Sowas passiert eigentlich nur anderen ...

  • Freitag, früher Abend, etwa 18.30 Uhr. Schon im Treppenhaus höre ich, daß in meinem Stockwerk irgendwas los ist. Die Wohnungstür der alten Frau G. steht offen, aus ihrer Wohnung ist Gepolter zu hören. Höflich, wie ich bin, klingele ich, die alte Frau G. kommt, eine putzige, rüstig wirkende Dame, Anfang siebzig, würde ich sagen, aber eigentlich ist ihr Alter kaum zu schätzen. Sie trägt ein durchaus schickes graues Kostüm, dazu riesige, knallrote Lockenwickler in den grauen Haaren.
    "Ihre Tür war offen", sage ich.
    Sie nickt. "Jemand hat meinen Schlüssel gestohlen."
    "Ach. Das ist ja schrecklich. Und jetzt?"
    "Ich suche nach dem Schlüssel." Sie geht wieder in die Wohnung, läßt die Tür offen, wie auch die Antwort auf meine Frage. Auch auf die, die ich jetzt gerne gestellt hätte.
    Hinter meiner Wohnungstür schreien die Katzen, die mich schon gehört haben, vor allem Chico, der immer hungrig ist. Ich schließe auf und schiebe die nörgelnden Viecher sanft mit dem Fuß hinein. Chico umschmeichelt meine Füße, ich falle beinahe hin, hänge meine Schlüssel weg, ziehe meine Jacke aus, gehe in die Küche. Die krähende Katzenarmada folgt mir. Es klingelt an der Tür.
    "Jemand hat meinen Schlüssel gestohlen", sagt Frau G., die mich ansieht, also würde sie mich zum ersten Mal erblicken. Chico kräht jetzt wirklich laut.
    "Ich komme gleich", sage ich.
    Ich fülle die vier Schalen mit Megamonstersuperkräckern, Chico beißt mir fast in die Hand. Er ist ein Räuber. Und immer hungrig. Fast immer.
    Dann gehe ich ins Bad. Auf ein Wannenbad habe ich mich schon seit morgens gefreut. Ich drehe den Hahn auf, gehe wieder in die Küche, weil Chico unglaublich schnell frißt und dann Kräcker aus den Schalen der anderen drei, langsamer fressenden Katzen angelt. Alles in Ordnung. Also schnappe ich mir mein Schlüsselbund, gehe nach draußen, auf Socken, ziehe die Tür zu. Unsere Katzen verlassen die Wohnung nie. Es sind echte Stubentiger.
    Frau G. steht vor ihrer Tür, die drei Schlösser hat, und fummelt mit zwei Schlüsseln herum. Ein Lockenwickler hat sich gelöst und hängt an der Schulter.
    "Wer sind Sie denn?" fragt sie mich.
    "Ihr Nachbar." Sie mustert mich, ihr Argwohn verschwindet nicht.
    "Jemand hat meinen Schlüssel gestohlen", wiederholt sie. Dann reicht sie mir das Bund mit den zwei Schlüsseln. Einer paßt oben, einer paßt unten, aber der für das mittlere Schloß, dasjenige, das für den Schnapper zuständig ist, fehlt offenbar.
    "Da fehlt ein Schlüssel", sage ich. Dabei fällt mein Blick auf das Schlüsselbund, das ich selbst in den Händen halte. Ach du Scheiße. Es sind die Büroschlüssel. Ich habe mich ausgesperrt. Chico wird den anderen alles wegfressen. Schlimmer noch: Der Überlauf unserer Badewanne ist unterdimensioniert. Das Wasser wird sich ins Bad ergießen.
    "Ich habe mich ausgesperrt", sage ich schockiert. Frau G. reicht mir ihr Schlüsselbund. "Probieren Sie's hiermit", schlägt sie vor.
    "Kann ich bei Ihnen mal telefonieren?"
    "Wer sind Sie eigentlich?" fragt sie zurück.
    "Ihr Nachbar. Ich habe mich ausgesperrt."
    "Jemand hat meinen Schlüssel gestohlen", behauptet sie, winkt mich aber in die Wohnung. In einem muffig riechenden, aber sauberen Wohnzimmer steht ein Apparat mit Wählscheibe. Ich brauche drei Anläufe, um die Mobilfunknummer meiner Frau zu wählen. Aber die ist in einer Kneipe, trifft sich mit Freundinnen. Es klingelt zwanzig Mal, dann springt die Mailbox an.


    Herr K., der Mann, der über mir wohnt, ist handwerklich begabt, wie man vorzugsweise samstags zwischen sieben und acht Uhr morgens hören kann. Ich sprinte nach oben, aber er ist nicht zuhause, wie mir Frau K. erklärt. Dominic, ihr achtjähriger Sohn, springt sofort zum Telefon, um Papa anzurufen. "Papa kommt gleich", erklärt er, und folgt mir in den zweiten Stock. Inzwischen ist dort Frau S. aus dem Erdgeschoß eingetroffen. Sie nickt in Richtung Frau G. und sagt: "Die Alte hat einen Vogel. Sie ist gefährlich. Irgendwann bringt sie uns alle noch um. Fackelt das Haus ab."
    'Aber erstmal ertränke ich uns alle', denke ich, sage aber nichts. Frau G. hat gehört, was Frau S. gesagt hat, und sie schreit: "Was soll dieser Ton? Wer sind Sie überhaupt? Haben Sie meine Schlüssel gestohlen?"
    Frau K. ruft aus dem dritten Stock, daß sie den sozialpsychologischen Dienst angerufen hätte. Ich frage mich, was der tun soll.


    Chico kann Türklinken bedienen. Aber das macht er nur, wenn er hungrig ist. Obwohl er vermutlich gerade vier Portionen verschlungen hat, stelle ich mich trotzdem an unsere Tür und rufe: "Chico, Freßchen."
    Keine Reaktion. Dafür lacht sich Dominic schlapp.


    Die Situation eskaliert, nur ist auch Herr J. aus dem vierten Stock eingetroffen. Frau G. probiert stoisch die beiden Schlüssel und wiederholt ebenso stoisch die Diebstahlsbehauptung. Zwischendrin bietet sie mir an, meine Tür mit ihren Schlüsseln zu öffnen. Ich habe derweil eine Kreditkarte ruiniert. Frau S. schimpft lautstark. Endlich trifft Herr K. ein. Er hat einen Satz Dietriche dabei.


    Zehn Minuten später bin ich in meiner Wohnung. Chico läßt sich nicht blicken, aber die anderen drei Katzen murren hungrig. Ich gebe ihnen noch was, nachdem ich das Wasser abgedreht habe. Es stand einen Zentimeter unter der Wannenkante.


    Als ich im Wasser liege, höre ich eine Feuerwehrsirene von draußen. Im Flur ist immer noch die Hölle los. Ich setze meinen iPod-Kopfhörer auf, nehme mein Buch, schlage es auf und denke dabei: "Sowas passiert eigentlich nur anderen..."


    (Wahr und so geschehen vor drei Wochen.)

  • ...genial. Genial passiert, genial erzählt. Danke, you made my Feierabend!!! Heute werde ich von jenem Tag träumen, an dem ich die Schlüssel in der Wohnung ließ, nicht aber meine Tochter. Und von dem Schlüsselmann, der die Bauhaus-Natur- und-Denkmalgeschützte Türe versaubetelt hat. Nach viereinhalb Stunden Arbeit seinerseits und viereinhalb Stunden Beschäftigung mit Fahrstuhlfahren meinerseits.
    :knuddel1 Silke

  • Zitat

    Original von Meg
    :rofl :rofl :rofl


    Du machst ja was mit. :knuddel1 Hast mich gerade zum lachen gebracht. Danke dafür. :knuddel1


    :write...Klasse erzählt :-]...bis auf die Erwähnung des iPod-Kopfhörers. Das hätte gezz nich nötich getan... :fetch :lache


    :wave

  • Danke! :wave


    Ironie : Ist einfach so runtergetippt, sorry wegen der Fehler.


    Ines : Inzwischen habe ich erfahren, daß Frau G. im Schnitt dreimal pro Woche ihre Schlösser austauschen läßt, jedes Mal, wenn der Pflegedienst da war. Eine Nachbarin versucht, Verwandte von Frau G. zu kontaktieren, da sie offenbar doch ziemlich verwirrt ist, vorsichtig ausgedrückt. Schade, denn die alte Dame macht ansonsten einen pfiffigen Eindruck. Sie vergißt nur sehr schnell, und sie ist extrem mißtrauisch. :grin

  • Die Story ist wirklich gut!
    Das kann jeder nachvollziehen, der schon einmal ausgesperrt war.


    Ich habe mich dieses Jahr mal an einem Freitag gegen 21:30 ausgeschlossen und dann bei der 80jährigen Nachbarin unter mir auf den Schlüsseldienst gewartet. Da gab es Nescafé und Kekse bis die Herren 1 Stunde später auftauchten und nochmal 30 Minuten an dem Schloss herummachten (Sicherheitsschloss).
    Meine Suppe war inszwischen eingekocht; die Katzen hatten das Fleisch von der Arbeitsplatte gestohlen und sahen sehr zufrieden aus.

  • Ahja, sowas in der Art kenne ich. Nur lag mein Schlüssel bei einem Nachbarn der in der Silvesternacht einen zu viel im Tee hatte und nicht mehr öffnete und statt dem Badewasser war mein Kleinkind plötzlich allein in der Bude. Wir mussten letztenendes die Tür aufbrechen. :-(


    Toll geschrieben. Die Frau G. ist ja rührig. :lache

    _______________________
    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

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  • Kann ich mir richtig lebhaft vorstellen......"nur die Ruhe bewahren"....,
    aber Frau G.s Zustand hört sich weniger gut an, denke der wird noch schlimmer...


    @alle Eulen :nono
    bitte nie mehr Wasser oder Herd anlassen, wenn ihr die Wohnung verlässt!

  • Sehr fein erzählt. :lache


    In einer meiner früheren Wohnungen habe ich mich innerhalb von 5 Jahren 3 mal ausgesperrt. Es gab da aber Nachbarn, mit deren Hilfe ich jedesmal wieder reinkam. Ich brauchte dazu nur einen Schraubendreher, einen Spazierstock und etwas Bepanthen. Meine Nachbarn waren genauso hilfreich, wie verständnisvoll. Mit dem Schraubendreher habe ich den Deckel vom Briefkastenschlitz abgeschraubt und musste danach nur noch geschickt den Griff des Spazierstocks über den Türgriff bugsieren. Nach ein paar Fehlversuchen habe ich die Tür irgendwann immer aufgekriegt. Die Creme hat anschließend nur noch meine wundgescheuerten Handgelenke kuriert. Leider hat mich das nicht davon abgehalten, die Übung gelegentlich aufzufrischen.


    Komischerweise haben meine Nachbarn nach dem dritten Versuch eine Weile immer hektisch nach dem Werkzeug gesucht, wenn ich vor der Tür stand. :gruebel

  • Tom, super Geschichte. Wir haben beim Lesen richtig laut gelacht, obwohl Frau G. ja echt bedauernswert ist. Für einfach runtergetippt ist da soviel feinsinniger Humor drin, einfach klasse.


    Mehr davon. :wave

  • Zitat

    Original von sill
    Kann ich mir richtig lebhaft vorstellen......"nur die Ruhe bewahren"....,
    aber Frau G.s Zustand hört sich weniger gut an, denke der wird noch schlimmer...


    Tjo...:-(


    Aber vielleicht kann sich ja Eure nette Hausgemeinschaft ein bissl kümmern? Nach Deiner Geschichte zu urteilen, scheint es sich ja um eine freundliche zu handeln, die noch ganz gut funktioniert?


    :wave

  • Jau, sowas passiert immer "anderen". Mir natuerlich auch ;-) Am besten wars als ich mich in meiner allerersten Studentenbude unterm Dach mal ausgesperrt hatte. Da war naemlich die Toilette auf dem Flur. Ich komm nach dem fruehmorgendlichen Gang zurueck zu meinem Zimmer - und steh vor verschlossener Tuer. Im Schlafanzug. Und kann nur dran denken, dass in einer Stunde mein Mathe Klausur stattfinden wird :wow :wow


    Um 8 Uhr morgens war meine Vermieterin leider auch schon aus dem Haus. Ich hab aber noch irgendjemanden rausklingeln koennen und von dort dann einen Schluesseldienst angerufen. Sie haben mir zum Glueck den Notfall mit dem anstehenden Examen geglaubt und waren schnell da. Ich bin sogar puenktlich zum Examen angekommen. Besonders gut gelaufen ist es dennoch nicht. Aber das ist eine gaaaanz andere Geschichte ...

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • hey Tom, das war ja mal ein feiner Bericht! :lache Ich kenne nun schon zwei Geschichten von dir, beide richtig gut, :bruell Gratulation!!!!!!!!!!!!!!!!!!
    In Erwartung auf mehr-liebe Grüsse :wave

  • Armer Tom, war bestimmt kein nettes Erlebnis. Wobei, ich könnte mir vorstellen, dass du jetzt in der Erinnerung daran auch darüber lachen kannst.


    Du darfst gerne noch mehr solcher Geschichten schreiben.
    Müssen ja nicht immer wahr sein, aber unterhalten dürfen sie uns.

  • Türkei - Urlaub Mai 2005:
    Wie immer wenn wir uns aufmachen ferne Länder zu erkunden, haben wir einen Standort, d.h.ein Bett in einem schönen, gemütlichen Hotel. Für unsere Exkursionen einen Mietwagen, eine Karte,- die ich als Frau natürlich nicht lesen kann -(das entspricht der absoluten Wahrheit!!!!) und reichlich Mineralwasser, es hatte inzwischen schon eine Aussentemperatur von - bummelig 30 Grad im Schatten!
    Einer dieser wunderschönen Tage, wir haben viele interessante Ausgrabungsstellen, aus vor und nach Chr.gesehen, haben fangfrische,richtig große Forellen gegessen und sind noch ein Stück zu einer alten Kavanserei gelaufen.
    Wären wir doch bloß weiter gefahren!!!
    Die Kavanserei, inzwischen vollständig zu einem Kitschmarkt umgebaut war schon mal eine Enttäuschung. Urlaub ist dafür zu schade, so führte und ein Kiesweg zu einem ganz klaren Süsswasserbach in dem die Forellen auf uns hungrige Touris warteten.
    Wären wir bloß an dieser Stelle einfach zurückgegangen!!!


    Ein Kamel lag friedlich kauennd, leise schnaubend im Schatten, daneben ein alter Mann, ebenfalls kauend und schnaubend.
    Ich:"ooooh, guck mal, ein Kamel!!!!,das will ich streicheln"
    Er: "mach mal, aber sei vorsichtig"
    Beim Kamel angekommen war der alte Mann plötzlich ganz lebendig, Ich wußte nicht wie mir geschah, neben dem noch immer friedlichen Tier stand ein Fußschemel, man suggerierte mir mich darauf zu stellen,zum streichel?,na gut...Plötzlich griff eine eiserne Hand meinen Fuß,hob mich hoch, ich konnte mich nicht zu Wehr setzen, und so "saß"ich auf jenem, nun nicht mehr friedlichen Kamel!Na sitzen konnte man das nicht nennen, ich hing schräg auf dem Vieh! Unbeirrt von meinem Hilfegeschrei wankte das Tier los. Alle die mich beim Eulentreffen gesehen haben können sich in etwa vorstellen wie das aussah, das arme Tier!


    Da denkt man immer wo kommen bloß die schrecklichen Bilder der "Pannenshow"her, ich weiß es jetzt!!!

    :knuddelkrimihexe
    Die Summe der Laster ist konstant-
    Das Leben als solches ist Endlich

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