Kiran Desai: Erbin des verlorenen Landes

  • So, heute versuche ich es auch einmal mit einer Buchvorstellung. Aus gegebenem Anlass (Buchmesse, Gastland Indien):



    Kiran Desai: Erbin des verlorenen Landes
    Roman. Aus dem Englischen von Robin Detje
    Berlin Verlag, München 2006
    430 Seiten, 19,90 Euro
    ISBN: 382700683X


    Inhalt:
    Die Stadt Kalimpong (indische Seite des Himalaya), im Jahr 1986: Die 15-jährige Sai lebt mit ihrem anglophilen Großvater, dessen Koch und der Hündin Mutt ein Leben nach westlich-britischem Vorbild. Eine romantische Liebe verbindet sie mit ihrem Mathematiklehrer, dem jungen Nepalesen Gyan. Doch schon bald wird die idyllische Fassade rissig: Gyan schließt sich einer Gruppe rebellischer Nepalesen an. Kurze Zeit später kommt es zu blutigen Unruhen (der „Gurkha-Aufstand“ der nepalesischen Minderheit), die das Leben aller Bewohner Kalimpongs für immer verändern.


    Mein Eindruck:
    Geschickt verbindet Kiran Desai die Lebenslinien vieler Figuren: Migranten, Rebellen und verwestlichte Inder, die fremd im eigenen Land sind – alle suchen nach ihrer Identität. Zum Beispiel Sais Großvater, Richter Jemubhai Patel, der in Cambridge studierte und alle Inder – sich selbst eingeschlossen – aus tiefstem Herzen hasst. Eine weitere schön gezeichnete Figur ist Biju, Sohn des Kochs. Er ist mit großen Hoffnungen nach Amerika aufgebrochen und schlägt sich dort als illegaler Arbeiter durch. Seinem Vater schreibt er beruhigende, optimistische Briefe. An seinem Beispiel zeigt Desai auf, was es bedeuten kann, in einem neuen Land auf sich selbst gestellt zu sein - und wie schwer, dabei die Balance zwischen Anpassung und Verlust zu finden. (Desai selbst lebt übrigens selbst abwechselnd in Brooklyn und Sikkim). „Als Migrant erlebt man immer einen großen Verlust. Man glaubt, dass man nie wieder eine vollständige, runde Geschichte erzählen kann“, sagte sie in einem Interview.


    Für ihre Figuren schafft die Autorin eine psychologisch ausgefeilte Versuchsanordnung, lässt Menschen verschiedenster Kulturen und Weltanschauungen aufeinandertreffen (naja, „kollidieren“ wäre das treffendere Wort). Dabei spannt sie mühelos einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Globalisierung und dem ganz persönlichen Streben nach Glück und Perspektive. Sehr differenziert widmet sie sich den Themen unserer Zeit: Migration, terroristische Gewalt, die Kluft zwischen arm und reich. Desai gelingen brillante Beobachtungen. Besonders angetan hat es mir ihre Art, die Kluft zwischen den Menschen darzustellen – poetisch-eindringlich, nicht reißerisch. Als Beispiel zitiere ich die Stelle, als Sai, das Mädchen aus der indischen Oberschicht, zum ersten Mal das Haus sieht, in dem ihr Mathematiklehrer und Geliebter lebt:


    „Aber Sai wusste, dass sich die Armut in der Dämmerung nicht länger ignorieren lassen würde, dass dann spürbar werden würde, wie eng und feucht es in diesen verrauchten Hütten war, wie die Menschen ihre kargen Mahlzeiten in düsterem Kerzenschein zu sich nahmen und nicht richtig sehen konnten, während Ratten und Schlangen im Dach um die Insekten und Vogeleier kämpften. (...) Eine Frau mit einem Baby im Arm lief vorbei. Die Frau roch nach Rauch und Erde und vom Baby ging ein strenger, süßlicher Duft aus, wie von gekochtem Getreide. ‚Weißt du, wo Gyan wohnt?’, fragte Sai. Sie zeigte auf ein Haus direkt vor ihrer Nase; da stand es und Sai erlitt einen kleinen Schock. Ein kleiner, schlammglatter Würfel. Die Mauern mussten aus mit Sand verlängertem Zement errichtet worden sein, denn aus großen Pickeln rieselten die Körner wie aus einer durchlöcherten Plastiktüte.“


    Fazit:
    Keine leichte Lektüre für zwischendurch, den wehmütigen, oft auch bitteren Unterton muss man ertragen können. Aber meiner Meinung nach ein sehr gutes Buch!



    Viele Grüße!
    Nina (noch ganz mitgenommen von den tragischen Stellen)

  • Liebe Nina, vielen Dank für die ausführliche und schöne Rezi! Um das Buch schleiche ich auch schon ein wenig herum und durch die Rezi kommt es direkt auf die Wunschliste! Klasse sind da bestimmt auch die Lesungen, gelesen von Jasmin Tabatabai, aber leider nicht in Nordhessen :-(

  • Hallo Bibihexe!


    Toll, freut mich, dass die Rezension Dir gefällt! :-)
    Und gut, dass Du mich daran erinnerst, dass ich noch den Lesungtermin mit Kiran Desai und Jasmin Tabatabei in Stuttgart (11. Oktober) in die Termine einstellen wollte. Ich werde hingehen und auf jeden Fall kurz berichten, wie es war.


    Viele Grüße!
    Nina

  • Originaltitel: „The inheritance of loss“


    Kurzbeschreibung
    In Kalimpong, an den Hängen des Himalaja, versammelt sich eine ganze Menagerie verschrobener Gestalten. Hier bringen die Naturgewalten Schönheit und Zerstörung zugleich. Auf einem abgelegenen, von Termiten zernagten Anwesen vergöttert der Richter Jemubhai Popatlal Patel seine schöne Setter-Hündin Mutt. Die Enkelin Sai verliert sich in der Welt Jane Austens und verzehrt sich nach ihrem Hauslehrer Gyan. In einer verrußten Küchenhöhle werkelt der grantige Koch, dessen Sohn Biju sich im fernen New York als Küchenhilfe durchschlägt. Kiran Desais erstaunlicher zweiter Roman erzählt nicht nur die anrührende Geschichte vom Liebeserwachen eines jungen Mädchens in einer traumhaft exotischen Welt, umgeben von Mungos, Gleithörnchen und riesigen Schmetterlingen. Vor dem historischen Hintergrund des indischen Ghurka-Aufstandes Mitte der achtziger Jahre zeichnet die Autorin das faszinierend gründliche Psychogramm einer aufstrebenden Weltmacht, die sich wie eine verlassene Geliebte nach dem untergegangenen britischen Empire zurücksehnt und gleichzeitig versucht, ihre Kolonialneurose zu überwinden. Kiran Desai erklärt uns die Natur des Terrors, des Migrantentums, der Liebe. Aus dem feinen Gewebe der kleinen Geschichten wird eine große Erzählung vom Fremdsein daheim und in der Fremde. Ein großer Roman der Globalisierung - ein Bericht aus einer Welt, die wir verstehen müssen, wenn wir überleben wollen.


    Zur Autorin


    Kiran Desai, Tochter der Schriftstellerin Anita Desai, wurde 1971 geboren. Sie studierte an der Columbia University und lebt heute abwechselnd in Indien, England und den USA. Ihr erster Roman erschien in Deutschland 1998 unter dem Titel „Der Guru im Guavenbaum“.


    Meine Meinung


    Der Titel der deutschen Ausgabe ist völlig daneben, denn er suggeriert (mal wieder), dass es sich um eine weibliche Hauptfigur handelt. Aber Sai ist weder die einzige Hauptfigur, noch ist sie eine Erbin. Im Buch gibt es viele Figuren, von denen ich den Sohn des Kochs, Biju, den Richter und Sai als die wichtigsten ansehen würde, aber dann gibt es auch noch den Koch, Saeed Saeed, Father Booty und Uncle Potty, Sais Eltern, Sais Lehrer aus Nepal, Lola und Noni und viele mehr. Alle sind in irgendeiner Form direkt oder indirekt von Immigration betroffen. Und das Buch beschreibt sehr kritisch, was die Immigration mit den Menschen macht. Im Grunde sind alle unglücklich.


    Die Sprache hab ich als recht anspruchsvoll empfunden (ich habe es auf Englisch gelesen). Wobei es auch Dialoge gibt, die abwechselnd immer nur aus einem Wort bestehen, oder halbe Seiten in denen nur Ländernamen aufgezählt werden. Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin gern mit der Sprache spielt und dass sie in dem Buch alles ausprobiert hat, was man mit Wörtern machen kann. Der Stil hat mich nicht wirklich gefallen. Vor allem negativ aufgefallen ist mir der inflationäre Gebrauch von Absätzen. Viele Seiten beinhalten drei oder vier kurze Absätze und diese sind wieder durch Striche getrennt, so dass sie nahezu unverbunden aneinander gereiht sind.


    Am besten gefallen hat mir die Schilderung von Bijus Erlebnissen als illegaler Einwanderer in New York, dann hat mich das Buch auch wieder gefesselt, während ich bei Sai oft das Bedürfnis hatte, quer zu lesen.


    Booker Price hin oder her: So richtig gefallen hat es mir nicht. Wahrscheinlich weiß ich aber die wichtige politische Botschaft nicht ausreichend zu würdigen. Die kritische Auseinandersetzung mit Kolonialismus, Fremdenhass und den Folgen von Immigration fand ich interessant, aber vom Stil her, war das Buch nicht so mein Ding.
    .

  • Ich hab das Buch nach 156 Seiten abgebrochen, es vermochte nicht, mich zu fesseln.


    Zitat

    Original von Delphin:
    Am besten gefallen hat mir die Schilderung von Bijus Erlebnissen als illegaler Einwanderer in New York, dann hat mich das Buch auch wieder gefesselt, während ich bei Sai oft das Bedürfnis hatte, quer zu lesen.


    Stimmt, aber dazu ist mir meine Zeit irgendwie zu schade. :-(


    Auch die ständige Schilderung des Wetters fand ich langweilig. Kann ja sein, dass das eine große Rolle spielt, aber irgendwann nervt es mich nur noch. Wobei die Autorin es geschafft hat, dass ich mich vor der Schilderung der Feuchtigkeit und des stetig wachsenden Schimmels sehr geekelt habe.


    Aber das Cover ist sehr schön, immerhin etwas positives anzumerken.

  • So, habe das Buch nun gestern fertiggelesen.
    Ich hätte gern berichtet dass ich begeistert bin, aber leider ist dies nicht ganz so der Fall, obwohl ich wirklich mit den besten Erwartungen an das Buch herangegangen bin.


    Zum Positiven: Es ist ein sprachlich schönes Buch, sehr atmosphärisch geschrieben, man kann sich manchmal richtig vorstellen am Fusse das Kanchenjungas zu stehen und die Aussicht zu geniessen.


    Man gewinnt sehr interessante Eindrücke über das Leben in Indien, und besonders über die Schwierigkeiten die mit diesem Leben als Ex-Kolonie der Engländer verbunden sind.


    Es ist ein Buch über Verlust, Verlust der Unschuld, der Liebe, des Glaubens, der Identität, der Heimat, aber auch des Heimatsgefühls, der englische Titel beinhaltet ja schon das Wort "loss".


    Es wird auch der Aufstand der Gurkhas gen Ende der 80er thematisiert, ein Thema über das ich noch gar nix wusste, und über das ich bestimmt auch noch mehr lesen werde.


    Auch gewinnt man Einblick in das ärmliche Leben der untersten "Klassen" in Indien, sowie die Illusion dass eine englische Erziehung aus einem Inder einen Engländer/Amerikaner machen, und um die riesige Kluft die sich zwischen den Armen und ebendiesen "kolonisierten" Indiern auftut, und die gegenseitiges Verständnis unmöglich macht.


    Zum Negativen: Es ist ein sehr langsamer Roman, der keine lange Geschichte erzählt, sondern eher Eindrücke wiedergibt, und die Geschichten der Hauptprotagonisten erzählt. Die Handlung die also in deren Vergangenheit spielt nimmt mehr als die Hälfte des Buches ein, und ermöglicht zwar auf jeden Fall das bessere Verständnis des Handlungstranges "Gegenwart", ist aber, meiner Meinung nach proportionell viel zu gross.
    Wer also gerne Bücher liest von deren Handlung er mitgerissen werden kann ist hier falsch, hier hat man eine vor sich hin plätschernde Handlung, ein Mosaik das sich langsam zu einem Gesamtbild zusammensetzt.
    Wer schöne Landschaften, Ironie, Bitterkeit und Schmerz und Einblicke in eine fremde Welt mag ist hier richtig.


    Ab der Mitte des Buches hatte ich eigentlich keine Lust mehr weiterzulesen, da ich den Eindruck hatte dass die Autorin nicht zu Potte kam mit der Handlung: bis zur Mitte passiert fast nix ausser Rückblicken, danach auch nicht viel. Dennoch habe ich das Buch zu Ende gelesen. Es ist gnadenlos realistisch, und demnach deprimierend, und das Ende ist nun auch nicht grad happy, wäre aber nicht passend wenns anders wär.


    Fazit: wer eine Sozialkritik Indiens (aber auch der westlichen Welt) lesen will, in einer schönen Sprache, mit traurigen Charakteren (deren Unglück meist selbstverschuldet ist), ohne hektische Handlung, der ist hier genau richtig. Ich bereue nicht das Buch gelesen zu haben, und habe definitiv Interesse an Indien gewonnen, bin aber auch froh was anderes (hoffnungsvolleres) jetzt lesen zu können.


    :wave

  • Zitat

    Cookiemonster
    Es ist ein sehr langsamer Roman, der keine lange Geschichte erzählt, sondern eher Eindrücke wiedergibt, und die Geschichten der Hauptprotagonisten erzählt. Die Handlung die also in deren Vergangenheit spielt nimmt mehr als die Hälfte des Buches ein, und ermöglicht zwar auf jeden Fall das bessere Verständnis des Handlungstranges "Gegenwart", ...
    ... hier hat man eine vor sich hin plätschernde Handlung, ein Mosaik das sich langsam zu einem Gesamtbild zusammensetzt. ...


    Danke für die Rezi - das klingt für meine Ohren SEHR gut, so was mag ich, und drum muß das Buch gleich ganz oben auf meine Wunschliste (zumal ich eh gerade meine Vorliebe für Indien entdeckt habe)! :-)



    Edit.
    Von der Wunschliste genommen und bestellt. Jetzt brauche ich "nur" noch die Zeit zum Lesen! :-)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

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  • @ Cookiemonster: Die englische Ausgabe des Buches liegt bereits bei mir auf dem SUB und deine Rezi hat mich nochmal richtig neugierig auf das Buch gemacht.


    Du bestätigst allerdings das, was ich bereits über das Buch gehört habe, dass es ein langsames Buch ist, dass es Zeit braucht, dass es kein Buch ist, das man in einem Stück weg lesen kann. Genau deshalb werde ich mit dem Lesen warten, bis ich genug Zeit habe, mich auf dieses Buch einzulassen.

  • Ich habe mir das Buch gestern aus der Bücherei geholt und sollte es eigentlich bis zum Literaturkreis am Montag gelesen habe, aber ob ich das noch schaffe? (Bin leider mit den Buchtiteln etwas durcheinander gekommen, dachte wir lesen am Montag etwas anderes...)
    Immerhin bin ich gestern noch bis Seite 140 gekommen und finde es bis jetzt auch sehr beeindruckend und faszinierend.
    Bereits die erste Szene mit dem Überfall läßt die einzelnen Personen in ihren Reaktionen auf die Situation sehr plastisch wirken, ihr unterschiedlicher Umgang mit der aussergewöhnlichen Lage zeigt schon einiges von ihrem Charakter.
    Im Laufe des Buches werden dann auch die Beziehungen zwischen den einzelnen ProtagonistInnen und ihre Stellung zueinander deutlicher.
    Sehr bezeichnend finde ich die Schilderungen über Bijus Leben in Amerika - vor allem im Vergleich zu dem Eindruck, den sein Vater aus seinen Briefen davon erhält....
    Bijus Vater, der Koch des Richters, hat einerseits das Klassensystem seiner Umgebung absolut verinnerlicht, hofft andererseits aber der Sohn könnte in Amerika genug Geld verdienen, damit er (der Koch) in Rente gehen kann...
    Der Wunsch, wenigstens einer aus der Familie sollte den Absprung nach Europa oder Amerika schaffen und die überhöhten Vorstellungen von den Erfolgsmöglichkeiten dort erscheinen mir sehr wirklichkeitsgetreu geschildert.
    Auch die Szenen, in denen die bereits in Amerika angekommenen Migranten den Nachfolgern aus ihrer Heimat helfen sollen und sich am liebsten vor ihren Landsleuten verstecken möchten, weil sie keinen Platz mehr in ihren Behausungen haben und auch keine Arbeit vermitteln können sind recht anschaulich und nachvollziehbar geschildert.
    Gespannt bin ich, wie sich die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Sai und Gyan weiter entwickelt....

  • Nina

    Zitat

    So, heute versuche ich es auch einmal mit einer Buchvorstellung.


    Deine Rezi ist dir sehr gut gelungen, muss ich sagen, vielen Dank.


    Cookiemonster
    Ich lege viel Wert auf die Eulen Meinung, und lese die auch gerne,
    möchte dir ich aber noch sagen, dass mir deine Aufteilung
    auf positive und negative Eindrücke ganz besonders gut gefallen hat.

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume