"Wir sind Hyänen. Das ist der Name, den man uns in dem kleinen Kollegenkreis, in dem wir arbeiten, gegeben hat. Ich hasse diesen Namen. Er peinigt mich Tag und Nacht. Unsere Aufgabe besteht darin, Familien, die soeben einen nahen Angehörigen verloren haben, darauf vorzubereiten, .....,von ihnen die Einwilligung zu erhalten, dem Leichnam diverse Organe zu entnehmen."
So beginnt das Buch. Es erzählt von einem Mann, der bei der Geburt seiner Tochter die Frau, die Geliebte verloren hat und den o.g. Beruf als Psychologe in einen Krankenhaus ausübt. Seit dem Tod seiner Frau hat sich der Blick auf die Welt für ihn verändert. Alles ist obszön geworden: Das Werbeplakat in der Metro, eine Sendung im TV, in der sich Gäste und Moderator ausführlich über die Unterschiede von "Wildschlampen" und "Zuchtschlampen" austauschen - sogar Frauen lachen darüber und fragen sich insgeheim, wozu sie wohl gehören -, die Sprache der Babysitterin, der ganze Alltag ist zu einem unglaublichen, vor Dummheit und Eitelkeit strotzendem Getriebe geworden, dem er sich nicht gewachsen fühlt, dem er unbedingt entfliehen möchte. Sein Blick auf die Welt ist ohne Hass, dafür ungeschminkt, überklar, voller Überdruss und großer Eindringlichkeit. Ein Blick, den jeder von uns von sich selbst an dunklen Tagen kennt und so schnell es geht verdrängt. Ein Blick, der weh tut. Es ist ein Blick ohne Freude, ohne Liebe, ohne Lebenslust. Der Blick eines Reporters, der nichts mehr fühlt. Der Blick eines Kriegsberichterstatters mitten im friedlichen Paris.
Und dann kommt diese Frau in sein Krankenhausbüro. Eine Frau, die gerade ihre siebzehnjährige Tochter bei einem Autounfall verloren hat, der er die Einwilligung zur Organentnahme abringen soll.
Und der Blick dieser Frau, die vor ihm sitzt, zuerst still weint und dann lächelt, schiebt sich vor seinen Blick, macht die Welt nicht heller, nicht freundlicher, aber er zeigt, dass die dunkle Welt einfach dunkel bleiben wird, wenn man selbst aufsteht und diese Welt verlässt.
Es ist die unsentimentale Geschichte eines verhinderten Selbstmords, eine Geschichte, die beinahe lakonisch erzählt wird, ohne Pathos, ohne Schwulst, dafür mit wunderbaren Worten und Bildern.
Für mich ist dieses Buch das bisherige Highlight 2006 und ich bin sicher, dass ich es sehr, sehr lange noch mit mir herumtragen werde.
Philippe Claudel, geboren 1962 in Frankreich, machte vor über zwei Jahren mit seinem Deutschlanddebüt "Die grauen Seelen" von sich reden. Kürzlich erschien neben dem o.g. Buch ein weiterer Titel im Rowohlt-Verlag, "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung".