Als Adrian mit seinem Vater in das abgelegene und leer stehende Landhaus seiner Grosseltern zieht, deutet alles darauf hin, dass ihm ein einsamer und langweiliger Sommer bevorsteht. Doch dann schliesst er Freundschaft mit Julia Camenisch. Und im alten Landhaus geschieht Merkwürdiges. Ein Fremder taucht auf und stellt Fragen. Adrian und Julia kommen dem Geheimnis des Hauses auf die Spur. Was hatte Julias Grossmutter über das Landhaus gesagt? „Man hätte es niederreissen müssen, lange schon.“ Hatte sie am Ende Recht damit?
Die Blauen Hügel
Schweigend betrachtete Adrian Moor durchs Autofenster die vorüberziehende Landschaft. Seit fast einer Stunde bot sich ihm das gleiche Bild: an den Hängen schroffer Berge lagen weite Wiesen und Felder, grasten Kühe und Schafe, säumten Bäume und Sträucher den Weg. Ab und zu fuhren sie an einem einsamen Bauernhof vorbei. Am Himmel kreisten Mäusebussarde. Das Brausen des Automotors zerschnitt die Stille, und die Kühe und Schafe warfen die Köpfe hoch. Die letzte asphaltierte Strasse hatten sie vor zwanzig Minuten verlassen. Adrian seufzte leise. Leon, der am Steuer sass, warf ihm durch den Rückspiegel einen Blick zu.
„Ich hab’s ja gesagt“, erklärte er entschuldigend. „Das Haus liegt abgelegen. Und du bist sicher, dass ihr ohne Auto auskommt?“
Seine Frage war an Adrians Vater gerichtet, der neben Leon auf dem Beifahrersitz sass und wie sein Sohn aus dem Fenster schaute. Er nahm allerdings die Hügel, Felder und Wiesen nicht wahr. Konrad Moor – von allen Koni genannt – hing wie immer seinen Gedanken nach. Als Leon ihn ansprach, schreckte er auf.
„Wie? Hast du etwas gesagt?“
„Ich habe dich gefragt, ob du hier oben wirklich auf ein Auto verzichten willst.“
Adrians Vater zuckte mit den Schultern. „Aber ja doch. Wozu ein Auto? Das Dorf liegt nicht weit vom Haus entfernt, dort finden wir alles, was wir für den Alltag brauchen, und wenn wir in die Stadt wollen, nehmen wir den Bus.“
Leon wechselte wieder durch den Rückspiegel einen Blick mit seinem Neffen. Adrian winkte ergeben ab. Ein Auto hätte an seiner Situation ohnehin nicht viel geändert, denn er war erst zwölf Jahre alt.
„Es ist ein altes Haus mit vielen Zimmern und einem Estrich voller Gerümpel. Es müsste spannend sein, sich dort mal umzuschauen“, sagte Leon wie zum Trost. Das hatte er in den letzten sechs Monaten bestimmt tausend Mal gesagt, offenbar versuchte er, Adrian davon zu überzeugen, dass ihm die aufregendsten zwölf Monate seines jungen Lebens bevorstünden, selbst wenn er diese im hintersten Winkel der Schweiz verbringen musste. Adrian lächelte seinem Onkel zu. Leon konnte ja nichts dafür. Der Junge liess sich in den Sitz zurücksinken und griff nach seinem Buch. Lesen war Adrians Lieblingsbeschäftigung. Und lesen kann man zum Glück überall auf der Welt, also auch am Fuss eines hohen braungrünen Berges in einem alten, halb zerfallenen Haus. Ebenso wenig würde Adrian auf sein zweites Hobby verzichten müssen. Die Gegend war zwar recht hügelig, dennoch würde sich mit Sicherheit ein flaches Plätzchen finden. Adrians zweitliebste Beschäftigung war nämlich Fussballspielen. Im Gegensatz zum Lesen war Fussball allerdings kein grossartiger Zeitvertreib, wenn man allein war...
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Leon: „Ich bin sicher, du wirst dich rasch mit den Kindern dieser Gegend anfreunden.“
„Gibt es in dieser Gegend denn überhaupt Kinder?“ fragte Adrian zweifelnd. In der vergangenen halben Stunde war ein Bauer auf einem Traktor an ihnen vorbeigerattert und im Hof eines stattlichen Hauses hatte eine alte Frau auf einer Holzbank gesessen. Das waren die einzigen Menschen gewesen, die Adrian erblickt hatte.
„Bestimmt.“ Leon wirkte wenig überzeugt. „Kinder gibt es doch überall. Was meinst du, Koni?“ Koni meinte gar nichts. Er starrte unbeteiligt aus dem Fenster. Leon verdrehte die Augen und bekräftige sich selbst: „Natürlich leben hier Kinder. Schliesslich gibt es nicht umsonst eine Schule im Dorf.“
Adrian schwieg. Er wusste von der Schule. Sie würde ihm im kommenden Jahr nicht erspart bleiben, leider, er war bereits angemeldet und hatte mit seiner zukünftigen Lehrerin am Telefon gesprochen. Sie hatte ihm erzählt, dass seine Klasse aus nur acht Schülern bestand, die nicht einmal alle gleich alt waren. Das neue Schuljahr würde erst in drei Wochen beginnen, bis dahin waren Sommerferien. Nun gut, drei Wochen waren keine Ewigkeit. Adrian hatte seine Bücher und seinen Fussball, und er freute sich auf das Landhaus. Seine Mutter war in diesem grossen, allein stehenden Haus aufgewachsen, er selbst hatte dort als kleiner Junge ab und zu ein Wochenende bei seinen Grosseltern verbracht, ehe sie vor sechs Jahren in die Stadt gezogen waren. Das war nach dem Tod seiner Mutter gewesen. Sie war im Landhaus umgekommen, und danach hatte ihr Bruder, Leon, seine Eltern gedrängt, es zu verlassen. Seit ihrem Auszug hatte niemand mehr einen Fuss dorthin gesetzt. So stand das Haus verlassen auf seinem grünen Hügel und zerfiel, denn Adrians Grosseltern konnten sich lange nicht dazu durchringen, es zum Kauf anzubieten. Dann, am letzten familiären Weihnachtsfest, hatten sie überraschend verkündet, dass sie es verkaufen wollten. Leider war es in einem erbärmlichen Zustand. Man würde es entweder billig hergeben oder noch einige Arbeiten daran ausführen müssen. Da griff Koni Moor zu.
„Das ist die Gelegenheit“, erklärte er seinem Sohn. „Wenn ich sie nicht ergreife, ist es vorbei, dann werde ich mir meinen Traum nie erfüllen.“
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grüsse aus der schweiz