hier eine kurzgeschichte aus dem jahre 2002:
(deshalb bitte nicht zu hart mit der kritik an einer damals 15 jährigen :-])
das krokodil
Kaum eingestiegen, setzte sich der Zug auch schon mit einem hefrigen Ruck in Bewegung. Erschöpft und völlig ausser Atem setzte ich mich auf den nächsten freien Platz am Fenster nieder und liess mich in die weichen Polster der ersten Klasse fallen.
Beinahe wäre mir der Intercity vor der Nase weggefahren, ich wäre zu spät zur Arbeit gekommen und hätte erst noch eine geschlagene Stunde auf den nächsten Zug warten müssen. Aber ich hatte es zum Glück gerade noch geschafft.
Ich atmete tief durch und schloss die Augen. Ich war richtig froh, jetzt ein wenig vor mich hindösen zu können, denn ich war ziemlich geschafft von dem letzten kurzen Stück, das ich rennen musste, um den Zug noch zu erwischen.
Keine zwei Minuten waren vergangen und ein etwas schlaksiger, junger Mann riss mich aus meinen Tagträumen. "Ist hier noch ein Platz frei?", fragte er mit einer etwas belegten Stimme.
Eigentlich hätte ich lieber meine Ruhe gehabt, aber ich nickte nur und forderte ihn mit einer Geste auf, sich hinzusetzen.
Erst als er mir gegenüber Platz genommen hat, fiel mir sein schwarzer Aktenkoffer auf, den er fest umklammert auf seinen Knien plaziert hat. Was sich darin wohl befand?
Irgendwie machte er einen Eindruck eines Mafioso, wie er so dasass in seinem eleganten, grauen Nadelstreifenanzug. Diesen Gedanken verwarf ich aber schnell wieder und blickte aus dem Fenster, um mich abzulenken.
Plötzlich hatte ich das beklemmende Gefühl, als ob mich jemand beobachten würde und als ich mich vom Fenster abwandte, streiften sich unsere Blicke und merkte, wie mein Gegenüber mich die ganze Zeit gemustert hatte. Mich fröstelte. Seine Gegenwart war mir jetzt noch unangenehmer.
Ich versuchte meine Gedanken zu verdrängen, aber es gelang mir einfach nicht. Ich fühlte mich seinen Blicken regelrecht ausgeliefert und ich überlegte ernsthaft, ob ich jetzt aufstehen sollte, um das Abteil zu wechseln. Die Zeit verstrich und ich blieb auf meinem Platz sitzen. Ich wäre froh gewesen, endlich aussteigen zu können. In diesem Moment öffnete sich die Schiebetür und der Schaffner trat ein. Während der Kondukteur so dastand, löste sich die angespannte Atmosphäre ein wenig. Ich kramte nach meiner Bahnkarte und beobachtete gleichzeitig, wie sich der Fremde hastig an seinem Köfferchen zu schaffen machte. Er schien sichtlich nervös. Aber warum nur? Was verbarg er Heimliches in seiner Aktentasche?
Wie er so nach seinem Ticket suchte, versuchte ich einen Blick in seine Aktentasche zu erhaschen. In diesem Moment klappte er den Deckel blitzartig zu. Ich zuckte unweigerlich zusammen. Warum war mir dieser Mann nur so unheimlich? Der Schaffner schien nichts zu bemerken. Er kontrollierte unsere Karten, verabschiedete sich freundlich und wünschte uns noch einen schönen Tag, bevor er wieder verschwand. Wieder waren wir allein. Ausser uns sass nämlich niemand in diesem Abteil.
Häuser, Wiesen und Felder zogen am Fenster vorbei und man hörte nur das eintönige Geräusch des Zuges.
"Nächster Halt, Zürich Hauptbahnhof, bitte alle aussteigen!", ertönte es dumpf aus dem Lautsprecher. Etwas benommen blinzelte ich, geblendet von der Sonne, die jetzt durch das Fenster schien. Ich muss wohl eingenickt sein.
Aber wo war ER? Der Platz vis-à-vis war leer! Ich zog meinen Mantel an, klemmte meine Handtasche unter den Arm und begab mich zum Ausgang. Die Zugtüren waren bereits geöffnet. Ich trat ins Freie, blickte kurz auf meine Uhr und hörte neben mir eine Kinderstimme rufen: "Papa, Papa, hast du mir etwas mitgebracht?" Ich wandte mich um und sah einen kleinen Jungen mit seiner Mutter am Bahngleis stehen. Der Mann im grauen Nadelstreifenanzug zog ein knallgrünes Plüsch-Krokodil aus seinem Koffer. Sein eben noch so düsteres Gesicht hat ganz andere Züge angenommen! Er sah ganz anders aus, mit diesem Lächeln auf seinen Lippen und dem Glanz in seinen Augen.
"Natürlich habe ich dir etwas mitgebracht. Da schau!"
Ich stand noch eine ganze Weile so da. Auch noch, als der Unbekannte schon längst seinen Sohn an der Hand genommen hatte, und mit ihm und der Frau in der Menschenmenge verschwunden war.