer Situation größter Freundlichkeit ertragen. Wie dankbar ich diesem unbekannten Geschöpf war, dass sie mich nicht damit konfrontierte.
    Ich setzte mich neben sie und ihre dunkelbraunen Augen folgten mir jede Sekunde. „Wie heißt du?“, fragte ich, als ich sowohl Herzschlag, als auch Atmung wieder im Griff hatte. Ganz langsam öffnete sich ihre Lippen und formten ein zartes „Emily“.
    Emily war gezeichnet von dem harten und schmutzigen Leben auf der Straße. Schrammen und Drecksspuren schienen ihr wunderschönes Profil vorteilhaft zu unterstreichen. Wind und Regen hatten ihre langen schwarzen Haare zerzaust. Fasziniert blickte ich sie an, als wäre sie eine Außerirdische. Unter all den Decken, Pullovern und anderen Kleidungsstücken befand sich eine so interessante und hübsche Frau, dass ich glaubte zu träumen. Wie kam ein so junger Mensch, der sein Leben noch vor sich hatte in eine solche Situation?
    Tagtäglich sah ich Obdachlose auf der Straße sitzen und ging uninteressiert an ihnen vorüber. Doch wie kamen sie hier her? Hatten sie wirklich ein Leben in der Kälte gewählt? Emily beugte sich über ihre kleine Tochter und streichelte sanft ihre Wange. Ich merkte ihr an, wie angespannt sie durch meine Anwesenheit war und verspürte mit jeder Sekunden einen stärkeren Willen ihr zu helfen.
    „Emily – warum bist du hier? Warum lebst du nicht mit deiner kleinen Tochter in einer warmen Wohnung?“ Verängstigt blickte sie mich an. Ihre Augen durchdrangen meine Seele und etwas in ihnen schrie nach Liebe und Geborgenheit.
    „Ich habe kein Geld für eine Wohnung. Es ist besser hier, als unter der Brücke bei den vielen Männern, die den ganzen Tag über Bier trinken.“ Emily lächelte leicht.
    Ich war erstaunt und zu tiefst beeindruckt von der Stärke dieser Frau. Sie schien fast zufrieden mit diesem Platz an einer Ecke, weil sie wusste, dass es schlimmer ging. Was war ich nur für ein Mensch? Ich schämte mich plötzlich für den Reichtum in dem ich lebte. Ich war verzweifelt, weil ich mit all dem Geld nichts anzufangen wusste und Emily war glücklich, wenn sie sich an einem Tag zwei Mahlzeiten besorgen konnte.
    Ich fragte sie, warum sie kein Geld habe und wieso sie nicht bei Freunden lebte. Emily antwortete, dass sie keine Arbeit habe und ihre Freunde in Albanien lebten. Sie erzählte mir nach und nach immer mehr aus ihrem Leben. Mit 19 Jahren schickten sie ihre Eltern auf die Flucht, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft für ihr junges Mädchen sahen. Mit zwanzig fand sie einen deutschen Mann, der bereit war sie zu heiraten, solange sie bei ihm wohnen würde um ihn zu versorgen. Kurze Zeit später wurde sie schwanger und die beiden beschlossen noch vor der Geburt die Hochzeit hinter sich zu bringen, damit Emilys Aufenthaltsrecht gesichert war. Zwei Wochen vor dem Termin beim Standesamt und drei Monate vor der Geburt ihrer Tochter Linda kam ihr angehender Ehemann bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Seit dem hatte Emily weder ein Recht auf ein Leben in Deutschland, noch die Möglichkeit irgendwie Geld zu verdienen.
    Plötzlich kam mir in den Sinn, dass diese Frau wirklich einsam war – nicht ich. Ihre ganze Liebe schenkte sie ihrer Tochter, die sie ruhig in ihren Armen wiegte.
    Als die Rathausuhr aus der Ferne Mitternacht schlug und Emily müde wurde, konnte ich nicht ohne sie gehen.
    Ich sagte ihr sie solle mit mir kommen und in einem meiner Gästezimmer schlafen. Emily erwiderte, sie könne ein solches Angebot nicht annehmen. Sie bedankte sich von ganzem Herzen für das Gespräch und versicherte mir, dass ich mehr für sie getan hätte als jeder Passant, der ohne sie eines Blickes zu würdigen - wie zufällig - eine Münze vor ihre Füße fallen ließ. Fast als hätte er Angst dabei gesehen zu werden.
    Ich war gerührt von ihren Worten, brachte es aber trotz ihrer Bitte zu gehen nicht über mich sie auf dieser einsamen Straße allein zu lassen.
    Langsam streckte ich meine Hand aus und reichte sie ihr. Emily zögerte noch immer. Erst nach weiteren beruhigenden Worten, konnte ich sie dazu überreden sich wenigstens anzuschauen, wo ich wohnte. Ich trug die Decken und den Rest ihres winzigen Besitzes und sie hielt Linda im Arm.
    Leise erzählte ich ihr, dass ich allein wohnte und genug Platz hatte um sie bei mir aufzunehmen. Ich versicherte ihr, dass ich ihr die Wahl lassen würde wie lange sie bliebe und gestand ihr kurz vorm Gartentor, dass ich mich einsam fühlte in einem ganzen Haus für mich allein.
    Damit erreichte ich ein schüchternes Lächeln auf Emilys Lippen und gewann allmählich ihr Vertrauen.
    Als wir im Flur standen und ich das Licht anknipste, blieb Emily regungslos stehen. Sie starrte die weißen Wände an. Ließ ihren Blick über den Spiegel wandern und verfolgte mit den Augen die vielen Treppenstufe, die in den ersten Stock hinauf führten. Unfähig etwas zu sagen, folgte sie mir ins Schlafzimmer. Auf dem Heimweg hatte ich beschlossen ihr mein Bett zu geben, weil es für zwei Leute gedacht war und sie so mit Linda im Arm einschlafen könnte. Ich würde mich diese Nacht auf die Wohnzimmercouch legen und wenn Emily beschloss zu bleiben, könnten wir ihr in den nächsten Tagen gemeinsam eines der vielen Zimmer einrichten.
    Als wir das Schlafzimmer betreten hatten, erklärte ich ihr, dass sie so lange schlafen könne, wie sie wollte, gab ihr mein größtes T-Shirt und ein paar Kleider meiner Exfreundin, falls sie sich umziehen wolle, zeigte ihr das marmorierte Badezimmer und legte ihr Handtücher und Seife zurecht. Dann verließ ich das Zimmer.


    Als ich schließlich allein mit der Stille der Nacht im Wohnzimmer lag wurde mir bewusst, was die Begegnung mit Emily in mir angerichtet hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das erleichternde Gefühl absolut das Richtige getan zu haben. Emily hatte mir geholfen mich selbst zu finden. Ich hatte in nur einer Nacht mein luxuriöses und weitgehend problemloses Leben zu schätzen gelernt. Ich wusste wieder wer ich war und warum ich lebte. Emily war wie ein Engel in mein Leben gekommen und ich beschloss mein Leben lang dafür zu sorgen, dass diese Frau glücklich war.


    In dieser Nacht schrieb ich ohne über ein Wort nachzudenken fast einhundert Seiten eines NEUEN Buches. Die angefangene Geschichte, die mich noch Stunden zuvor gequält hatte, schien mir plötzlich naiv und oberflächlich.
    Ich schrieb über Beziehungen zwischen Menschen, über die Liebe, die man tagtäglich in sich tragen solle, über den Sinn des Lebens und über die Suche nach dem eigenen Ich.


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    Ist sehr lang für die Verhältnisse hier, würde mich trotzdem freuen, wenn es jemand liest. Wenns wohl auch nicht so gut ist wie der Rest in diesem Forum...

    "Wer Angst vor Büchern hat, hat in Wirklichkeit Angst vor dem Leben."
    - Peter Prange in "Die Philosophin"

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von madita23 ()

  • Es ist machmal ein wenig holperig, aber ich mag die Geschichte. Fast wie ein Märchen.


    Zitat

    irgendwo am Ende der Straße schreite ein kleines Kind.


    Es heißt "schrie"


    Zitat

    Als ich schließlich allein mit der Stille der Nacht im Wohnzimmer lag wurde mir bewusst, was die Begegnung mit Emily in mir angerichtet hatte.


    "angerichtet" klingt so negativ, "bewirkt" hört sich schöner an.


    Naja, und ein paar Rechtschreibfehler, aber die Grundidee finde ich gut.

  • Am Anfang dachte ich "Autoren sind auch nur Menschen" doch ich kann mich nur an die Worte von geli73 anschließen

    Zitat

    Fast wie ein Märchen.

    echt obersüß!


    deny

    "Rettet Robert- bewahrt den kleinen Robert nur als kleine Nebenrolle zu enden"
    (Rubinrot- Kerstin Gier) Macht mit! :lache