Fundevogel – Cornelia Tollmien
Dieses Buch ist zum erstenmal 1990 erschienen, 1994 ein zweites Mal. Viel beworben wurde es nicht, nur hin und wieder hört man davon, Dresdenbuch, Nachkriegsbuch, Familiengeschichte. Über sieben Ecken landete es nun auch bei mir.
Die Autorin, Jahrgang 1951, ist Historikerin, gerade die jüngste Vergangenheit liegt ihr am Herzen. Sie möchte nicht nur davon erzählen, sondern auch darüber aufklären und das merkt man dem Buch ein wenig an.
Nach den Worten der Autorin handelt es sich um ein Stück Familiengeschichte, aber das tut dem Ganzen keinen Abbruch.
Fundevogel, das Buch mit dem Titel des Grimmschen Märchens erzählt von der Familie Winter in Dresden. Im Dezember 1945 findet Christa, eine der Töchter ein etwa 10jähriges Mädchen vor dem Haus. Das Kind spricht zunächst kein Wort, es dauert, bis es auch nur seinen Namen sagt. Elisabeth heißt es und das ist auch alles, was die Winters und die LeserInnen von ihr erfahren werden.
Was man erfährt, detailliert, anschaulich und anrührend, ist, wie man 1945 bis 1946 In Deutschland lebte. Lebensmittelkarten, Hunger, Besatzung, Trümmer, ein neuer Anfang. Elisabeth, das Mädchen ohne Vergangenheit, nimmt dabei die Rolle der Zuschauerin, Entdeckerin und Zuhörerin ein, sie erlebt Alltag und Neubeginn, aber hört auch vom Gewesenen aus dem Mund Ellys, der Mutter der Familie und vom Großvater, der aus seiner eigenen Vergangenheit, die bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreicht, spannend zu berichten weiß.
Manches gerät eine Spur zu pädagogisch, die wenig greifbare Mädchengestalt verschwimmt rasch beim Lesen und wird zum allgemeinen Publikum, das hier über Nazizeit wie den Anfang der ‚Zone’ aufgeklärt werden soll – ein Kunstgriff, der das Künstliche nicht verleugnen kann.
Gelungen aber ist das Spiel mit dem Untertitel. Was war, hört nicht einfach auf. Das gilt für die Vergangenheit ebenso – kaum von den Nazis befreit, werden damals Verfolgte erneut verfolgt – es gibt Denunziationen, Kriminelle, die sich vom Kriegsleid nähren, aber auch neugeschaffenes Vertrauen. Es gibt vor allem einen wunderbaren Familienzusammenhalt, wenn Großvater Uhland-Gedichte vorliest etwa, wenn Briefe von der studierenden Tochter aus Göttingen eintreffen, wenn eine andere Tochter Junglehrerin wird und voll Eifer dabei ist, einen Staat aufzubauen, der so ganz anders werden soll. Oder die Sache mit Tante Erna und dem Huhn Rosamunde!
Es ist kein einschichtiges Buch, es wird eine Fülle von Themen angesprochen, Brüche werden gezeigt, viele Geschichten erzählt und sehr unterschiedliche Charaktere vorgestellt. Es eignet sich ausgezeichnet zum Vorlesen, obwohl es im Präsens erzählt wird.
Auch für Erwachsene eine sehr lohnende Lektüre über eine Zeit, über die so eingehend in Jugendbuchform nicht häufig geschrieben wird.