Ital. Originaltitel: Io non ho paura (2001)
Der Premio Viareggio ist ein Literaturpreis von höchstem Ansehen und wer ihn bekommt, bekommt ihn üblicherweise dafür, daß er einen Nerv der italienischen Gesellschaft getroffen hat. Eben das gelang Niccolò Ammaniti (geb. 1966) mit seinem 2001 erschienenen knapp über 200 Seiten langen Roman Ich habe keine Angst.
Der Titel des 2003 in Deutschland zum erstenmal veröffentlichten Buchs lautet erwartungsgemäß ganz anders, aber für einmal gibt es daran nichts auszusetzen, denn tatsächlich berührt auch er einen Kern der Geschichte.
Es geht um Entführung und Lösegelderpressung, ein Verbrechen, das Italien in den 70er und 80er Jahren derart plagte, daß es geradezu ein nationales Trauma wurde. Allein der Gedanke, es literarisch aufzuarbeiten, ist schon etwas Besonderes. Denn ein einfacher Krimi ist dieses Buch ganz sicher nicht.
Entführung mit anschließender Erpressung von Lösegeld ist ein Armutsverbrechen und arm sind sie in Acqua Traverse, der winzigen Ortschaft im tiefsten Süden Italiens. Eigentlich ist es nicht einmal ein Ort, es gibt nur die Villa des Großgrundbesitzers und vier armselige Häuschen, zwei rechts, zwei links der Durchfahrtsstraße, eines davon mit einem winzigen Laden im Erdgeschoß. Es gibt keine Piazza, keine Kirche, keine Bar, es gibt nicht einmal genügend Wasser. Die einzige Wasserstelle ist eine öffentliche Pumpe, deren Hahn mit einem Schloß gesichert ist, damit nur ja kein Tropfen verloren geht.
Was es gibt sind Weizenfelder, Morgen um Morgen reifer goldgelber Weizen, rings um das Dörfchen, von einem Horizont zum anderen. Und es gibt die Kinder, vier Jungen, zwei Mädchen, im Alter von fünf bis zwölf. Unter ihnen ist der neunjährige Michele. Diese Geschichte ist Micheles Geschichte.
Wir sind im Sommer 1978, es ist glühend heiß am Tag, heiß und stickig in der Nacht. Die Erwachsenen verschanzen sich in den Häusern, nur die Kinder sind draußen, auf Fahrrädern, mit denen schon ihre Väter unterwegs waren, auf den Straßen, in den Feldern. Sie spielen Fußball, raufen, fechten Konkurrenzkämpfe auf. Es ist wichtig in dieser Gemeinschaft zu wissen, wer stark ist und wer schwach, und vor allem, wer das bestimmt. Auf einer ihrer Entdeckungstouren durch die Felder entdecken sie einen seltsamen Hügel und dahinter ein fast verstecktes Tal mit einem verfallenen Haus. Im Hof des Hauses stößt Michele auf ein Geheimnis: in einem Erdloch liegt ein verwahrloster, halbverhungerter Junge angekettet. Michele erzählt zunächst keinem von dem schrecklichen Fund. Er möchte selbst herausfinden, was genau es damit auf sich hat.
Was nun folgt ist die konsequent beschriebene Entzauberung eines kindlichen Kosmos, der zunächst geprägt ist von Hexen und Riesen oder Helden aus Westernheftchen ebenso wie von Gestalten wie Lazarus, Jesus oder Engeln. Eingetauscht wird die verwunschene Welt gegen das, was die Erwachsenen Realität nennen, und die sie leben müssen.
Diejenigen nämlich, die den Jungen – der, wie sich herausstellt, geradeso alt ist wie Michele – in das Erdloch gesteckt haben, sind die Eltern der Freunde und Micheles eigene. Geld wollen sie, Geld brauchen sie, denn ihren Kindern soll es doch einmal besser gehen.
Stückchen für Stückchen enthüllt sich das Geheimnis, die Erkenntnis wächst beim Lesen ganz unmerklich, so wie sie in Michele wächst. Erzählt wird das überwiegend aus seinen Augen, mit nur ganz wenigen Rückblicken seiner erwachsenen Erzählstimme. Ob diese seltenen Unterbrechungen des Handlungsablaufs ein Bruch sind oder den Leserinnen und Lesern eine barmherzige Pause gönnen, einen Rückzug auf einen Fußbreit Rationalität in dem umfassenden Schrecken, der hier geschildert wird, ist schwer zu entscheiden.
Die Eltern der Kinder sind nämlich gute Eltern, fürsorglich, freundlich. Es gibt feste Essenzeiten, feste Schlafenszeiten, eine Ordnung, die eingehalten wird, für die Gemeinschaft, für die Kinder. Doch soll dafür ein anderes Kind Opfer sein.
Michele muß sich entscheiden.
Der ganze Roman ist atemberaubend in nahezu jeder Hinsicht. Die Sprache ist schlicht, aber poetisch, kraftvoll, aber völlig unaufdringlich. Motive werden eingeführt, variiert, beneidenswert geschickt verknüpft. udn das alles in rasender Geschwindigkeit, obwohl das Erzähltempo gemächlich scheint.
Die Charaktere sind so lebendig, daß man, schaut man beim Lesen auf, sicher ist, daß sie vor einem stehen. Jede und jeder ist unterschiedlich angelegt, es genügt ein Satz, eine Geste und schon ist eine andere Person geschaffen. Der Anführer der kleinen Bande, Antonio, ‚Totenkopf’ genannt, Salvatore, der Sohn des Großgrundbesitzers, die ‚dicke Barbara’, Maria, die kleine Schwester Micheles, die ihnen dauernd nachrennt. Der Autor hat ein nahezu unheimliches Gespür für die Welt von Kindern, für ihren Blick auf die Dinge, für ihre Art, etwas einfach hinzunehmen.
Ebenso überzeugend sind die Erwachsenen, Papa und Mama, der aus reinem Frust gewalttätige große Bruder des ‚Totenkopfs' und die Fremden, die Micheles Frieden zu stören scheinen, bis ihm klar wird, daß die Gefahr nicht allein von außen kam.
Es ist eine rundum beängstigende Geschichte. Sie ist voller archaischer Elemente, die in die heutige Zeit hinübergeführt und neu gewertet werden. Es ist die Geschichte vom ersten Schritt in die Erwachsenenwelt, vom Generationenkonflikt, von lebenslangen Enttäuschungen und von Fehlentscheidungen. Es ist eine Geschichte vom Einzelnen und der Gruppe, eine Geschichte von Liebe. Von Söhnen und Vätern, von Brüdern und kleinen Schwestern. Es ist eine Geschichte von Müttern. Es ist eine Geschichte von Menschen und Monstern, den Herren des Hügels. Von der Angst und was bedeutet, handeln zu müssen, wenn man Angst hat, gleich ob man neun Jahre alt ist oder Mitte Dreißig.
Es ist eine fundamental moralische Geschichte, etwas, das heutzutage seltsam und befreiend zugleich anmutet. Das ist die wahre Leistung dieses überwältigenden Romans.