US-Titel: Prep, 2005
‚Eine Klasse für sich’, das ist Lee Fiora aus Indiana, die Protagonistin und Ich-Erzählerin des ersten Romans der jungen US-amerikanischen Autorin Curtis Sittenfeld (geb. 1976).
Mit dreizehn sah Lee zum erstenmal einen Hochglanzprospekt eines jener Eliteinternate, die mit saftiggrünem Rasen, dunkelroten Backsteingebäuden hinter großzügigen Freitreppen und gutaussehenden Schülern über gewichtigen Bibliotheksbüchern oder mit einem teuren Tennisschläger in der Hand werben.
Seit damals wußte sie, was sie wollte: über einen solchen Rasen gehen, gewichtige Bücher lesen und vor allem Händchen halten mit einem gutaussehenden Schüler in einem gutaussehenden Kaschmirpulli.
Lees Eltern können sich ein Internat für 22 000 Dollar/Jahr plus weitere Kosten, z.B. für Sportausrüstungen und Bücher, nicht leisten. Lee bemüht sich um ein Stipendium. Was tut man nicht alles für einen Traum.
Dennoch ist keiner verblüffter als Lee, als sie das Stipendium erhält. Das dazugehörige Internat ist Ault, traditionsreich, erstklassig, ganz in der Nähe von Boston. Es ist so vornehm, daß es nicht einmal Cheerleader oder ein ‚Prom-Ball-Königspaar’ gibt.
Als die nun 14jährige Lee das Ziel ihrer Wünsche erreicht, wird ihr klar, daß sie es eigentlich gar nicht erreichen wollte. Zugleich ist es so verlockend, daß ihr nie in den Sinn kommt es aufzugeben.
Die Leserinnen und Leser folgen Lee durch alle vier Highschool – Jahre, vom Freshmen-Dasein bis ins Senior-Jahr, durch die Verwirrungen, Ängste, das unaufhörliche Wechselspiel zwischen Angezogenwerden und Abgestoßensein eines Teenagerlebens. Freundschaften, Feindschaften, Schulfeiern, Schulrituale, Zimmerparties, die erste Liebe, der erste Sex. Alles ist wunderbar und erschreckend zugleich.
Lee aber kommt niemals an, immer ist sie ‚anders’, den inneren Konflikt bewältigt sie nie wirklich. Als sie im letzten Jahr, kurz vor dem Schuljahrsende, die Möglichkeit erhält, in einem Interview der New York Times über Ault zu sprechen, kommt die Wahrheit ans Licht, die sich selbst Lee nie eingestehen wollte.
Was eine faszinierende Studie nicht nur der Seelenlandschaft eines Teenagers, sondern stellvertretend einer ganzen Gesellschaftsschicht hätte werden können, wird leider nur eine lange Geschichte. Eine sehr lange.
532 Seiten, das sind vier Schuljahre sowie zahllose Begegnungen mit MitschülerInnen, Lehrpersonal, Küchenpersonal und unterschiedlichsten Eltern später ist man immer noch nicht gescheiter geworden.
Was ist los mit Lee? Ist sie auch mit achtzehn einfach ein verstörter Teenager? Ist sie verrückt? Trotzig? Unwillig? Bildet sie sich ihr Anderssein nur ein? Lee bleibt für sich, sie kommt auch bei der Leserin nicht an.
Es gibt keinen Maßstab, keinen Orientierungspunkt, um einzuschätzen, was hier wirklich passiert. Lee sagt von sich, daß sie anders sei (sie sagt es oft), gelegentlich schreit oder zischt eine Schulkameradin ‚Du bist so anders’, eine Lehrerin sagt: Sie sind seltsam, Lee.
Aber warum? Weil sie nicht aus einer reichen Familie kommt? Weil sie wenig Gemeinschaftssinn hat? Weil sie verträumt ist? Lee hat zahllose Ängste, Versagensängste zumeist. Es sind, man ahnt es, die Ängste einer bestimmten US-amerikanischen Gesellschaftsschicht.
Die Klassenschranken sind da, es wird genau unterschieden zwischen immens reich, sehr reich und einfach nur reich. Die Mittelschicht kommt kaum vor. Arm? Nie gehört.
Noch wichtiger ist die ethnische Zugehörigkeit, das ist für europäische Leserinnen doch ein wenig erschreckend. Jüdisch, angelsächsisch, schwarz, koreanisch, spanisch’ – was immer der politisch korrekte Ausdruck dafür gerade sein mag – es ist entscheidend, wozu man gezählt wird.
Vielleicht liest man das Buch mit höherem Gewinn, wenn man den US-amerikanischen Kontext genau kennt. So aber versteht man Lee eigentlich nicht.
Wenig hilfreich ist auch, daß sich vor allem im Junior – und Senior-Jahr immer wieder aus dem Off die Stimme der inzwischen wohl erwachsenen Lee einschleicht, die einzelne Szenen kommentiert. Dabei gibt es dann die eine oder andere, an der ich, ich gestehe es, beim Lesen schon auf den Einsatz der Streicherlastigen Filmmusik gefasst war, etwa an der Stelle, als die beste Freundin Martha einen Auftritt hat und die Stimme kommentiert: Ich habe dir nie gesagt, daß ich dich liebe, Martha. Schluchz und Schnitt.
Solche Einsprengsel sind selten, wirken aber zerstörerisch auf das Ganze.
Lee wird keine gute Amerikanern. Hat das irgendeine Bedeutung?
Es ist schade um die Idee, schade um die Geschichte, schade um die vielen gut geschriebenen Szenen, die das Buch wirklich hat, um so manchen punktgenauen frechen Dialog, schade um die Atmosphäre und um einige überraschende und sehr originelle Einblicke ins Teenagerleben. Von dem wunderbareren Humor, der immer wieder aufblitzt, gar nicht zu reden.
Es ist vor allem schade um die Hauptfigur Lee, die nach einem sehr guten Einstieg immer mehr an Leben verliert und schließlich vor sich hin kümmernd tapfer und zäh Seite um Seite hinter sich bringt, geradeso wie die Leserin.
Das Buch war in den USA kaum erschienen, als es schon auf der Bestenliste der Times stand. Es ist eben doch ein sehr amerikanisches Buch. Sicher entgeht einem manches, wenn man diese Art Internatsleben überhaupt nicht kennt und auch nur vage Vorstellungen von den Ansprüchen hat, die so ein Leben offenbar mit sich bringt.
Dennoch ist Lee alles andere als eine würdige Nachfolgerin von Salingers Holden Caulfield, mit dem sie in den amerikanischen Rezensionen immer verglichen wird. Die Gesellschaftskritik, die Salingers ‚Fänger im Roggen’ enthält, und die Frage, inwieweit man für etwas einzustehen hat, bleibt doch sehr versteckt, jedenfalls für eine heutige europäische Leserschaft.
So erweist es sich, daß auch eine Autorin, die schon mit sechzehn Jahren den ersten Preis für eine Erzählung erhielt, seither erfolgreich publiziert und sogar Creative Writing studiert hat, keineswegs die ultimative Formel gefunden hat für einen guten Roman, sondern bloß für einen marktgerechte strategische Platzierung (die Autorin hat nicht wenige Artikel in der New York Times veröffentlicht.).
Das hat Lee eigentlich nicht verdient.