Paul Auster - Brooklyn Revue

  • Zunächst möchte ich eine Bemerkung vorweg schicken: der Klappentext lügt. Warum erzähle ich gleich...
    Als ich das Leseexemplar von der Brooklyn Revue in die Hand bekommen habe, habe ich mich sehr gefreut. Bis ich den Klappentext gelesen habe. Der liest sich zunächst wie ein typischer Auster-Roman, aber dann endet die Inhaltsangabe mit den Worten: ...man schreibt den 11. September 2001.
    An dieser Stelle habe ich das Buch zugeklappt und war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt lesen will. Gut, daß ich es trotzdem getan habe, denn wie gesagt: der Klappentext lügt. Er will suggerieren, daß der 11. September ein dramatischer Höhe- und Wendepunkt im Buch ist und einen großen Raum im Buch einnimmt. Doch das tut er nicht. Das Buch endet am 11. September um 8 Uhr des New Yorker morgens, Stunden vor den schrecklichen Ereignissen. So nehmen diese Ereignisse im Buch keinen Raum ein, die große Entwicklung und Läuterung des Protagonisten hat längst stattgefunden und das Leben schon so manche Haken geschlagen.
    Und mit dem Schlußabsatz, die auf das historische Datum hindeutet, schafft der Autor nur ein Gefühl: nichts ist beständig. Glauben wir jetzt noch, unser Leben ist im Griff und alles hat sich wunderbar gewendet, kann nur wenige Stunden alles ganz anders aussehen und die große Veränderung muß nicht mal direkt mit uns zu tun haben.
    Und vielleicht geht es jedem anderen ja so wie mir, als ich diesen Absatz gelesen habe. Da wußte ich auch noch, wie der Protagonist der Geschichte, wie ich mich 46 Minuten vor dem Ereignis gefühlt habe.
    So wird Auster dem 11. September in einer Art gerecht, die ich ergreifender finde, als jede Beschreibung der Ereignisse.
    Rowohlt hat sich mit diesem Klappentext keinen Gefallen getan, auch wenn es wohl eine durchdachte Marketingstrategie sein dürfte.


    So, ich habe jetzt zu diesem Datum mehr geschrieben, als Auster selbst und darum jetzt zum Buch und zur eigentlichen Handlung:


    Nathan Glass ist ein Ex-Versicherungsvertreter, in Scheidung lebend, pensioniert, der sich nach einer Krebstherapie nach Brooklyn zieht, um zu sterben. So deprimierend fängt das Buch an. Doch Auster wäre nicht Auster, wenn es so weitergehen würde: Nathan trifft seinen fast verschollen geglaubten Neffen Tom Wood in Brooklyn wieder. Der hoffnungsvolle Jungakadmiker hat sein Studium abgebrochen und arbeitet nach einer kurzen New Yorker Taxifahrer-Karriere im Antiquariat des zwielichtigen Harry Brightmann. Damit hätten wir den dritten im Bunde: Harry, hinter dessen seriöser Antiquarfassade, sich ein ehemaliger Betrüger und Knastbewohner verbirgt, der jetzt den nächsten Coup ausheckt.
    Dieses Trio macht den Anfang und es reihen sich noch etliche weitere Biographien ein aus der Familie und der Brooklyner Nachbarschaft.
    Auster erzählt viele Geschichten einer Familie und einer Nachbarschaft, aber das Buch hat kein zentrales Thema, außer man möchte: es kommt sowieso alles anders... als ein zentrales Thema betrachten. Es sind Geschichten, die das Leben schreibt. Von Liebe, Tod, Fanatismus... und das ganze mit netten kleinen politischen Seitenhieben.


    Mein Urteil:
    ein absolut fantastisches Buch und ich kann es nur wärmstens empfehlen. "Unterhaltung auf hohem, aber nie abgehoben-intellektuellem Niveau" - so habe ich es in einer Kritik gelesen und das unterschreibe ich. Für mich ist es wieder einer der besseren Auster- Romane.
    Ich habe selten ein Buch gelesen, daß mich gleichzeitig so unterhalten und so emotional berührt hat. Zum lachen und zum weinen, pessimistisch und optimistisch, aufbauend und abbauend... das Buch bietet alles und damit auf 350 Seiten eine Fülle, die manche nicht auf 1000 Seiten unterbringen.


    ASIN/ISBN: 3499257920

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Zitat

    Original von janda
    Mein Urteil:
    ein absolut fantastisches Buch und ich kann es nur wärmstens empfehlen. "Unterhaltung auf hohem, aber nie abgehoben-intellektuellem Niveau" -


    So habe ich es auch empfunden: Anspruchsvoll, aber sehr gut lesbar, oft trotz ernsten Thema humorvoll und unkompliziert. Das war nicht bei jedem Roman von Paul Auster so. z.B. sein Roman Nacht des Orakels von 2003 fand ich uim Original sehr schwierig und hatte es aufgegeben. Irgendwann will ich aber noch die deutsche Fassung versuchen.


    Ein zentraler Roman über den 11 September ist Brooklyn-.Revue sicherlich nicht, da es die Zeit direkt vor dem 11.9. beschreibt.
    Bei Brooklyn-Revue mochte ich den Protagonisten und die glaubhafte Schilderung seiner Beziehung zu seinem Neffen, zu der kleinen Lucy und seiner Tochter Rachel.
    Zudem liebe ich zeitgenössische Romane in und über New York und da kommt man hier voll auf seine Kosten.
    Die amerikanischen Kritiker waren über dieses Buch gespalten, aber für mich ist es mein Lieblingsroman von Auster (neben Musik des Zufalls).


    Nur zur Info:
    Die Brooklyn-Revue ist auch als Hörbuch erschienen.

  • Zitat

    Original von milla
    Eine tolle Rezi, die richtig Lust auf das Buch macht, vielen Dank janda! :wave


    Ich zögere nur noch etwas, weil ich noch nie etwas von Paul Auster gelesen habe :gruebel Würdet ihr sagen, es eignet sich als "Einstieg" in seinen Stil?


    Auf jeden Fall.
    Man braucht bei Auster eigentlich keine Erfahrung, liest sich einfach nur gut und flüssig.
    Und dieser Roman wird dir sicher Lust auf mehr Auster-Romane machen.

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Zitat

    Original von milla
    Ich zögere nur noch etwas, weil ich noch nie etwas von Paul Auster gelesen habe :gruebel Würdet ihr sagen, es eignet sich als "Einstieg" in seinen Stil?


    Ich würde sagen, Ja.


    Alternativ ist wohl der klassische Einstieg in Paul Austers Werk
    seine New York-Trilogie (Stadt aus Glas / Schlagschatten / Hinter verschlossenen Türen)von 1985/86!

  • Wirklich eine schöne Rezi, ich kann das Lob von milla nur unterstreichen. Ich habe als alter Auster-Genießer das Buch in Händen gehabt und dann hat mich tatsächlich dieses verdammte nine-eleven wieder davon abgebracht. So werde ich mich also nun doch ins Vergnügen stürzen, danke für den Tipp, Janda.

  • Ein sehr schönes, ein sehr lesenswertes Buch. Allerdings schafft es Paul Auster auch mit diesem Buch nicht, sich als vollwertiges Mitglied in die Phalanx von Philip Roth und John Updiken einzureihen, wobei natürlich der Altersmüll von Philip Roth mal ausgenommen ist. Auster erzählt mit lockerer Hand eine schöne Geschichte und versucht nicht irgendeine verborgene Message unter die Leser zu bringen. Manchmal wirkt die Geschichte schon ein wenig konstruiert, aber da schaut man aufgrund des Gesamteindrucks schon drüber hinweg. Es ist ein Unterhaltungsroman der gehobenen Klasse, der manchmal auf etwas plumpe Weise Austers politische Meinung kolportiert. Er scheint ja ein aufrechter und wackerer Demokrat zu sein, für die Republikaner hat er nur Hohn und Spott. Für alle Paul-Auster-Fans ein Muss, für alle anderen Büchernarren ein „Sollte-man-schon-gelesen-haben-aber-die-Welt-geht-nicht-unter-wenn-man-es-nicht-gelesen-hat“. Das Buch sorgt für schöne und angenehme Lesestunden.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Mein Urteil fällt leider nicht so positiv aus, ich hatte doch enorme Probleme mit dem Buch. Es war – neben der Hörbuchfassung von „Timbuktu“ mein erster Paul Auster.


    Einerseits ist es eine abgefahrene Story, die sich um diese gescheiterten Existenzen, Verliertypen, kleinen Gauner, religiösen Fanatiker und Homosexuellen, zusammen mit einer Prise amerikanischer Innenpolitik, dreht.
    Auf der anderen Seite kam mir alles sehr konstruiert vor und mit großer Distanz erzählt. Mir sind die Protagonisten weder sympathisch noch unsympathisch, ich konnte keine Beziehung aufbauen. Die einzelnen Handlungsstränge stehen (für mich) eigentlich in keinem Zusammenhang zueinander und der Bezug auf den 11. September 2001 auf der letzten Seite des Buches halte ich für einen Marketinggag.

  • Zitat

    Original von Jersey
    Die einzelnen Handlungsstränge stehen (für mich) eigentlich in keinem Zusammenhang zueinander und der Bezug auf den 11. September 2001 auf der letzten Seite des Buches halte ich für einen Marketinggag.


    Ich halte es für einen Marketing - Gag (und für völlig falsch), daß der Verlag diesen Bezug als Werbemasche auf dem Buchumschlag anpreist.


    In der Erzählung selbst hat der 11. September nur eine symbolische Rolle.
    Es geht überhaupt nicht um den 11. September und tatsächlich endet der Roman Minuten vor den weltbewegenden Ereignisse.
    Im Zusammenhang mit der Figur finde ich diese Wendung aber sehr ergreifend, denn die Hauptperson hat sein Leben gerade im Griff und alles scheint sich zum besten zu wenden - und wir wissen es in der Rückbetrachtung nun doch besser.
    Auster benutzt den 11. September nicht als Marketingmasche, sondern um zu zeigen, die zerbrechlich so etwas wie Glück ist. Und wie sehr so ein Weltgeschehen auch das eigene Leben beeinflussen kann.


    Und irgendwie geht es doch jedem so, wie dieser Hauptperson. Wer von uns weiß nicht, wo er kurz vor den Ereignissen des 11. Septembers war und was er gemacht hat?
    Ich weiß es noch und ich weiß auch noch, wie ich mich gefühlt habe.
    Vielleicht kann ich es auch nur so gut nachfühlen und mich identifizieren, weil ich, wie eben jede Hauptperson, an diesem Tag so einen kleinen beruflichen Triumph und Höhenflug hatte und mich für den glücklichsten Menschen der Welt gehalten habe.
    Und eine Stunde später, war das alles so egal und so wertlos...
    Und das zeigt Auster hier auch. Und das sehr gelungen. Meiner Meinung nach.

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • So viele gute Rezis...
    ich hab es heute in der Hand gehabt, weil mein Kollege es gelesen hat.
    Da ich allerdings "Stadt aus Glas" schon so schauderlich und ätzend fand, konnte mich weder die Schwärmerei meines Kollegen, noch die gute Rezi hier dazu verleiten einen tieferen Blick in das Buch zu werfen.
    So wird es auch bleiben!! :-]

  • Es ist eigentlich nicht der 11. September, der mich so stört. Deine Ausführungen, janda, finde ich recht gut, da stimme ich zu. Von einer Minute auf die andere kann alles ganz anders sein.


    Was mich eigentlich noch mehr störte, ist der Ausgang des Buches.



    Aber dennoch gebe ich Paul Auster noch eine Chance!

  • Ich habe das Buch soeben fertig gelesen und ich muss sagen, dass die letzte Seite mit Verweis auf den 11. Sept. 2001 einen ziemlich schalen Nachgeschmack hinterlässt. ;-( Kurz davor wird noch eine glückliche Welt suggeriert und plötzlich ist alles ganz anders. Aber so war es in der Realität nun mal. Ansonsten gibt es bei dem Buch keinerlei Verbindung zu besagtem Datum.


    Ich war über die Erzählweise des Autors so sehr begeistert. Ich fand es überwältigend wie Auster es geschafft hat, die verschiedenen Lebensläufe miteinander zu verweben und die Leute so interessant zu machen. Ich konnte das Buch gar nicht aus der Hand legen, ich wollte irgendwie immer wissen wie es weitergeht. (Ich bin allerdings von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch.) :zuhoer


    Was ich nicht verstanden habe, war der plötzliche Stilbruch auf S. 116. Warum schreibt Auster das eine Kapitel in Form eines Drehbuches? :nichtskapiert


    „Brooklyn Revue“ wird sicher nicht mein letzter „Auster“ gewesen sein.

  • Ich kann mich den Eindrücken von Janda und Herrn Palomar nur anschließen. Ich hatte bisher meine Probleme mit Auster (meine Mutter hat sämtliche Romane, daher habe ich einiges angelesen, habe aber nur die New York-Trilogie ausgelesen und fand es eher mittelmäßig), aber dieser Roman hat mich absolut überzeugt:
    Was Jersey als "abgefahrene Story" mit gescheiterten Existenzen empfunden hat, empfand ich als relativ strukturierte Geschichte mit durchaus nachvollziehbar beschriebenen Charakteren.
    Ich mochte sowohl die kurzen Exkurse zu Schriftstellern und ihren Büchern, wie die teilweise netten und humorvollen Wortspiele, sowie den grundsätzlichen Ton des Ich-Erzählers, der mir mit zunehmendem Maße freundlich-selbstironisch vorkam. Ich mag so etwas.
    Die Handlung verbindet vielleicht einige nicht ständig vorkommende Szenarien, aber ich empfand sie nie als konstruiert oder absurd, sondern als Beschreibung eines Lebens, dass nun mal nicht immer so läuft, wie man hofft und es plant.


    Die kleinen Einsprengsel zum amerikanischen Umbruch Clinton/Busch fand ich ebenfalls relativ geschickt: Nicht zu viel, die Polemik hält sich in Grenzen, so dass sie nicht in absolute Verbitterung umschlägt, auch wenn man die Fassungslosigkeit zwischen den Zeilen teilweise spürt.


    Insgesamt ein toller, sprachlich sehr ansprechender, streckenweise humorvoller Roman mit sorgfältig ausgearbeiteten Charakteren, der mich wirklich beeindruckt hat.

  • Endlich, endlich habe ich meinen ersten Roman von Paul Auster gelesen und scheine auf Anhieb einen seiner besten erwischt zu haben. Wie hier schon geschrieben wurde, ist "Die Brooklyn-Revue" ansprechende Unterhaltung auf hohem Niveau, ohne ins Intellektuell-Abgehobene oder Unverständliche abzudriften. Mit seinem tollen, eingängigen Schreibstil läßt Auster seinen durch und durch sympathischen Ich-Erzähler Geschichten aus dem Leben einer alles andere als einfachen Familie erzählen, die auf mich größtenteils keinen konstruierten Eindruck machen, sondern zeigen, wie vielfältig das Leben ist, wie sehr sich alles immer wieder von Grund auf ändern kann. Dies in Verbindung mit vor allem anfangs immer wieder eingewobenen Humor machten das Buch zu einem sehr schönen Leseerlebnis, nur gegen Ende schwächelt es kurz, als nämlich ein Kapitel Auroras Zeit mit ihrem Ehemann und dem Reverend gewidmet ist - die Passivität von Rory und ihre Entscheidungen konnte ich einfach nicht nachvollziehen.
    Alles in allem ein sehr zufriedenstellendes, sprachlich tolles Werk und offenbar ein guter Einstieg in die Welt der Paul Auster-Romane. 9 Punkte.

  • Meine Rezension:


    Brooklyn-Revue, das ist ein mehrmonatiger Einblick in das Leben des 59-jährigen Nathan, der sich nach Scheidung, Lungenkrebs-Diagnose und Zerwürfnis mit der einzigen Tochter den New Yorker Stadtteil Brooklyn zum Sterben ausgesucht hat. Doch Brooklyn ist das pure Leben, unzählige Nationalitäten und noch mehr liebenswürdig-skurrile Gestalten, verkrachte Existenzen und andere Normalos sind hier zuhause und machen ihn zu einem ebenso bunten wie warmherzigen Potpourri aus persönlichen Schicksalen. Auster fängt diese Schicksale sehr behutsam, aber mit viel Charme ein und haucht seinen Figuren, so schräg sie auch sein mögen, so glaubwürdig Leben ein, dass man sich in ihrer Gesellschaft einfach pudelwohl fühlt. Hier menschelt es gewaltig und wenn gegen Ende die persönlichen Dramen überwunden zu sein scheinen und man sich einer fast schon kitschigen Entwicklung gegenüber sieht, geraten all die Sorgen, Nöte, Freuden und Hochgefühle in den Schatten eines Ereignisses, das die ganze Welt verändert hat und wie kaum ein zweites die eigene Verletzlichkeit und die Unbeständigkeit des Glücks demonstriert, auf das man nie einen Anspruch hat, selbst wenn man es noch so lange vermisst oder gesucht und nun erst kurz gefunden hat. Mein erster Auster - und ganz sicher nicht mein letzter!


    Ich schließe mich den 9 Punkten an!