Halbsichtigkeit
Corinna John
Halbsichtigkeit - ein Roman, den jeder anders verstehen kann
Books on Demand GmbH, 232 Seiten, 13.00 Euro
ISBN: 3833432152
„Synnige“ Science-Fiction
Halbsichtigkeit ist das Erstlingswerk der Autorin und als solches kann sich der Roman wirklich sehen lassen. Corinna John kombiniert klassische Science-Fiction-Elemente mit innovativen Ideen, wie zum Beispiel alltäglicher Synästhesie, und komplexen, beinahe mathematischen Themen. Aber keine Angst, selbst traumatisierte Opfer des Schulunterrichts werden mit großem Interesse immer weiter lesen. Kann man einen Raum noch räumlicher machen? Corinna John kann es!
Halbsichtigkeit ...
... ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Binding Insuffizienz, sprich dem vollständigen Fehlen der sekundären Wahrnehmung. An dieser Stelle muss man erwähnen, dass in der Zukunft in Corinna Johns Roman Synästhesie kein seltenes Phänomen mehr sondern der Normalzustand ist. Jeder Mensch besitzt sekundäre Empfindungen, kann Töne und Düfte sehen, Formen hören etc. Selbst Computersysteme bauen auf der sekundären Wahrnehmung auf, so können alle Kanäle optimal genutzt werden. Allerdings gibt es dabei zwei Probleme: Die sekundären Empfindungen sind individuell verschieden und somit sehr subjektiv und Menschen, die durch eine ungeklärte Entwicklungsstörung nur über die primäre Wahrnehmung verfügen, können mit den modernen Neural-Interfaces nicht richtig umgehen.
Vonek ist ein so genannter „Halbsichtiger“ und meidet die Nutzung eines Neural-Interfaces. Er arbeitet lieber mit dem altertümlichen Bildschirm. Als er nun eine neue Kollegin bekommt, Lissa, wird es für ihn zunehmend schwerer, seine „Behinderung“ zu verbergen. Lissa findet jedoch heraus, dass Vonek über keinerlei sekundäre Wahrnehmungen verfügt – und sie macht ihm klar, dass er nicht behindert ist, sondern einfach anders, nämlich differenziert, wahrnimmt. Um Vonek das Arbeiten mit einem Neural-Interface zu ermöglichen, beschließt Lissa ein Interface zu erfinden, das nur mit primärer Wahrnehmung auskommt ...
... doch ihr ist bereits jemand zuvorgekommen. Im Netz lernt Lissa Cle kennen, einen Schüler, der genauso wie Vonek ein „Halbsichtiger“ ist und bereits ein entsprechendes Interface erfunden hat. Allerdings ist die Erfindung nur an ihn angepasst und zudem nicht ganz legal, also beschließt Lissa zusammen mit Cle das Interface zu perfektionieren ...
Der Roman dringt tief in die Programmierung des „Cyberspace“ ein, entführt den Leser in 7-dimensionale Simulationen und wird dabei kein bisschen verwirrend. Corinna John schafft es den komplexen Inhalt unglaublich kompakt und vor allem verständlich rüberzubringen! Die Geschichte rund um die Entwicklung des Interfaces bleibt spannend, denn wie man sich denken kann: Es läuft nicht alles nach Plan und bald treten erste Fehler und ernsthafte Probleme auf ...
Utopie
Die Welt in „Halbsichtigkeit“ zeichnet eine gar nicht so schlechte Zukunft. Die Menschen haben erkannt, dass sie der Natur nur schaden und sich in überdimensionale Häuser zurückgezogen, die die Bevölkerung eines ganzen Landes beherbergen. In hochmodernen Türmen mit mehreren hundert Stockwerken, ganzen Städten und Dörfern, Grünanlagen und Raumstationen lebt die Menschheit in einem technischen Traum und überlässt die Natur sich selbst. Doch die Menschheit beansprucht auch das ganze Sonnensystem für sich, es gibt zahlreiche Raumstationen und diese werden sogar in Zusammenarbeit mit einer außerirdischen Rasse, den Namariden, geführt. Somit gehört Halbsichtigkeit zur utopischen Science-Fiction und setzt diese durchaus gut um. Vieles scheint dem Leser zwar schon bekannt, was es allerdings auch leichter macht sich in die Zukunft einzuleben. Gekonnte Beschreibungen machen das Sci-Fi-Feeling perfekt.
Keine leichte Kost
Halbsichtigkeit liest sich wirklich toll, man verschlingt das Buch regelrecht. Allerdings muss man sagen: Der Roman ist keine leichte Kost für zwischendurch. Man muss wirklich jede Seite genau lesen und besonders bei der Interface-Entwicklung ist Mitdenken angesagt. Wer aufmerksam liest, sollte keine Probleme haben. Seiten querlesen ist aber absolut nicht drin! Lohnt sich auch nicht: Selbst, wenn es mal nicht um hochkomplexe Anwendungen geht, gibt es immer noch sympathische Charaktere und unterhaltsame Geschichten um sie herum.
Was kann man der Autorin eigentlich noch ankreiden? Die Story ist mehr als gut durchdacht, der Roman ist eine erfrischende Abwechslung zur sonstigen Abenteuer-Literatur der utopischen Science-Fiction ... was will man mehr? Zum Beispiel ein bisschen mehr Atmosphäre. Die Beschreibungen sind zwar allesamt richtig gut, doch teilweise hat man das Gefühl, die Autorin drückt sich ein bisschen vor dem Genre – insgesamt wünscht man sich mehr Technik und zwar in der Außenwelt. Allerdings hat das Ganze auch wieder den Vorteil, dass Leser, die normalerweise Science-Fiction weniger mögen, sich hier viel besser einlesen können. Ein weiterer Kritikpunkt ist die etwas naive Vorstellung der Zukunft: Die Menschen leben friedlich, arbeiten muss man nicht mehr, nur noch für Luxusartikel. Und alles funktioniert bestens. Gesellschaftliche Probleme spielen zwar keine tragende Rolle im Roman, doch alles in allem wirkt manches zu rosarot gedacht. Doch darüber kann man auch mal milde hinwegsehen, was zählt ist schließlich die Story und die ist wirklich mitreißend!
Persönliche Meinung
Als ich das Buch in den Händen hielt und auf der Rückseite schaute, um was es geht, tat sich ein gewisses Unwohlsein auf. Ich muss zugeben, ich hatte schlichtweg Angst, dass ich vielleicht nichts verstehe. Das war aber nicht der Fall! Selbst komplexe Sachverhalte werden hier wirklich gut erklärt und man muss einfach immer weiter lesen. Die Story erzeugt unheimlich viel Spannung und das ganz ohne „Action“ im Sinne von Abenteuer und Gewalt. Halbsichtigkeit ist wirklich „ein Roman, den jeder anders verstehen kann“ - alles in allem wirklich ein Buch, das man gelesen haben muss!