Der Radfahrer

  • Ok ich trau mich jetzt mal einfach.


    DER RADFAHRER


    Er lehnte sich entspannt zurück, die Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln. Es war angenehm, sich einfach mal rollen zu lassen.


    Rechts und links des Weges wuchs allerlei Wildkraut: Schafgarbe reckte ihre Blüten empor, auf denen stets kleine Insekten geschäftig krabbelten, Löwenzahn und Wegerich konkurrierten um den besten Sonnenplatz für ihre Blätter und Unmengen verschiedenster großer und kleiner Gräser schaukelten im Wind.
    Wenn er seine Hand ausstrecke, konnte er sie im Vorbeifahren von den Halmen streicheln lassen, so hoch reichten sie.


    Er versuchte, einige zu fassen und dabei ihre rosa und lila schimmernden Samen abzuschütteln.
    „Hahn oder Henne?“ hatte sein kleiner Bruder stets bei jedem Spaziergang gefragt, bevor er mit seinen Fingernägeln einen Grashalm am Stiel entlang nach oben fuhr und zwischen zwei Fingern versuchte, die abgetrennten Samen festzuhalten.
    Je nach dem ob die Spitze des Halmes mit abgerissen war oder ob er nur noch Samen in der Hand hielt, entschied er dann, ob es sich um einen Hahn oder eine Henne handelte. Aber meistens ließ der Kleine einen sowieso immer das falsche erraten haben und lachte laut.


    Bei dem Gedanken an das Lachen stiegen ihm wieder einmal die Tränen in die Augen und er sah wie so oft am Tag das Bild seines kleinen Bruders Sekunden vor dem Unglück vor sich.
    Er hatte sich nach hinten umgedreht um zu sehen, ob der Kleine noch mitkam, als er plötzlich nur noch ein lautes Hupen hörte und darauf alles schwarz wurde. Im Krankenhaus erfuhr er dann, dass er auf die Straße geraten und von einem LKW erfasst worden war. Sein kleiner Bruder wurde Sekunden später von dem durch die Luft geschleuderten Rad getroffen und geriet unter den LKW.
    Er war zum Einzelkind geworden und „Hahn oder Henne?“ zur einer der vielen schmerzlichen Erinnerungen.


    Ein süßlicher Duft unterbrach ihn in seinen Gedanken und er hob seinen Blick vom Wegrand und die Weite. Ein großes Rapsfeld, welches durch die Sonne angestrahlt eine noch goldgelbere Farbe annahm, fing seinen Blick auf.


    „Ein wunderschöner Tag, nicht?“ rief es hinter ihm. „Allerdings!“ gab er zurück ohne sich dabei Umzudrehen.
    Ein älterer Mann überholte auf einem Mountainbike und lächelte ihm freundlich zu. Doch er musterte nur das Zweirad, er hatte sich schon immer sehr für Fahrräder interessiert.
    Er konnte Stunden damit verbringen, sich die neuesten Modelle detailgenau zu betrachten und sich dabei vorzustellen, mit ihnen eine Trekkingtour durch den Grand Canyon zu machen. Oder sich zu auszumalen, wie er bei der ´Tour de France´als erstes durchs Ziel radelte. Er hatte sogar schon ein paar Mal vor dem Spiegel das passende Gesicht geübt, als er noch etwas jünger war...


    Ein lauher Sommerwind fuhr durch seine Haare, welche sich ähnlich dem Gras gern davon erfassen und umspielen ließen.


    „Das Rapsfeld ist doch ein Traum, oder?“ hörte er es wieder von hinter sich. Aber er hatte keine Lust zu antworten und wollte lieber seinen Gedanken nachhängen und seinen Blick treiben lassen. In einiger Entfernung konnte man bereits das Dorf sehen, in dem er wohnte.


    Wieder wanderte sein Blick zu dem Wildkraut und wieder wollte er das Gras berühren.


    Er dachte an die Zeit nach dem schrecklichen Unfall. Niemand wusste, ob er überhaupt wieder aufwachen würde.
    Als er jedoch seine Augen wieder öffnete, wartete die nächste Hürde auf ihn: Er würde dafür trainieren müssen, dass seine Beine jemals wieder für ihn arbeiten wollten. Monatelang blieb er im Krankenhaus und niemand hatte wirklich geglaubt, dass es ihm je wieder so gut gehen würde.


    Alle gaben sich große Mühe mit ihm und auch wenn mal wieder kein Fortschritt sichtbar war, lobten sie ihn und versuchten ihm Mut zu machen.


    Diese Zeit ging wie im Flug und doch so schleichend vorbei. Er war seit er wieder aufgewacht war sehr schweigsam geworden und mochte nicht reden. Gesagte Worte wirken anders als gedachte. Und er befürchtete, seine Erinnerungen könnten sich abnutzen, wenn er über sie sprach.


    Wenn er von einer der unzähligen Untersuchungen oder der Gymnastik zurück auf seinem Zimmer war, nahm er sich immer gleich seine Fahrradfachmagazine und vertiefte sich darin, auch wenn er sie schon so oft angesehen hatte. Es sollte bloß keiner auf die Idee kommen, ein Gespräch mit ihm anfangen zu wollen. Außerdem hatte er sowieso keine Lust verspürt, jedem seiner wechselnden Zimmernachbarn von neuem erzählen zu müssen, warum er hier war.


    Das war knapp! Gerade rechtzeitig konnte er noch seine Hand vor dem Brennesselstrauch zurückziehen, der nun neben ihm auftauchte. Er nahm seine Hand wieder zurück, gleich begann ja sowieso das gemähte Gras um die Häuser in seinem Dorf.


    Laut seufzend versuchte er, noch bevor die Gärten begannen einen letzten Blick auf das leuchtende Rapsfeld zu erhaschen, ohne dabei den Kopf zurück zu drehen. Leider war es schon hinter ihm verschwunden, aber er hatte es ja noch im Gedächtnis vor Augen.
    Er hatte gut gelernt, Erinnerungen präsent und jeder Zeit abrufbar zu behalten. Sie blieben in seinem Kopf wie Fotos, die man immer wieder ansehen konnte, auch wenn sie leicht verblassten.


    „Guten Tag!“ rief eine Nachbarin ihm zu, als er in seine Straße einbog. Er tat so als habe er sie nicht gehört. Wahrscheinlich hoffte sie auf ein kleines Gespräch, aber danach war ihm schon lange nicht mehr zumute.
    Das weiße Holzgartentor tauchte vor ihm auf und er bemerkte, dass der Efeu sich bereits bis zum Bogen hochgerankt hatte, der sich über den Eingang erstreckte. Links und rechts lukten einige Apfelbäume über den Zaun und reckten ihre Äste bis zum Gehweg darüber hinweg.


    Er stoppte in der Hofeinfahrt und spähte durch den Schlitz in den Briefkasten, ob vielleicht die „Ride on“ schon gekommen war.
    Aber er konnte noch geblendet von der Sonne nichts im Dunkel erkennen.


    Er rief laut „Ich bin zurück!“.
    Seine Mutter, eine recht große Frau mit langen, haselnussbraunen Haaren erschien an der Tür. „Na, wie wars?“ fragte sie ihn und strich ihm liebvoll über den Kopf.
    „Dankeschön und bis morgen Johannes!“ verabschiedete sie den Zivildienstleistenden, hob ihn aus dem Rollstuhl hob und trug ihn ins Haus hinein.

  • Wow... Sterntaler... Eine wirklich wunderschöne Geschichte, die unter die Haut geht. Sie hat mich sehr berührt und das Spiel "Hahn und Henne" kenne ich auch noch...


    Zitat

    Gesagte Worte wirken anders als gedachte. Und er befürchtete, seine Erinnerungen könnten sich abnutzen, wenn er über sie sprach.


    Dieser Satz drückt genau aus, was ich auch schon manches mal gefühlt habe. So klar habe ich das allerdings noch nicht einmal vor mir selber sehen können...


    Wirklich wunderbar...


    Ich hoffe, Du überwindest Dich noch häufiger und schreibt noch weitere solch toller Sachen... :knuddel1

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • Ich habe wenig Zeit, daher nur ganz, ganz kurz, Sterntaler:


    Hättest du diesen Beitrag in dem Schreibwettbewerb veröffentlicht (na ja - das "Mord-Thema" passte wohl auch nicht so ganz :grin ) - dann wärst du als klare Siegerin hervorgegangen!
    Wunderschön geschrieben - ich habe mir das alles detailgenau vorstellen können - leider viel zu traurig!!!


    MACH WEITER! UNBEDINGT!!!

  • Hallo Sterntaler ! :wave


    Wunderschön und sooo traurig :cry !


    Och, und bitte bitte nicht wieder den Mut verlieren :knuddel1 ...
    gönn uns noch mehr davon, ja ?!!


    Liebe Grüße


    Hannah


    *immer noch eine gänsehaut hat*

  • Kompliment, sehr eindrücklich geschrieben. Diese Geschichte geht mir wirklich unter die Haut und das Ende überrascht.

    Mit lieben Grüssen aus der Schweiz
    Nachteule mit drei Pseudo-Stubentigern namens Müsli, Nero und Sandy


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  • Sterntaler, ich bin beeindruckt. Die Geschichte ist sehr bildhaft erzählt und dein Gefühl für die Sprache ist bewunderswert.
    Du solltest was aus deinem Talent machen. Hast du schon mal versucht, deine Geschichten an einen Verlag zu schicken, oder an eine Zeitschrift?
    Die Konkurrenz ist zwar groß, aber du hättest sicher Chancen.
    Viel Erfolg!

  • Aaaaah jetzt ist mir das aber zu viel Lob und ich schäme mich


    Und jetzt hab ich Angst eine neue Geschichte zu veröffentlichen, weil die dann vielleicht enttäuschend ist

    Bücher sind nur große Briefe an Freunde. [Antoine de Saint-Exupéry]

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Sterntaler ()

  • Sterntaler, ich fände es sehr schade, wenn Du uns nicht weiter Deine Geschichten vorstellen würdest. Mir hat sie ja auch sehr gut gefallen. Das es vielleicht zwischenzeitlich mal die ein oder andere Geschichte geben wird, die nicht ganz so berührt, ist normal. Aber Übung macht den Meister und wer weiß, vielleicht sind Deine anderen Geschichten ja noch besser... ;-)

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • Die gefällt mir auch gut, aber erst ab der Mitte in etwa.... anfangs hatte ich das Gefühl zu wissen was kommt, aber dann hat mich das Ende doch irgendwie überrascht....


    Hast du fein gezaubert...

  • diese Geschichte baut eine ganz zerbrechliche, bittersüße Melancholie auf, um dann am Ende nochmal richtig zu explodieren.


    normalerwesie sind "pointierte" Geschichten oft aufgesetzt, aber Deine
    Story ist wirklich, wirklich bewegend.


    großes Kino


    :anbet

    equal me to whatever you want
    i don't care
    as long as i know
    this could mean we're free


    farewell, goodbye
    your
    mr_slowly_downwards