Ob einem dieses Buch gefällt, hängt allein davon ab, ob man Familiengeschichten mag, Familiengeschichten, wie Großmutter sie erzählt. Denn das tut die Großmama aus dem Buchtitel, wenn sie auspackt. Sie erzählt die Geschichte ihrer Familie. Nicht mehr und nicht weniger.
Sie erzählt, wie man im Kreis der Familie erzählt, ins Unreine, mal von vorne, mal von hinten, sprunghaft, mal in Bröckchen, mal ausführlich. Parteiisch, ungeschminkt, oft genug drastisch. Sie färbt schön und sie verspritzt Gift (und das ungebrochen seit Jahrzehnten, je nach Thema), sie ist rechthaberisch und ausgleichend, borniert und großmütig, nicht selten in ein – und demselben Satz. Großmama hat immer recht. Sagt Großmama.
Großmutter ist Elisabeth Rother, die Mutter von Maria Renate (die allerdings so ungebärdig ist, daß Großmama bald auf das ‚Maria’ verzichtet) und die Großmutter von Irene Dische, der Autorin. Was im Roman vorkommt, ist das wahre Leben der Elisabeth Rother und die Autobiographie der Enkelin zugleich, aus dem Mund der Omama. Ein schriftstellerischer Kniff, der recht gut funktioniert. Ein weiterer Kniff besteht darin, daß Großmutter Elisabeth, die von Tochter Renate aus gutem Grund ‚Mops’ genannt wird, keineswegs im Wohnzimmer sitzt, beim Erzählen, sondern irgendwo über den Wolken. Großmutter ist nämlich schon verstorben.
Ehe man das bemerkt, sitzt man schon neben ihr und lauscht. Man kann gar nichts dagegen tun, man muß ihr zuhören, gleich, was sie sagt. Man kann nicht eingreifen, man kann nicht korrigieren oder berichtigen. Man wird mitgerissen von Omas Erzählfluß. Auch wenn man gelegentlich heftig protestieren möchte.
Großmutter ist nämlich z.B. rassistisch bis auf die Knochen, auch wenn sie es empört bestreitet. Schließlich sind vor Gott alle Menschen gleich, sogar Russen. Juden mag sie so wenig, daß sie nicht einmal das Wort ‚Juwelen’ benutzt, weil sie das ‚Ju –‚’ stört. (Tatsächlich steht hinter dem deutschen Text ein englischer und im Englischen erst entfaltet das Wortspiel ‚Jewels’ – ‚Jew’ seine tödliche Wirkung.)
Der Antisemitismus hält Großmutter nicht davon ab, sich 1917 als junge Krankenschwester im Lazarett in einen jüdischen Arzt zu verlieben und ihn auch zu heiraten, selbstverständlich erst, nachdem sie ihn zum Katholizismus bekehrt hat. Ihre Familie ist entsetzt, aber das stört Großmutter nicht. Sie hat ihren eigenen Kopf.
Das merkt Ehemann Carl, das merkt seine jüdische Familie, das merken die Einwohner der Kleinstadt in Oberschlesien, wo sie ihre ersten Ehejahre als angesehene Arztgattin verbringt. Das merken sogar die Gestapo und die Nazis in den Dreißigern, das heißt sie merken es glücklicherweise nicht, sonst wäre die Familie, bestehend aus Elisabeth, Carl und Renate nie lebendig in den USA gelandet.
Ich merke, daß ich schon erzähle wie Großmutter.
Was den Reiz dieses Buchs ausmacht, ist, daß es ein Leben an den Wurzeln packt. Zeitgeschichte vom Ende des ersten Weltkriegs bis in die späten 80er Jahre wird gespiegelt am höchst individuellen Leben der Familie Rother-Dische, jüdisch-katholisch. Deutsch – amerikanisch. Eine kulturelle Zerrissenheit, die von den Nazis offengelegt wird, die die Personen um die Erzählerin prägt und beeinflußt bis in die Generation der Enkelin. Ganz gleich, ob es um Religion, gesellschaftliche Zugehörigkeit, den sozialen Stand, Bildung oder Sexualität und Eheschließungen geht (ach, dieser Dische, den Renate in den USA heiratet, gegen Großmamas Willen und den sie nie ausstehen kann, Nobelpreis hin oder her).
Es ist äußerst komisch und äußerst schmerzlich zugleich. Das war der Alltag. So können Menschen sein. In den Zwanzigern, den Dreißigern, den Fünfzigern. Waren die Nazis schon verrückt, so sind es die USA kaum weniger. Gar nicht zu reden von den Eskapaden der Enkelin, die mit 17 quer durch den Nahen Osten trampt und schließlich in Afrika bei einem der berühmtesten Paläoanthropologen des 20. Jahrhunderts landet.
Unverblümt hören wir hier die Worte und Urteile einer Frau, die zugleich Worte und Urteile über ein ganzes Zeitalter sind. Nicht selten vernichtend.
Manchmal möchte man aufhören zu lesen, Großmutter ist nicht unbedingt sympathisch. Sie ist egoistisch, brutal, arrogant, borniert und doch – sie hat einen ungeheuren Sinn für Gerechtigkeit. Ihre Überzeugungen basieren auf den Grundsätzen der katholischen Religion, es wird häufig über Sünde gesprochen und über Sünden. Gute Erziehung, gute Manieren und die Aufgabe der Frau, das Niveau der Familie zu halten, werden ebenso oft thematisiert. Großmama bellt nicht nur, sie beißt auch zu.
In den wirklich großen Krisen wächst sie über sich selbst hinaus, ansonsten zieht sie es vor, sich hinzulegen und ihren Tod zu verkünden, wenn es problematisch wird. Der Tod jedoch läßt sich von Großmutter nicht bezirzen, ebensowenig wie die pragmatische schlesische Haushälterin Liesel, ein überzeugende zweite Protagonistin in diesem verrückten Buch.
Was bleibt, ist vor allem die Erzählung vom Kampf einer Frau um Würde, im Leben wie im Sterben, für sich und ihre Angehörigen. Es ist fundamental menschlich. Es ist bei aller Abneigung, die Großmama hervorruft, ein überzeugender Kampf. Beeindruckende Frau.
Und damit ein letztlich beeindruckendes Buch.