Wenn sich eine wohlerzogene junge Dame von Stand Ende des 18. Jahrhunderts in einen Theaterdichter verliebt, sich kompromittieren läßt und dann noch die zwecks Vertuschung rasch arrangierte Ehe mit einem ehrbaren Herrn ausschlägt, bleibt nur noch ein Mittel, den Ruf der Familie einigermaßen wiederherzustellen: das Mädchen muß aufs Land.
Eben das passiert Cecilia, Enkelin der angesehenen Signora Bianca aus Florenz, im Sommer 1780. Sie wird zu einem verwitweten, angeheirateten Cousin geschickt, in ein Kaff namens Montecatini, vorgeblich um die kleine Tochter des Cousins zu erziehen.
Die Sache lässt sich schlecht an. Cecilia, von Liebeskummer wie von der bösen Erinnerung an eine Fehlgeburt gequält, wird vom Kutscher nicht nur an einer falschen Stelle abgesetzt, sondern muß sich bei hereinbrechender Dunkelheit in Reifrock und Seidenschuhen den Berg hinauf kämpfen und schließlich durch ein Wäldchen, wo sie eine äußerst unheimliche Begegnung hat. Damit nicht genug, ist der Empfang beim Cousin Enzo Rossi alles andere als freundlich. Er wirft sie einfach wieder hinaus. Cecilia erschleicht sich ihr Bett im Haus, eine alles andere als saubere Ruhestätte in einem verwahrlosten Haushalt.
Am nächsten Morgen hellt sich die Lage ein wenig auf, aber nur kurzzeitig. Denn Enzo Rossi ist der Giudice des Orts und bald geschieht ein scheußlicher Mord. Er wird nicht der einzige bleiben. Was verheimlicht die kleine Dina ihrem Vater ebenso wie Cecilia? Haben die Insassen des nahegelegenen Irrenhauses etwas mit den Morden zu tun? Oder jemand aus dem Städtchen? Ist da jemand gar nicht so normal?
Was hier klingt, wie ein Schauerroman bester Tradition ist keiner. Es ist ein solider historischer Krimi, aus der inzwischen sehr bewährten Hand von Helga Glaesener. Er ist modern geschrieben, intelligent, mit der bekannten ironischen Distanz und dem dazugehörigen Witz. Die Herzensverwicklungen sind gerade nur hingetupft, hin und wieder allzu sparsam. Man muß beim Lesen sorgfältigst auf die Worte achten, sonst entgeht einem nicht nur der Mörder.
Es ist ein spannender Kriminalfall mit verwirrenden Verwicklungen, geschickten Ablenkungsmanövern und verschiedenen Verdächtigen. Es ist aber auch eine ausgesprochen gut erzählte Geschichte über die von großherzoglichen Gnaden aufgeklärte Toskana, die sich daraus ergebenden Konflikte zwischen Bauern und Herren, über neue Ideen in der Behandlung geistig Kranker sowie, ganz unspektakulär, aber dafür umso witziger dargestellt, über aufkeimende neuartige Vorstellungen von der Stellung der Frau. Das aufklärerische Gedankengut der Freiheit, das sich Ende des 18. Jahrhundert immer stärker ausbreitete, die Spannungen zwischen Tradition und Reform, werden auf diese Weise zum Hintergrund der Geschichte verwoben.
Die Einblicke in den damaligen Alltag sind überzeugend, das eine oder andere Mal allerdings unterbrechen unvermutet eingesetzte historische Details, Bezeichnungen für Gegenstände oder Kleidungsstücke etwa, die nicht geklärt werden, den Spannungsbogen ein wenig. Da es kein Glossar gibt, besteht die Gefahr, daß sich unkundige LeserInnen verloren vorkommen.
Wettgemacht wird das durch die wunderbare Schilderung der sommerlichen Toskana, so überzeugend, daß man die Sommerhitze spürt oder den Waldboden unter den Füßen, so echt, daß man die Landschaft förmlich riecht, von den Blumen im Salon bis zum verrotteten Fisch im Holzeimer.
Vermißt habe ich noch ein wenig Wespengesumm zur Verstärkung der Spannung, überflüssig ist eigentlich die Rettung des Helden durch die Heldin, einfach deshalb, weil dieser Kunstgriff in den Romanen Glaeseners so häufig vorkommt. Gut geschildert ist sie natürlich und wunderbar romantisch, weil sie ziemlich unromantisch daherkommt.
Ein Mehr wäre den Charakteren zu wünschen, denn da treten Personen auf, die schon dabei sind, formidables Eigengewicht zu entwickeln und sozusagen mitten im Lauf gestoppt werden. Der Hilfspolizist Bruno, Billings, der englische Arzt, der unangenehme Jurist Lupori, Großmutter Bianca, aber auch der widerspenstige und durchtriebene Bauer Zaccaria oder die Köchin Anita sind höchst lebendige und denkwürdige Nebenfiguren, über die man gern mehr hören würde. Ganz besonders wünscht man es sich bei Dina, Rossis achtjähriger Tochter, der einige ausgezeichnete Szenen geschenkt werden, die aber insgesamt zu blaß bleibt.
Es ist ein nach außen hin ruhiges Buch, vielleicht eher für die Leserin als für den Leser, weil doch aus den vereinzelten kleinen Splitterchen vieles ergänzt werden muß, das sich Männern nicht so leicht erschließt wie Frauen. Auch Enzo hat so seine Probleme mit Cecilia. Die innere Spannung, die langsam aufgebaut wird, ist zugleich beträchtlich, denn dem Ganzen unterliegt ein wichtiges Thema. Es geht um die Frage, was Menschen zusteht, was ihnen zugestanden wird und was sie sich nehmen dürfen.
Ein Lesevergnügen auf mehreren Ebenen, ideal für aufmerksame LeserInnen.
ASIN/ISBN: 3471795146 |