Wie der Soldat das Grammofon repariert von Sasa Stanisic

  • Kurzbeschreibung
    Als der Bürgerkrieg in den 90er Jahren Bosnien heimsucht, flieht der junge Aleksandar mit seinen Eltern in den Westen. Rastlos neugierig erobert er sich das fremde Deutschland und erzählt mit unbändiger Lust die irrwitzigen Geschichten von damals, von der großen Familie und den kuriosen Begebenheiten im kleinen Visegrad. Aleksandar fabuliert sich die Angst weg und "die Zeit, als alles gut war" wieder herbei.


    Aleksandar wächst in der kleinen bosnischen Stadt Visegrad auf. Sein größtes Talent ist das Erfinden von Geschichten: Er denkt gar nicht daran, sich an die Themen der Schulaufsätze zu halten, viel zu verrückt sind die Erntefeste bei seinen Urgroßeltern, viel zu packend die Amokläufe betrogener Ehemänner und viel zu unglaublich die Geständnisse des Flusses Drina. Als der Krieg mit grausamer Wucht über Visegrad hereinbricht, hält die Welt, wie Aleksandar sie kannte, der Gewalt nicht stand, und die Familie muss fliehen. In der Fremde eines westlichen Landes erweist sich Aleksandars Fabulierlust als lebenswichtig: Denn so gelingt es ihm, sich an diesem merkwürdigen Ort namens Deutschland zurechtzufinden und sich eine Heimat zu erzählen. Seinen Opa konnte er damals nicht wieder lebendig zaubern, jetzt hat er einen Zauberstab, der tatsächlich funktioniert: seine Phantasie holt das Verlorene wieder zurück. Als der erwachsene Aleksandar in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, muss sich allerdings erst zeigen, ob seine Fabulierkunst auch der Nachkriegsrealität Bosniens standhält.


    Mit "Wie der Soldat das Grammofon repariert" hat Sasa Stanisic einen überbordenden, verschwenderischen, burlesken und tragikomischen Roman über eine außergewöhnliche Kindheit unter außergewöhnlichen Umständen geschrieben, über den brutalen Verlust des Vertrauten und über das unzerstörbare Vertrauen in das Erzählen.


    Der Autor
    Sasa Stanisic wurde 1978 in Visegrad in Bosnien-Herzegowina geboren und kam als Vierzehnjähriger nach Heidelberg. Seit 2004 studiert er am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Stanisic hat mehrere Stipendien und Preise erhalten, u.a. den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. "Wie der Soldat das Grammofon repariert" ist sein Romandebüt.


    Meine Meinung
    Durch die Nominierung für den Deutschen Buchpreis wurde ich auf das Buch aufmerksam. Der Titel hat mich so neugierig gemacht, dass ich mehrmals im Buchhandel einige Seiten gelesen habe, bevor ich es endlich gekauft habe.


    Sasa Stanisic beschreibt in wunderbaren Worten Aleksandars Leben vor, während und nach dem Kroatien-Krieg. Kein Zeitungsbericht aus dieser Zeit, keine Fernsehberichterstattung mit noch so grausamen Bildern hat mir diesen Krieg so nahe gebracht wie dieses Buch. Aleksandar lässt uns mitleben, mitleiden und vor allem an seinen wunderbaren Geschichten teilhaben. "Die Leute aus dem ehemaligen Jugoslawien sind ein Erzählervolk", erzählt mir ein Freund aus Kroatien immer wieder. Sasa Stanisic bestätigt das mit diesem Buch und bringt mir diese Kultur nochmal etwas näher.


    Wie der Soldat das Grammofon repariert macht neugierig, nachdenklich, mitfühlend, traurig und fröhlich zugleich. Durch den lebendigen Stil hat man das Gefühl, dabeigewesen zu sein.


    Etwas gewöhnungsbedürftig ist das Stilmittel, das der Autor einsetzt. Keine Anführungszeichen (weshalb das so ist, erklärt er innerhalb des Buches), viele Wiederholungen, sehr interessanter Stil. Ein Stil, der nur dann wirkt, wenn man ihn komplett beherrscht, und das tut Sasa Stanisic. Da stört es mich nicht, dass das Buch etwas "durcheinander" wirkt, wie eine Sammlung verschiedener Tagebuchaufzeichnungen und Aufsätze, die scheinbar planlos aneinandergereiht wurden. Doch dahinter steckt jede Menge Arbeit, denn nur so kann diese scheinbare Leichtigkeit suggeriert werden. Ich habe einen Heidenrespekt vor der Arbeit des Autors, der Mann kann wirklich schreiben. Fazinierend auch für jemanden, der erst mit 14 Jahren angefangen hat, deutsch zu lernen.


    Dieses Buch kann ich jedem weiterempfehlen. Vor allem auch, wenn ihr wie ich die Flucht vieler Familien während des Koratien-Kriegs direkt miterlebt hat. In meinem Heimatdorf sind einige Familien untergekommen, unter anderem auch ein Junge, den ich vor ca. 12 Jahren leider wieder aus den Augen verloren habe und seitdem suche. So wie Aleksandar seine Asija sucht ... Vielleicht hat mich auch deshalb dieses Buch so sehr berührt, weil es mich an diesen Jungen erinnert.

  • Du hast eine tolle Rezension zu diesem Buch geschrieben, Nikana!


    Ich habe es gerade gelesen und kann das bereits gesagte nur unterstreichen.


    Der Autor beschreibt den Yugoslawien-Krieg so, wie er (bzw. sein Alter Ego) ihn erlebt hat, ohne auf die politischen Entwicklungen einzugehen. Er beschreibt Geschichten von Menschen in der "guten, alten Zeit" vor dem Krieg und während des Krieges. Manchmal sind diese Geschichten etwas weitschweifend und undurchsichtig, aber insgesamt wunderbar. Ein empfehlenswertes Buch.

  • Ja, ein wunderbares Buch, aus dem man gar nicht genug zitieren kann.


    "Oma möchte vorne fahren, Miki parkt aus, sie sagt: einmal hat Slavko für mich die Wohnung in Blumen gelegt, einmal hat er vor dem ZK, statt einer Rede, Rotkäppchen in einer eigenen Fassung vorgetragen, einmal hat er prophezeit, es kann nicht gut ausgehen, dass wir alle nur Ideale haben, aber keine Alternativen zu den Idealen, und einmal hat er darüber nachgedacht, mich zu betrügen, ich habe es an seinen Küssen geschmeckt."


    Sasa Stanisic erzählt Geschichten, erzählte Geschichten, Geschichten des Großvaters, eigene Geschichten, der durchs Leben stolpernde Aleksandar macht Listen und sucht seine Asija, seine Liebe in den Wirren des Krieges...


    "Ich nenne sie nicht Flüchtlinge, ich sage: Schützlinge. Sie haben ein Mädchen mit so hellem Haar beschützt, dass ich meinen Vater fragen muss, ob es für so ein Hell einen Farbnamen gibt.
    Er sagt: Schön.
    Ich sage: Schön ist keine Farbbezeichnung.
    Schön und ihr Onkel mit dem gezwirbelten Schnurrbart essen mit uns im Keller. Ibrahim wartet, bis Schön mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen ist und erzählt leise von ihrer Flucht. (...) Wir sind die Letzten aus unserem Dorf, Ibrahim überlegt kurz, wir sind die Letzten aus unserem Nichts."


    Man erfährt, "wann etwas ein Ereignis ist, wann ein Erlebnis, wie Mister Hemingway und Genosse Marx zueinander stehen, was hinter Gottes Füßen gespielt wird und wofür sich Kiko die Zigarette aufhebt". Geschichten von Bildern, die nicht fertig gemalt werden, von der Großmutter, von der Tante Taifun, die gegen Carl Lewis läuft, Geschichten vom Fluss...


    "Cika Hasan und Cika Sead angeln nicht aus Vergnügen, sie angeln nicht aus Lust am Kampf mit dem Fisch, sie angeln nicht weil sie Ruhe suchen, sie angeln nicht, weil man nichts Schlechtes denken kann, während man in der Drina angelt. Hasan angelt, weil er mehr Fische fangen will als Sead, Sead angelt, weil er mehr Fische fangen will als Hasan. Ich bin es, der aus all den anderen Gründen angelt, und weil mir gebratener Fisch schmeckt, und ich fange trotzdem mehr als die beiden zusammen."


    Geschichten auch vom Fussballschiedsrichter, der im falschen Moment nach Hause kommt, Geschichten vom "Genossen Tito", Geschichten, wie richtig und falsch Geschichten sein können.
    All dies könnte verworren sein, chaotisch und wirr. All dies ist einfach nur das eindringlichste Buch gegen Gewalt und für Menschlichkeit, welches man seit langem gelesen hat.
    Man könnte endlos zitieren, lässt es aber gut sein. Nur einen noch...


    "Viele Geschichten kennt Zoran nicht. Das kommt daher, weil ihm im eigenen Leben etwas so Unglaubliches passiert ist, dass er nichts mehr erfinden muss."


    lg
    david

  • Ich zitiere mich mal selbst:


    Zitat

    Original von buzzaldrin
    Nach den Eindrücken hier, muss ich dieses Buch wohl ganz schnell aus meinem SUB befreien und lesen.


    Und genau das habe ich getan, es nicht bereut und mich geärgert, das ich das Buch so lange im SUB habe liegen lassen. Es war wirklich ein tolles Leseerlebnis! Ich brauchte zwar das erste Kapitel um ein wenig in die Sprache und Art des Erzählens rein zu kommen, aber dann war ich richtig begeistert!

  • Ich habe das Buch jetzt auch gelesen - eine liebe TP'lerin hat es mir geliehen und ich muss sagen:
    Das Buch hat mich begeistert und ich kann mich nur den obigen Rezensionen anschließen. :-)



    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Ich hab zwar erst 30 Seiten gelesen, bin aber schon hin und weg von der wunderschoenen Sprache und finde auch auf jeder Seite einen Satz (oder zwei oder drei), den ich mir als Zitat rausschreiben moechte ... Stanisic ist hier etwas ganz besonderes gelungen, indem er die Geschichte aus der Sicht eines Kindes erzaehlt, dabei dessen Bilder und Perspektiven beschreibt - gleichzeitig aber durchaus eine Erwachsenensprache benutzt, die sich dennoch kindlich fantasievoll anhoert.


    Mein Exemplar ist aus der hiesigen Stadtbuecherei, die auch die englische Uebersetzung im Regal hat. Da werd ich mal reinschauen, weil ich sehr neugierig bin, wie man sowas ueberhaupt in eine andere Sprache uebertragen kann.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich