Ich beschäftige mich manchmal mit der Frage, wie man den Großkritiker
vom Thron stoßen kann, der in Deutschland über Jahrzehnte bestimmt hat,
was gute Literatur ist, und was nicht.
Zu diesem Zweck habe ich "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen gelesen.
Der Großkritiker schreibt über dieses Buch:
Zitat
Wer diesen Roman nicht gelesen hat, der solle nicht glauben, er kenne
die deutsche Literatur nach 1945
Ich habe wissen wollen, ob er Recht hat und ob das nun DIE große Literatur
schlechthin ist.
"Tauben im Gras" ist ein Panorama der Nachkriegszeit. In der Tradition von
Joyce' Ulysses wird ein einziger Tag in München 1949 beschrieben. Die
Lebenswege verschiedener Personen, die alle mehr oder minder stark
unter den Folgen des 2. Weltkriegs leiden, überschneiden sich.
Die Grundstimmung des Buches ist düster bis depressiv. Alle leiden, keinem gehts
gut, eine Zukunftsperspektive scheint niemand zu haben, und
es gibt offenbar nichts Problematischers als schwarze Besatzungssoldaten.
Die Frauen, die mit diesen ins Bett gehen, schämen sich natürlich und leiden
ganz füchterlich unter der Situation.
Das Buch ist sprachgewaltig, aber ich finde, man merkt ihm die Mühe
an, mit der es vermutlich geschrieben wurde. Die allgegenwärtige
Trostlosigkeit scheint mir allzu sehr eine Trostlosigkeit des Autors
zu sein, dessen ausdrucksarme Visage passenderweise die Titelseite
ziert. Der Stil ist "substantiv-lastig", es gibt endlose Reihungen,
die dazu dienen, die Alltagsmühsal der Figuren detailreich zu illustrieren.
Eigentlich erfährt man das, was man sich über die Nachkriegszeit schon hat
denken können: Alter Tafelschmuck musste verkauft werden, so er denn noch zu finden
gewesen ist, die Amis allüberall, niemand weiß wies weitergeht, unterschwelliger
Fremdenhass u.s.w.
Ich kann leider nicht beurteilen, ob die Zeit damals wirklich so
gewesen ist, M R-R schon, denn er gehört schließlich dieser Generation
an, um die es geht. Deshalb lese ich dieses Buch natürlich mit anderen
Augen, als ein Zeitgenosse. Hier mein Urteil als einer, der im 21
Jahrhundert angekommen ist:
Ich finde, dass man Koeppen sein Joyce-Epigonentum anmerkt. Aber während Joyce
unglaubliche lyrische, um nicht zu sagen poetische Qualitäten hat, kommt die
Prosa eines Koeppen trocken und schwerfällig daher.
Das Buch wirkt staubig und trostlos. Ich finde nicht, dass es den
Sprung ins nächste Jahrtausend geschafft hat. Besonders den
Handlungsstrang mit der deutschen Carla, die von einem kräftigen
Schwarzen Ami-Sportler beschlafen wird, wirkt auf mich plakativ und
klischeebeladen. Carla will unbedingt abtreiben, weil Sie die
Vorstellung nicht mehr ertragen kann, dass dieser Mischlingsbalg in
ihrer heranwächst. Ähnliches könnte man sich auch gut in einer
heutigen Daily-Soap vorstellen. Natürlich: Koeppen wird nicht trivial,
aber in meinen Augen ist seine Literatur nicht nur NICHT im neuen
Jahrtausend angekommen, sondern hat nicht einmal den Sprung in die
Nachkriegszeit geschafft. Für mich ist es das Buch eines Miesepeters,
der sich im Leben nie wohl gefühlt hat. Koeppen hat in einer Zeit
voller Umwälzungen zwar modern geschrieben, aber er trägt die
verengte Sicht eines vom Leben enttäuschten Greises in alle Winkel
getragen hat.
Meiner Ansicht nach beweist das, dass auch M R-R eine relativierbare
Sicht auf die deutsche Literatur hat.