Klappentext:
Der revolutionäre Pädagoge A. S. Neill erzählt die Geschichte der von ihm gegründeten Schule Summerhill und zieht die Summe seiner Gedanken über Kinder und Eltern, Schulen und Lehrer, über Freiheit und Zwang, über die neue Sexualmoral und Lernpsychologie. Neill setzt nicht auf den Umsturz der bestehenden Zwangsgesellschaft. Freiheit und Menschlichkeit erhofft er sich nicht von den politischen Institutionen und technischen Fortschritten, sondern von einer neuen Erziehung. Ein ermutigendes Buch.
Der Autor:
Alexander Sutherland Neill wurde 1883 in Schottland geboren. Er besuchte die Dorfschule seines Vaters in Kingsmuir. Anschließend arbeitete er als Bürodiener und in einem Textilgeschäft. Nach seinem Universitätsstudium wurde er Lehrer an staatlichen Schulen. Seine Erfahrungen mit dem repressiven Dressursystem der öffentlichen Erziehungsanstalten wurden der Kontrasthintergrund für Neills revolutionäre Pädagogik. 1921 gründete er seine berühmte, bis heute bestehende Internatsschule Summerhill. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher über Kinder- und Jugendpsychologie und über Erziehungsfragen. 1973 starb er im Alter von 89 Jahren.
Meine Meinung:
Alexander S. Neill hätte seinen Erziehungsstil selbst nicht als „antiautoritär“ bezeichnet. Der deutsche Verlag war es, der das erfolglose Buch über seine Summerhill-Schule 1969 unter diesem Titel neu auflegte und mit der Verwendung des damals hoch aktuellen Schlagworts „Antiautoritäre Erziehung“ zum Bestseller machte.
Während viele Eltern und Kinderläden Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die Antiautoritäre Erziehung als „Laisser-faire“ verstanden und lebten und damit schnell an ihre Grenzen stießen, gibt es in Neills Internat Summerhill durchaus Regeln, an die sich jedes Mitglied der Gemeinschaft zu halten hat. Regeln müssen sein, sagt Neill – wenn es um die Sicherheit oder die Gesundheit des Kindes geht oder wenn jemand sein Eigentum schützen möchte. Diese Regeln werden in seiner Schule in demokratischer Abstimmung verabschiedet oder abgeschafft – die Stimmen der Lehrer haben dabei ebenso viel Gewicht wie die der Schüler, und wer sich nicht daran hält, muss mit Konsequenzen wie Geldbußen rechnen.
Neill wünschte sich eine Abkehr von der Leistungsgesellschaft. Kinder sollten keine Konformisten werden. Seiner Erfahrung nach tut ein „frei“ erzogenes Kind als Erwachsener genau das, was in ihm angelegt ist: Der eine wird Mathematikprofessor, der andere Straßenkehrer. Das wichtigste dabei ist, dass er die Chance hatte, Selbstvertrauen, Charakter und Persönlichkeit zu entwickeln.
Seit den sechziger Jahren, in denen dieses Buch entstanden ist, hat sich viel getan: Jugendliche dürfen Sex haben, Kindern ist die Onanie nicht mehr verboten, sie dürfen laut sein, sich schmutzig machen und im Kindergarten mit Schimpfwörtern um sich werfen. Väter sind nicht mehr die strafenden „Götter“, sondern bringen sich vielfach in Spiel und Erziehung mit ein und haben Spaß mit ihrem Kind. Doch trotz dieser positiven Entwicklung müssen noch immer viele Kinder mit Schlägen, unter ständiger Kontrolle, mit einem straffen Lernprogramm oder in einem Sperrfeuer der Kritik aufwachsen.
Wer freie Kinder haben möchte, muss sich damit abfinden, dass sie fluchen und Schimpfwörter benutzen, schmutzig sind und Spielzeug kaputt machen, ihre Genitalien anfassen und hin und wieder etwas stehlen. Am Ende werden diese Zugeständnisse belohnt: Das freie Kind ist aufrichtiger und liebevoller als das unfreie, es ist weniger aggressiv. Nicht nur nach Neills Erfahrung brauchen Kinder Liebe und Anerkennung, um glücklich zu sein. Aus glücklichen Kindern werden glückliche Erwachsene. Aus unfreien Kindern werden Neurotiker.
Was ist von den Ideen geblieben, die einst eine ganze Generation von Eltern verinnerlicht hatte? Außer Klassensprechern und SV-Stunden nicht viel. Heute schlagen wir „Pisa-Alarm“ und nerven unsere Kinder mit „Frühenglisch“, „Französisch für Zwerge“ und „Musikalischer Früherziehung“. Die Angst der Eltern ist verständlich: Gerade in Zeiten, in denen Ausbildungs- und Arbeitsplätze rar sind, sollen ihre Kinder unter denen sein, die eines Tages in der Lage sind, ihr eigenes Brot zu verdienen.
Neills Buch öffnet die Augen dafür, dass dieses Ziel auch oder gerade mit weniger Leistungsdruck erreicht werden kann. Kinder, die in Freiheit aufwachsen dürfen, werden als Erwachsene ihren Weg machen – ob als Uni-Professor, Arzt oder Lagerarbeiter, darüber entscheiden IQ und Interessenlage.
Dieses Buch sieht langweilig aus und sein Titel klingt nach öder Theorie, um so mehr überrascht sein Inhalt mit beeindruckenden und gut zu lesenden Erfahrungsberichten. Vierzig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung ist dieser Erziehungsklassiker noch immer aktuell. Neills Theorien klingen einleuchtend, wenngleich sie in aller Konsequenz, z. B. mit dem Schulbesuch auf Wunsch, nur auf Summerhill durchführbar sind. Viele andere Aspekte kann man aber aufgreifen und zum Teil des eigenen Erziehungsstils machen. Ein sehr anregendes und lesenswertes Buch!