Schreibwettbewerb November 2006 - Thema: "Ein Mädchen"

  • Thema November 2006:


    "Ein Mädchen"


    Vom 01. bis 20. November 2006 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb November 2006 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von lunatic



    Der Mond stand bleich und silbern am Himmel, als die Turmuhr 12 Mal schlug. Der Wind rüttelte an den hölzernen Fensterläden und Äste knarrten.
    In der kleinen Dachzimmerwohnung drehte sich der kleine Jakob unruhig in seiner Bettchen umher. In dem mit Stroh gedeckten Haus raschelte und quiekte es.
    In der kleinen Küche, unter der Dachzimmerwohnung saß der alte Sian und rauchte seine Pfeife. Abwesend blickte er in die Leere. Das Feuer im schmiedeisernen Ofen war erloschen und die Wärme verließ den Raum.
    Sie hätten schon längst das Dach wieder neu decken müssen, aber im Sommer hatte das Geld gefehlt. Jetzt kam also der Winter und das Stroh war schimmelig und Mäuse wohnten im Gebälk. Ganz zu schweigen von den ganzen Spinnen, zum Glück fürchtet sich der kleine Jakob nicht.
    Alles hatte damit begonnen, dass im letzten Winter die Pest ausgebrochen war. Jeden Sonntag waren sie in die Kirche gegangen, um zu beten, ihr Dorf würde verschont bleiben, bis diese verdammten Spielleute gekommen waren, und mit ihnen, als stiller Begleiter, der schwarze Tod.
    Seine Tochter war nach nur 2 Wochen von ihnen gegangen, ihr Mann 4 Wochen später. Den kleinen Jakob hatten sie verschont und seine Schwester, Elisa.
    Die schöne Elisa hatte sich aber verliebt, in einen Spielmann, der schon mit mehr Frauen das Lager geteilt hatte, als ihr kleines Dorf Frauen hatte, gehabt hatte. Was hätte er, ihr Großvater, denn auch anderes tun sollen, als ihr den Umgang mit dem jungen Mann zu verbieten? Ihre Mutter war nicht mehr, ihr Vater war nicht mehr und die Spielleute hatten den Tod gebracht. Alle Ratschläge der Ärzte waren befolgt worden! Die Fenster nach Norden geöffnet, Moore gemieden, bei Tags nicht geschlafen.
    Und seine kleine Elisa? War ins Moor gegangen, um ihren Liebsten zu treffen, aber nicht mehr zurückgekehrt.
    Sein Gold hatte er verwendet Elisa wieder zu finden, Hexen und Hellseher, doch auch sie hatten keinen Rat gewusst.
    Verzweifelt barg er sein Gesicht in den Händen.
    Plötzlich klopfte es leise an die Türe. Schweren Herzens stand er auf und öffnete das Tor. Ein eisiger Windhauch wehte ins Zimmer, aber niemand war da, der um Einlass bitten konnte.
    Müde schloss er die Türe, um schließlich doch in seine Kammer zu gehen, auf dem verschimmelten Stroh zu schlafen.
    Wie lange würde es dauern, bis der schwarze Tod auch den letzten Mann geholt hatte? Sollten sie doch alle sterben.
    Doch als er sich umwandte, sah er Elisa vor sich. Es war sie, aber auch nicht, ein Schatten ihrer selbst, die sie einst gewesen war. Eine Stimme, ihre hallte in der kleinen Küche.
    „Großvater, ich komme, um Lebwohl zu sagen, mich hat das Moor genommen. Nun gibt es keinen Platz mehr für mich in dieser Welt. Doch gib nicht auf, auch wenn ich fort bin, es gibt Hoffnung in dieser Welt, der schwarze Tod verschwindet auch von hier. Warte nur, das Schicksal wird einen Weg finden. Warte Großvater, erst wenn die Hoffnung stirbt, stirbt der Morgen …“ Dann war sein kleines Mädchen verschwunden, doch Hoffnung war geblieben.

  • von Roxane



    Ein Mädchen, das war sie. Die anderen hatten ja keine Ahnung. Oder doch? Womöglich taten sie nur so, als hielten sie Jo für einen Jungen? Wahrscheinlich nicht.
    Es lag ja noch nicht einmal an ihrem Namen. Den kannten sie ohnehin nicht. Niemand kannte sie, und trotzdem sah man sie seltsam an, wenn sie ihre Dienste anbot.
    Sie blickte in seine irritierten Augen. Er war hager, dunkelhaarig und trug einen chiquen, maßgeschneiderten Anzug und einen Schal aus teurer Baumwolle. Er war reich.
    Jo suchte sich ihre Kunden selbst aus, obwohl Dina ihr davon abgeraten hatte. So würde sie nie an einen Mann kommen, der ihre Dienste annahm, hatte sie gewarnt. Doch Jo widerten Männer an, die einen irren Blick hatten oder sabberten. Und wenn sie noch so reich waren, Jo besaß auch so etwas wie Stolz.
    Der Dunkelhaarige vor ihr sah gut aus. Seine Wangen waren gerötet von der schneidenden Kälte und der eisige Wind teilte sein Haar in viele Bündel, weiß getupft vom flockigen Schnee. In seinem Hinterkopf schien es zu rattern. Jo wusste, was er jetzt dachte.
    Erstens: Dieses Kind war sehr jung. Was tat es auf der Straße, in zerlumpten Kleidern und anscheinend heimat- und elternlos? Jo schüttelte leise den Kopf. Na, was wohl?
    Zweitens: War dieses Kind ein Junge oder ein Mädchen? Den struppigen, kurzen Haaren nach zu urteilen wohl ein Junge. Doch lugten da nicht grüne Mädchenaugen aus dem blassen Gesicht hervor? Schwer zu sagen. Was war mit den Händen, zart und feingliedrig und so gar nicht kräftig? Andererseits waren da die Jungenklamotten und die knabenhafte Statur. Das konnte unmöglich ein Mädchen sein.
    Jo schüttelte erneut den Kopf. Doch trotzig dreinzublicken, konnte sie sich nicht leisten.
    Drittens: Moment mal. Niemals war das ein Junge. Ein Junge hätte ihm derartige Gefälligkeiten nicht angeboten. Also doch ein Mädchen. Aber sollte er das Angebot annehmen? Leisten konnte er es sich ja. Doch hatte er jetzt nicht Besseres zu tun? Verlockend klang es ja schon.
    All diese Gedanken schienen dem Mann vor ihr durch den Kopf zu gehen. Er arbeitete. Jo sah es ihm an, sie hatte genügend Erfahrung gesammelt, um einen entschlossenen Mann von einem gedanklich arbeitenden zu unterscheiden.
    Schillernde Schneeflocken wirbelten zwischen ihren Gesichtern herum und ließen sich auf ihren Kleidern nieder. Vor Jos Mund bildeten sich kleine weiße Wölkchen. Sie sah, wie die Luft vor Kälte flimmerte und zog sich ihren viel zu weiten Mantel enger um die Schultern. Einen Augenblick lang schien die Welt zu Eis zu erstarren, ein verzerrtes, groteskes Bild, und Jo spürte für die Dauer eines Lidschlags die Eisklümpchen an ihren Wimpern und Nasenhärchen nicht mehr. Es war himmlisch, ein Moment, wie er jedes Mal zwischen ihr und ihrem Kunden entstand, kurz bevor der sich entschied - innere Wärme und Vorfreude auf die Belohnung.
    Jo blinzelte sich den Schnee aus den Augen und sah, dass er sich entschieden hatte.
    »Gut«, sagte er schulterzuckend und hob den Saum seines Hosenbeines an. »Du brauchst das Geld.«
    Und Jo kniete nieder und holte ihr Schuhputzzeug hervor.

  • von Lotta



    Noah lag auf dem Rücken im Gras und starrte in die aufgehende Sonne. Menschliche Körper und leere Flaschen waren ringsum verteilt, ruhige Musik drang aus dem Rekorder und der kühle Wind verteilte die letzten Gesprächsreste in der Morgenluft. Er hatte den schalen Geschmack einer fremden Zunge im Mund und spürte seine Glieder kaum.
    Sie war nicht gekommen. Sie kam ja doch nie, verbrachte Tage im Schlafsaal und verkroch sich in ihren riesigen Kapuzenpullis. Hätte er sie beschreiben sollen, ihm wäre ein Reh eingefallen, oder eine Wildkatze, die sich niemals streicheln ließ, die fauchte und kratzte, wenn man es versuchte und erst recht nicht kam, wenn er sie rief.
    Es würde nicht mehr lange Sommer bleiben, der Regen war nicht mehr warm. Seine Gedanken wanderten, nach nirgendwo, nach niemals, und dann wieder zurück zu ihr.


    Gesehen hatte er sie schon zu Beginn, als sie aus dem Auto stieg und ohne auch nur ein Wort des Abschieds die Tür zuschlug.
    „Sie ist bei uns im Zimmer“, murmelte Lina ihm später zu, „und sie schläft in Anziehsachen, jede Nacht, und dann weint sie leise, nur reden tut sie nicht…“
    „Und wie heißt sie?“ – „Anna.“
    Anna. Er sagte den Namen leise vor sich hin, und lächelte dabei.
    „Warum willst du das wissen?“ Linas Blick blieb vorwurfsvoll, sie begann mit den losen Fäden seines Pullovers zu spielen. Anna, Anna, Anna.


    Sie sammelten die Flaschen auf und tapsten leise ins Haus. Noah ging langsam, gähnte langsam, dachte langsam. Es war früh. Vielleicht war sie schon wach. Vielleicht erinnerte sie sich an ihn, den seltsamen Jungen mit den grünen Haaren, der sich ständig in ihre Nähe stellte
    und sie ansprach, wegen jeder Kleinigkeit, und immer nur einen durchdringenden Blick erntete, eine leise Anklage in diesen verdammt blauen Augen.


    Er klopfte, und bemerkte mit Erstaunen das Zittern seiner Hände.
    „Wo ist Anna?“, platzte er heraus, als Lina die Tür öffnete und ihn schläfrig ansah. Sie zuckte mit den Schultern, widerwillig, und der Schmerz in ihrem Gesicht verschwamm im gespenstischen Licht der Nachtlampen. Seine Augen weiteten sich.
    „Lina…“ Er zögerte, und fühlte sich wie ein Betrüger.
    „Kommst du noch mal mit zum See?“


    Das Wasser lag still und stumm. Er schüttelte Linas Hand ab, sie lag kalt und unangenehm auf seinem Rücken. Natürlich war sie nicht hier, was für ein Gedanke. Lina folgte ihm. Er wollte nicht alleine sein. Sie zog die Nase hoch.
    „Psst“, zischte er plötzlich und deutete zum Steg.
    Im Licht der hereinfallenden Sonnenstrahlen konnte man deutlich eine Gestalt ausmachen, die zögerlich einen Schritt vor den anderen setzte und sich dabei langsam ihrer Kleidungsstücke entledigte. Sie fielen lautlos zu Boden.
    Der schlanke, weiße Körper glitzerte im Morgenlicht. Nur in Unterwäsche stand sie da, reckte die Arme gen Himmel und schüttelte das weißblonde Haar.
    Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, er sah nur nackte Haut und lange Beine, fühlte jedes
    bisschen Bewusstsein glühen und wusste nicht, wohin mit alledem.


    Anna nahm Anlauf, wirkte schwerelos dabei.
    Noch ein Blick, versprach er sich, ein einziger.
    Und sie sprang.

  • von Tom



    Nelson ging zur Bunkertür, die aus den Angeln gebrochen war und den Zugang halb versperrte. Jemand rief ihm etwas hinterher, aber er ignorierte es. Nelson quälte sich am rostigen Stahl vorbei. Draußen war die Luft auch nicht besser, eher im Gegenteil, aber er konnte den Gestank von Schweiß, Urin, getrocknetem Blut und verrottenden Konserven nicht mehr ertragen. Vor allem konnte er das Geschrei nicht mehr ertragen. Wenn die geringe Hoffnung mit so viel Pein verbunden ist, dachte er, war es vielleicht besser, nicht mehr zu hoffen.
    Er blinzelte in das fahle Licht der seit Monaten - oder waren es schon Jahre? - anhaltenden Dämmerung. Der Himmel war dunkelgrau. Nur hier und da zeigten sich geringfügig hellere Flecken, aber Sonnenlicht, Gott, wie das ausgesehen hatte? Er konnte sich kaum mehr erinnern. Sein Gedächtnis war so grau wie der Himmel. Früher, da hatte er um diese Uhrzeit auf dem Laufband gestanden, Jogitee getrunken und dabei ferngesehen. In einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Nichts in ihm wußte mehr, wie das gewesen war, fernsehen oder teetrinken. Er bemühte sich, das Aussehen seines Appartements zu visualisieren, aber es gelang ihm nicht. Nelson zog den zerfransten Frauenmantel, den er zum Schutz gegen die immerwährende Kälte trug, vor der Brust zusammen, schüttelte den Kopf und kehrte in den Bunker zurück.


    Sylvia lag auf der zerschlissenen Matratze, der einzigen, die sie noch hatten, und schrie. Ihr Gesicht war mit Schweiß und Schmutz bedeckt, ihre Hände krallten sich in den Dreck auf dem Boden, während Martin zwischen ihren Schenkeln kniete, ebenfalls schwitzend, die Hände zu einer Schale geformt, als würde er den Säugling auffangen können. Martin zitterte.
    Sie weiß, daß sie stirbt, dachte Nelson. Sylvia hatte die Augen geschlossen, riß sie aber auf, wenn ein Schmerzschub kam, und dann sah er die Angst. Nackte Angst. Bei allem, was wir erlebt haben, dachte Nelson, sollte es kaum noch möglich sein, sich zu fürchten.


    Vier der anderen fünf Männer standen schweigend beiderseits der Matratze. Ihre Gesichter verrieten wenig, höchstens Anspannung. Bobby, der jüngste von ihnen, der von sich glaubte, fünfundzwanzig zu sein, hatte sich auf den Boden gekniet. Vielleicht betet er, nahm Nelson an. So ein Unsinn. Gott gab es nicht, das hatte er eindrucksvoll bewiesen.


    Sylvias Geschrei erreichte einen neuen Höhepunkt.
    „Es kommt“, flüsterte Martin. Die vier stehenden Männer spannten die Schultern an, und auch Nelson spürte, daß er sich versteifte. Aus Sylvias Mund floß mit Blut vermischter Speichel. Ihre Hände lagen jetzt flach auf dem Boden, es fehlte ihr offenbar die Kraft, sich noch in den Schmutz zu krallen. Jemand hustete lautstark, aber niemand blickte auf. Dann erschien der Kopf. Martin schob ungeschickt seine Hände um das klebrige, haarlose Etwas. Nelson spürte Tränen auf seinen Wangen.
    Sylvia stöhnte, kaum noch hörbar.
    „Sie stirbt“, sagte Martin.


    Ein Oberkörper. So klein, so unschuldig. Nelson schluchzte, vor Hoffnung, vor Angst, vor Rührung.
    Und plötzlich war es still. Martin hielt den Säugling, machte aber keine Anstalten, irgendwas mit dem Kind zu tun.
    „Großer Gott“, sagte er statt dessen.
    „Ein Junge.“

  • von Nudelsuppe



    „Das mit dem Schreiben ist ganz einfach“, sagte sie. „Man macht einfach nur Sätze, die einem gefallen, und die anderen lässt man weg.“
    Seitdem ich Eileen kannte sprach sie nur davon, dass sie eines Tages eine berühmte Schriftstellerin sein wollte. Mit sechzehn war sie zu Hause ausgezogen und wohnte in einer Wohngemeinschaft. Sie verliebte sich in eine ältere Mitbewohnerin und machte mit ihr ihre ersten sexuellen Erfahrungen. In der Zeit fand sie den Namen Eileen, nach dem Lied von Dexys Midnight Runners, und begann eine schwarze Mütze zu tragen. Nun war sie zwanzig und hatte eine eigene Wohnung mit Waschmaschine und einem blauen Wasserkocher. Die Mütze trug sie immer noch.
    „Ich bin nicht lesbisch“, sagte Eileen, „Ich mag nur Frauen lieber als Männer.“
    Ich nickte. Wir saßen bei McDonalds, weil sie das Licht dort so mochte. Wir trafen uns einmal die Woche bei McDonalds, sie aß zwei Doppelcheeseburger und eine Apfeltasche, ich einen Big Mac. Sie trank Erdbeermilchshakes und ich einen Liter Kaffee.
    „Weißt du, dich mag ich auch. Du hast etwas sehr mädchenhaftes“, sagte sie.
    Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte.
    Es war inzwischen kurz nach Mitternacht. Eileen legte ihren Kopf auf die Tischplatte und sah zum Fenster hinaus. Ich folgte ihrem Blick. Es hatte geregnet, und es kam mir vor, als schaue man in ein neonbeleuchtetes Aquarium. Ich legte meinen Kopf ebenfalls auf die Tischplatte.


    „Wenn ich mal eine große Schriftstellerin bin, dann ziehe ich in ein großes Haus am Meer. Ich kaufe mir einen Hund, der groß und schwarz ist und den Leuten Angst macht. Ich hätte gern einen Schaukelstuhl und eine Veranda. Da sitze ich dann und schreibe. Ich schmeiße die schlechten Sätze weg und hebe die guten auf, und jedes Jahr gibt es ein neues Buch von mir.“
    „Kann ich dich dann besuchen kommen?“ fragte ich.
    „Ich würde gern ein Kind von dir haben wollen. Wenn ich eine erfolgreiche Schriftstellerin bin.“
    „Aber ich dachte, du magst lieber Frauen?“
    „Ja, schon. Aber wenn ich ein Kind haben will, dann von dir. Abgemacht?“
    Wir hoben gleichzeitig unsere Köpfe. Ich nahm ihre Hand, drückte sie.
    „Versprochen,“ sagte ich.
    Sie ließ ihre Hand in meiner liegen, sie kam mir vor wie ein kleiner Vogel, den ich gefangen hatte. Es fing wieder an zu regnen, die Tropfen hafteten an der Scheibe, in denen sich das Licht verzerrte.

  • von blaustrumpf



    „Okay, alles eingestellt. Kannst loslegen, Chrissy. Kamera läuft. Showtime!“
    Das Intro wippt vorbei. Uuuunnd jetzt, drei, vier. „Was’n das für’n wundervoller Hintern, der da neben mir am Tresen steht …“
    Ja. Läuft super. Auch die Choreographie sitzt endlich. Gerade rechtzeitig für die Karaoke-Star-Night im Palace. Zwischen all den Britneys, Justins, Michaels und den verpickelten Rappern wird das garantiert der Kracher. Und warum? „Weil ich ein Mädchen bin. Weil ich ein Mädchen bin.“ Genau. „Weil ich ein Mähähähähädchen bin.“
    Verdammt. Die Teppichkante. Das darf doch nicht wahr sein! Aber schon wieder reingemogelt in den Takt. Danke, Lucy!


    „Echt super, Chrissy. Und das mit dem Stolperer, das passiert dir im Palace garantiert nicht.“
    „Klar. Die haben ja wohl keinen Flokati auf der Bühne. Aber wer weiß, was da sonst alles rumliegt. Das muss ich noch trainieren.“
    „Von mir aus kannst du gerne Stolpern üben, bis du achtzehn bist. Aber schaun wir erst mal das Video an, ob sonst alles sitzt.“
    Alles ist perfekt. Sogar der Wackler da eben wirkt professionell. Nur noch ein Problem. In dem Outfit aufs Mofa? Nie im Leben. Und schon gar nicht Ende November.
    „Wie kommst du eigentlich dahin? Soll ich dich fahren?“
    Große Schwestern sind schon klasse. Naja. Manchmal. Aber jetzt ganz bestimmt.
    „Machst du das wirklich? Das wäre super.“
    „Naja, du glaubst ja wohl nicht, dass ich mir deinen Auftritt entgehen lasse.“
    Sie kommt mit. Damit habe ich nicht gerechnet. Ein Fan im Publikum, das ist gut.
    „Also abgemacht, Chrissy. Die Kamera nehme ich auch mit. Aber sag mal, wenn das vorbei ist, dann darf ich mir was wünschen, ja?“
    „Klar, Schwesterherz. Du hast so mit mir gearbeitet, da hast du mehr als einen Wunsch frei.“
    „Das freut mich zu hören. Aber im Moment habe ich nur einen. Wenn du gewonnen hast …“
    „Falls. Die Konkurrenz schläft nicht. Und daher: Falls ich gewinne.“
    „Nix da, Chrissy. Gewinner gewinnen, wenn sie wissen, dass sie gewinnen. Und du singst das ja auch: Keine Widerrede, Mann, weil ich ja sowieso gewinn. Musst du nur dran glauben. Dann wirkst du sowieso noch überzeugender. Also. Wenn du gewonnen hast.“
    „Na gut. Da du drauf bestehst: Wenn ich gewonnen habe. Was willst du dann haben?“


    „Ich weiß, es ist echt viel verlangt. Aber darf ich die CD morgen bittebitte in die Tonne kloppen? Ich kann sie echt nicht mehr hören.“
    „Heeh! Lucy ist mein Star! Aber gut. Weil du es bist. Du kriegst sie. Ich will bloß nicht wissen, was du damit machst, ja?“
    „Abgemacht, Chrissy. Ich weiß, was das für ein Opfer für dich wird. Dafür machen wir jetzt noch einen Durchgang. Als Generalprobe. Und dann brezeln wir uns so richtig auf für den Palace. Du darfst sogar meinen Lippenstift benutzen. Weil du ein Mädchen bist. Und mein Lieblingsbruder sowieso.“

  • von churchill



    „Ein kleines Mädchen...“


    Es ist kaum zu beschreiben, was in diesem Augenblick in mir passierte. Die Sprüche über in raschem Wechsel auftretende extreme Körpertemperaturen hatte ich bis zu jenem 13. April (nein, es war kein Freitag) nicht nachvollziehen können. Heute weiß ich, dass Temperaturschwankungen schocken.


    Worte auch. Vor allem , wenn sie dem Mund einer Hebamme oder Ärztin entspringen. „Ein kleines Mädchen“. Dass im Rahmen einer ziemlich normalen Geburt das Wort „klein“ relativ überflüssig erscheint, versteht sich von selbst, ist aber angesichts des nachfolgenden Begriffs „Mädchen“ absolut zu vernachlässigen. Natürlich war ich theoretisch vorbereitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Geburt ein weibliches Wesen zum Vorschein kommt, beträgt immerhin ungefähr 50%, wenn man davon ausgeht, dass die männliche Variante eine ähnliche Quote aufweist und weitere Alternativen statistisch eher nicht ins Gewicht fallen.


    Wenn aber doch ein Ultraschallbild Monate zuvor mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gezeigt hatte, dass ein Junge darauf wartete, den Geburtskanal zu durchwandern, wenn trotz aller Geheimhaltung („Ja, wir wissen, was es wird, sagen aber nichts, schließlich können Ultraschallbilder auch irren und Hauptsache, gesund ...“) die eigene Gewissheit überirdische Züge angenommen hatte („So etwas spürt eine Mutter eben“), dann wird der Moment, in dem das Vaterherz drohte, stehen zu bleiben und das Hirn sich bereit machte, abzuschalten, eventuell nachvollziehbar.


    Nein, wir hatten den Kleinen noch nicht im Fußballverein angemeldet, und auch die schulische und berufliche Ausbildung war noch nicht endgültig geplant. Damals bei unserer Erstgeborenen übrigens ebenfalls nicht. Nun, sie war ja ein Mädchen.


    Es war durchaus nicht so, dass wir unbedingt einen Jungen wollten. Man kennt ja diese zwanghafte Idee, einen Sohn zeugen zu müssen. Welch alter- und eigentümlicher Unsinn! Ich verweise auf das Beispiel des ehemaligen bayerischen Kultusministers. Sechs Versuche, sechsmal gerissen: Sechs Töchter. Oder Thomas Mann: Selbst schwul, aber zeugen wollen. Was dann dabei herauskommt, sind entweder verrückte oder lesbische Mädchen. Und ein schwuler Sohn und einer, der sich umbringt und ein schwuler Sohn, der sich umbringt.


    Nein, wir haben das immer ganz locker gesehen. Schließlich sind wir moderne Menschen. Vor allem ich. Warum also nicht noch ein Mädchen? Theoretisch.


    Ich habe mich oft gefragt, ob ich das wirklich alles in diesen zwei Sekunden empfand, bis die Ärztin leicht erschrocken korrigierte: „Oh, doch ein Junge“.


    Doch ein Junge. Nicht „ein kleiner Junge“. Nein, ein richtiger Junge mit allem Drum und Dran. Wie schon unzweifelhaft dem Ultraschallbild zu entnehmen gewesen war. Ich war der Ärztin und der Hebamme nicht böse. Man kann sich ja mal vergucken. Und so herum ging es ja noch. Wenn er ein Mädchen geworden wäre, wäre das letztendlich aber auch nicht schlimm gewesen. Manchmal, wenn ich ihn ärgern möchte, erzähle ich ihm, dass er beinahe „Franziska“ geheißen hätte.


    Er ist Linksaußen im Fußballverein. Und er spielt Schlagzeug. Nur ab und zu, wenn er so komisch auf den Zehenspitzen läuft, erinnere ich mich noch an diese zwei Sekunden damals. Und versuche im Bad unauffällig herauszubekommen, warum sich die Ärztin kurzfristig irren konnte.

  • von Zofie



    Kalter Nebel umhüllte Eichen und Pappen. Nichts unterbrach
    die morgendliche Schwaden bis auf die Atemgeräusche
    eines Joggers.
    Jens lief seine gewohnte Runde,und Benno sprang neben ihm her.
    ”Eine ganze Suppe was?”
    Plötzlich verschwand Benno.
    ”Benno”, Jens Stimme hallte durch den Wald.
    ”Wo bist du?”
    Eine Viertelstunde suchte er vergebens und nirgends eine Spur,
    bis ein Knurren aus dem Unterholz erklang.
    Jens versuchte sich daran zu orientieren.
    ”Da biste ja.”
    Benno stand vor einem aufgebuddelten Loch.
    ”Na, was haste denn wieder entdeckt.”
    Er schaute in die Mulde, seine Gesichtszüge erstarrten. In der Grube
    lag eine menschliche Leiche.
    ”Weg da, Benno.”
    Als erstes traf Mallow am Tatort ein. Mit der Taschenlampe leuchtete er hinein.
    ”Hm, wir haben zur Zeit keine Meldung von einem vermissten Mädchen.”
    Mallow kratzte sich am Bart. Wer sollte hier ein Kind abgelegt haben?
    Der Gerichtsmediziner schätzte den Todeszeitpunkt auf wenige Tage, doch
    näheres könnte er erst nach derObduktion sagen.
    Anhand der Spuren wurde festgestellt, das das kleine Wesen erstickt wurde.
    Doch keiner schien das Mädchen zu vermissen. Weder nach den Berichten in
    den Medien noch eine Befragung in der Einkaufspassage brachten die
    Polizisten weiter.
    Einige Tage vergingen als ein Umschlag abgegeben wurde. Mallow öffnete ihn
    und entnahm einen lila Stoffhasen.
    Schon wieder lila. Das namenlose Mädchen hatte violette Schuhe getragen.
    Die DNA Spuren ergaben das es ihr gehörte.Ansonsten gab weder der Umschlag
    noch das Stofftier etwas her.
    Mallow wußte nicht weiter.Er nahm an der Beerdigung teil, und gerade als er gehen
    wollte tauchte eine lila gekleidete Frau auf. Flüsternd stand sie am Grab: ”Sarah.”

  • von Wilma Wattwurm



    “Es ist ein Mädchen? Was soll das heißen? Das kapier ich jetzt nicht ganz.“
    Irritiert blickte die junge Frau ihren Mann an und lehnte sich erschöpft zurück. Es war eine schwere Geburt gewesen und zu eventuellen Scherzen hatte sie jetzt keine Lust.


    „Na, so wie ich es sage: es ist ein Mädchen. Du hast ein Mädchen zur Welt gebracht.“


    „Aber, das ist unmöglich. Das glaub ich nicht. Es sollte doch ein Junge werden. Das wurde mir ganz fest versprochen. Das muß ein Irrtum sein.“


    „ Schau dir das Kind doch an. Siehst du da irgendwas baumeln zwischen den Beinen? Ich nicht. Einwandfrei ein Mädchen.“


    „Nichts? Bist du sicher? Du meinst, er hat kein... kein... kein Schmuckstückchen?“


    „Wenn ich’s dir doch sage!“


    „Ach, du lieber Gott, was machen wir denn jetzt?“


    „Laß den da oben aus dem Spiel. Der hilft dir nun auch nicht weiter, im Gegenteil.“


    „Aber, es war doch ein Junge vereinbart. Irgendwas muß schiefgelaufen sein.
    Ich versteh das nicht.“
    Die junge Frau war den Tränen nahe.


    „Jammern hilft jetzt auch nichts. Ich hab’s ja gleich gesagt, das kann nicht gutgehen. Du mußtest dich ja unbedingt von einem anderen schwängern lassen. Jetzt haben wir die Bescherung.“


    „Ja, aber...“


    „Nichts aber. Von mir ist es jedenfalls nicht. Dieser feine Herr, er hat dir Honig um den Mund geschmiert und du bist darauf hereingefallen. Und nun sitzen wir in der Scheiße.“


    „Ja, jetzt gib mir die Schuld, ich kann doch auch nichts dafür, ich bin unschuldig, ich schwör’s.“
    Die junge Mutter wurde vor Aufregung ganz rot im Gesicht.


    „Ach Marie, beruhig dich, ich will dir ja so gern glauben. Ich liebe dich doch, sonst hätte ich dich nicht geheiratet. Aber ich weiß halt auch nicht, wie es weitergehen soll.“


    Der Mann versank in Grübeln.
    Wie sollte er das zurechtbiegen? Ein Kind von einem anderen, gut, das hätte er verkraftet. Aber daß es jetzt ein Mädchen war, machte die Sache noch komplizierter. Das würde seine Lordschaft niemals akzeptieren.
    Man müßte erst mal so tun als ob. Das Kind ganz einfach als Jungen ausgeben. Bis jemand was merkte, konnte es dauern. Bis zur Pubertät mindestens. Natürlich müßte man aufpassen, daß niemand das Kind jemals nackt zu Gesicht bekam.
    Vielleicht ließ sich jemand finden, der eine Geschlechtsumwandlung vornehmen konnte. Ein Wunderheiler vielleicht. Obwohl...


    „Du Josef, ich glaube es hat geklopft“, die Stimme seiner Frau riß ihn aus seinen Grübeleien.
    Tatsächlich, jemand pochte an die Tür. Laut und energisch.


    Langsam erhob er sich und schob den Riegel zurück. Draußen standen ein paar Männer in ländlicher Kleidung.


    „Hier soll heute der neue König der Juden geboren sein. Ein hellglänzender Stern hat uns zu dieser Scheune gewiesen.“


    Er forderte die Männer auf einzutreten und deutete auf das Kind, das in eine Wolldecke eingewickelt auf dem Stroh lag.
    „Das ist er!“ sagte er mit fester Stimme.

  • von Sinela



    Dunkelheit umgab den jungen Mann, der gedankenverloren auf seinem Bett lag und der Musik lauschte. Er sah weder die Mücke, die am Fenster saß, noch die Regentropfen, die außen an der Scheibe entlang liefen. Was sollte er nur tun?


    „Liebe auf den 1. Blick, doch wer gibt mir die Unschuld zurück?“ Er lachte auf. Seine Unschuld hatte er schon vor vielen Jahren verloren. An die Liebe auf den 1. Blick hatte er früher nie geglaubt, aber nun war es passiert: Er hatte sie gesehen und war Feuer und Flamme. Seine Gefühle für dieses himmlische Wesen überfluteten ihn wie ein Fluss seine Ufer bei Hochwasser. Wäre er doch nur sofort nach der Arbeit nach Hause gegangen!


    „Deine Spuren im Sand....“ War das ein herrlicher Spaziergang mit ihr zusammen am Meer gewesen. Sie lief barfuss durch das flache Wasser und hinterließ außerhalb kleine Abdrücke im Sand. Ihre Lust am Lebens war regelrecht greifbar. Konnte das gut gehen mit ihnen beiden? Er war ein zurückhaltender Mann, der seine Gefühle schlecht zeigen konnte.


    „Siebzehn Jahr, blondes Haar...“ Na ja, 17 war sie noch nicht, aber ihre blonden Haare waren eine Wucht. Wenn sie lief, wehten sie hinter ihr her. Nicht wie eine Fahne, da waren sie nicht lang genug dafür, aber sie wippten aufregend im Takt ihrer Schritte. Und glänzten golden im Licht der untergehenden Sonne.


    „Abschied ist ein scharfes Schwert....“ Oh ja, das war es. Es tat unendlich weh, sie nach diesem herrlichen Tag bei seinem Arbeitskollegen zurückzulassen zu müssen. Ihr Blick brach ihm fast das Herz. Aber was sollte er tun? Er konnte sie nicht Knall auf Fall mit nach Hause nehmen. So eine Entscheidung, die ja für das ganze Leben sein sollte, kann man nicht einfach über das Knie brechen.


    „... weil ich ein Mädchen bin, weil ich ein Mädchen bin, lege ich mich zu dir hin....“ Das wäre sein Traum. Wenn sie sich nachts an ihn kuscheln würde, ihm Zärtlichkeit und Liebe geben würde, die er in bei seinen Eltern nie gefunden hatte. Und sie würde keine Gefälligkeiten erwarten wie die Mädchen und Frauen, denen er bis jetzt seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Nein, sie würde ihn um seiner selbst Willen lieben.


    „Resi, i hol di mit mei'm Traktor ab...“ Er sprang auf. Genau das würde er tun: Er würde nun sein Mädchen abholen. Nicht mit dem Traktor natürlich, sondern mit seinem Auto. Nachdem er sich entschieden hatte, war ihm ganz leicht ums Herz. Es gab einige Punkte, die gegen diese Verbindung sprachen, aber wie heisst es so schön: In guten wie in schlechten Zeiten. Sie würden sich schon zusammen raufen und er würde für alles eine Lösung finden. Er grinste. Peter wäre froh, wenn er einen Esser weniger im Haus hätte. Er stand auf, schaltete das Radio ab und verließ seine Wohnung. In dem Wissen, dass er nie wieder allein sein würde. In Zukunft würde sie das Leben mit ihm teilen. Bis ans Ende ihrer Tage würde die Golden Retriever-Dame sein Mädchen sein.

  • von Waldfee



    Ehe sie die Tür öffnete, warf Bina einen Blick in den Garderobenspiegel. Niedlich sah sie aus mit ihren braunen, geflochtenen Zöpfen, den Sommersprossen und dem rosafarbenen Hängerkleid, das sie heute zum ersten Mal trug.
    „Glückwunsch, mein Mädchen.“, sagte Paps und ging an ihr vorbei in die Wohnung.
    „Ich habe deinen Lieblingskuchen gebacken.“, verkündete sie stolz und folgte ihm ins Esszimmer.
    „Ist deine Schwester noch nicht da?“, fragte er und setzte sich an den gedeckten Tisch, schob seinen Teller mit der liebevoll gefalteten Serviette zur Seite.
    „Vielleicht besorgt sie noch ein Geschenk für mich.“ Sie kicherte albern, aber er verstand ihre Anspielung nicht. Also fragte sie fröhlich: „Wie war euer Urlaub? Erzähl doch mal!“
    „Schön.“ Er holte einen Stapel Papiere aus seiner Aktentasche. „Ruhig. Wie immer, Bienchen.“
    Durch seine dicke Brille betrachtete er die Formeln, mit denen das Papier übersät war, angelte in seiner Tasche nach einem Bleistift, machte ein paar Notizen.
    „Wie geht es meinen Schwestern?“
    Zerstreut blickte er auf. „Du meinst Lisa und Leonie? Gut, Bienchen, gut.“
    „Möchtest du wissen, wie es Mama geht?“
    „Möchte sie wissen, wie es mir geht?“
    „Natürlich!“, rief Bina und das war nicht einmal gelogen. Ihre Mutter hatte die Trennung gewollt. Dieser Mann kann keine Frau glücklich machen, hatte sie Bina und Birte erklärt, der liebt nur sein Labor. Aber dann: Wie schnell hatte er eine neue Frau gefunden, wie schnell zwei neue Mädchen in die Welt gesetzt, und was war diese Inga für ein Multitalent, gab Kochkurse, töpferte, bastelte, tippte seine Berichte und wirkte immer so glücklich. Ihre Mutter blieb allein, sog die Nachrichten über seine neue Familie auf wie ein Löschblatt, litt an sich selbst und blieb allein.


    Endlich kam Birte.
    „Hübsches Kleid.“, sagte sie unaufrichtig. Eine Parfümerieverkäuferin hatte ihr Geschenk mit Liebe verpackt.
    „Oh, mein Lieblingsduft!“ Bina hüpfte vor Freude, als hätte ihre Schwester sich endlich etwas Neues ausgedacht, aber Birte saß bereits neben Paps, in Formeln vertieft, von denen Bina nichts verstand. Einen Moment blieb sie in der Tür stehen, betrachtete das Profil ihrer Schwester, die große Nase, die wilden Locken, die von ersten grauen Strähnen durchzogen waren. Als Mädchen war Birte nicht hübsch gewesen, aber heute strahlte sie eine Attraktivität aus, die Bina ein Rätsel war. Birte hatte Chemie studiert, genau wie ihr Vater.


    Als Inga mit ihren Töchtern eintraf, holte Bina den Drachen. Mit der Dekupiersäge ausgesägt und mit Acrylfarben an einem langen Herbstabend bemalt. Einen ähnlichen hatte sie bei Inga gesehen. Die lobte ihr Geschick, doch Paps und Birte blickten nicht einmal auf.


    „Wo ist Rainer?“, fragte Inga.
    „Er wird gleich da sein.“
    Aber Rainer kam nicht. Erst als alle Gäste sich verabschiedet hatten und Bina im düsteren Esszimmer nachspürte, wie man sich mit dreißig fühlt, hörte sie, wie er die Tür aufschloss.
    „Warum kommst du erst jetzt?“, fragte sie, als er hinter ihr stand.
    Vorsichtig löste er ihre Zopfgummis, kämmte mit den Fingern ihre Haare aus.
    „Weil ich dich so liebe, wie du wirklich bist.“, sagte er.
    Da erst begann sie zu weinen.

  • von Salome



    Als ich am Morgen erwachte, war das Mädchen tot.
    Ich sah mich um und fand einige Indizien, die sicher für einen gewaltsamen Tod gesprochen hätten, wenn ich nicht gewusst hätte, dass die Kleine friedlich und glücklich von uns gegangen war.
    Draußen regnete es in Strömen, an diesem Septembermorgen, mich fröstelte und ich zog meine Bettdecke noch etwas fester um meine Schultern. Die Regentropfen pochten leise an das Fenster. Ich lauschte dem niemals gleichen Lied, wie wir es beide oft getan hatten, sie hatte es so geliebt. Es klang nach Geborgenheit und Wärme. Mir wurde recht wehmütig zu Mute und meine Gedanken flohen zurück in die Vergangenheit.
    Ich musste an den Spaß denken, den wir zusammen gehabt hatten, die Sehnsüchte und Träume, die wir geteilt hatten und vor allem, wie schön und rein alles gewesen war, wenn ich es durch ihre Augen hatte sehen dürfen. Ich schloss meine Augen, erlaubte mir eine Weile diesen schönen Erinnerungen nachzuhängen, alles andere zu vergessen. Das Mädchen war mir so vertraut wie niemand sonst und ohne sie war alles ganz anders und beängstigend.
    Wie sollte ich das alles nur unserem Vater beibringen? Wie konnte ich ihm sagen, dass sein kleines Mädchen für immer verschwunden war ? Warum war das Leben nur so kompliziert?
    Ich sah mich ein wenig, im Dämmerlicht dieses Morgens, in meinem Zimmer um. Neben mir lag eine blass graue Gestalt. Gerade regte sie sich, drehte sich auf die andere Seite, drückte ihren Kopf nah an meine Beine und begann leise Töne des Schnarchens von sich zu geben. Ich musste lächeln, denn ich brauchte nicht mehr Licht, als das wenige Licht, das durch Vorhänge schimmerte, um die Person zu erkennen, die da lag. Er war ihr Mörder und ja, ich liebte ihn.
    Zärtlich drückte ich ihm einen Kuss auf seine stoppelige Wange, woraufhin er ein wenig zuckte, um dann friedlich weiter zu schlummern. Nicht die Spur eines Gewissens ließ sich in seinen entspannten Zügen erspähen, eines schlechten erst recht nicht. Meines hingegen plagte mich indes um so mehr, denn ich war an diesem Komplott beteiligt gewesen, hatte es gar geplant und, ebenso wie er, heiß herbeigesehnt. Ich wusste ich konnte nur ohne sie leben.
    Im Laufe der vielen Tage, die ich mit ihm verbracht hatte, war der Plan immer klarer in mir gereift.
    Er und ich waren, in den Ferien, jeden Abend zusammen, planlos und fiebrig, durch die Straßen Berlins geschlendert, wobei er stets meine Hand hielt und dabei ab und zu mit seinen Fingern sanft über die meinen strich. Jede dieser kleinen Berührungen unterschrieb ihr Todesurteil, und als er mich auf der Wiese im Viktoriapark küsste, wusste ich sein Kuss und seine Liebe würden die Vollstrecker sein.
    Gestern dann fuhr Papa für zwei Tage weg, es war die Gelegenheit auf die ich so lange gewartet hatte. Ich lies sie die Tür öffnen, als es klingelte. Er umarmte sie, lächelte sein wunderbares Lächeln, dann küsste er sie... Und als ich am Morgen erwachte war das Mädchen tot.