Schule der Lügen – Wolfram Fleischhauer
Edgar ist 23 Jahre alt und studiert Chemie in Berlin. So heißt es jedenfalls. Tatsächlich studiert er eher das Leben, vorzugsweise in den Bars, Kneipen und Theatern. Wir befinden uns im Jahr 1926, die Zwanziger swingen und toben und glitzern verführerisch golden, es gibt Nacktparties, Transvestiten, Drogen, Alkohol. Vergnügen pur. Als LeserIn steht man von Anfang an mitten drin.
Nun ist Edgar nicht irgendein Student, sondern ein ‚von Rabov’, Abkömmling einer norddeutschen Adelsfamilie, die noch dazu schwerreich ist. Ihr Geld stammt aus einer Farbenfabrik. Die Familie ist gar nicht glücklich darüber, den Erben in Berlin herumhängen zu sehen. Umso weniger, als die Familie fest davon überzeugt ist, daß es mit Deutschland abwärts geht, daß man etwas tun muß gegen das Diktat der Alliierten von außen und die kulturelle Verrottung von innen.
Um Deutschland zu retten und groß zu machen, so richtig groß, soll auch das Familienerbe eingesetzt werden. Daß das eigene Vermögen dabei auch größer wird, gleich wodurch, ist miteingerechnet. Man hat schließlich eine nationale Verantwortung, aber die Nation muß sich auch lohnen.
Edgar, der Erbe scheint das nicht zu verstehen und so soll Vetter Robert, deutsch bis ins Mark, ihn zur Vernunft bringen. Edgar mag Robert nicht. Wenn er ehrlich ist, mag er einen Gutteil seiner Familie nicht, aber er fühlt die Verpflichtung und er fühlt vor allem einen Willen zu lieben. Eben dieses Gefühl läßt ihn eines Abends in der Bar auf eine junge Frau aufmerksam werden, die ihn ihrerseits beobachtet.
Wer sie ist, bleibt noch über viele Seiten des Romans ein Geheimnis, auch wenn wir ihren Namen erfahren, Alina, ihre Herkunft, aus Indien und Edgar und sie sich schon bald lieben lernen. Edgars Bemühungen, Alina nicht nur kennen – sondern auch verstehen zu lernen, erfüllen ihn bald ganz. Bei ihr scheint seine Zukunft zu liegen.
Alina ist aber auch der Schlüssel zu seiner Vergangenheit, zu einem bösen Geheimnis in der Familiengeschichte.
So wird Edgars Liebesgeschichte zur Geschichte seiner Familie, aber auch zur Geschichte einiger faszinierender kultureller und philosophischer Strömungen Deutschlands ab der Wende zum 20. Jahrhundert. Edgars Suche nach der Wahrheit wird zur Enthüllung nicht nur seines 'Ichs'.
Dabei geht er nicht nur geistig auf Reisen, er verfolgt seine Wurzeln in Kleinstädten, bei Hamburg, in Berlin, in der Schweiz und in Indien. Es geht nicht nur allein um die Suche nach dem eigenen ‚Ich’, sondern auch um das Göttliche in der Welt wie im Menschen, um Schöpfung, falsche wie richtige im humanistischen Sinn. Die Schleier fallen.
Vor allem aber geht es um Liebe. Und es geht um die Täuschungen und Lügen, die so eng mit ‚Liebe’ verwoben sind.
Ohne es zunächst zu wollen, tritt Edgar den Kampf gegen die Lügen an. Der Kampf ist sehr spannend, alle Mittel werden eingesetzt, Intrigen, Gewalt. Das Ende ist melodramatisch.
Ob Edgar gewinnt oder verliert, darüber kann man nach der Lektüre des Buchs noch lange diskutieren.
Es ist ein Roman, in dem das Tempo von vorneherein hoch ist, obwohl es um geistige Strömungen geht, die auch eingehend beschrieben werden.
Die Charaktere, die guten wie bösen, sind allesamt ein bißchen größer als im wirklichen Leben, aber es geht ja auch um Täuschung.
Interessant ist es, einmal eine Geschichte des extrem konservativen bis braunen Deutschland von ‚oben’ zu lesen, nämlich gesehen aus der Schicht der Adligen und Reichen, die ein bedeutender Stützpfeiler der nationalsozialistischen Bewegung war. Sehr anregend auch die Schilderungen der frühen grün-alternativen Bewegungen, manches kommt einem überraschenderweise vertraut vor.
In erster Linie ist der Roman eine große Liebesgeschichte. Das muß man beim Lesen unbedingt berücksichtigen.