Eigentlich hatten wir rechtzeitig losgehen wollen. Aber der Mäkel musste unbedingt noch "Verliebt in Berlin" gucken und dann klingelte noch das Telefon und dann war mein Lippenstift verschwunden, weil der Mäkel, der ja seit einem Jahr in Witten wohnt und sich zu Hause nicht mehr richtig auskennt, den Lippenstift in die falsche Schublade gesteckt hatte. Aber dann waren wir endlich fertig, hetzten los und zwei Minuten vor Veranstaltungsbeginn und 50 Meter von der Buchhandlung entfernt standen die beiden Inhaber. Der eine wurde vom anderen immer "Genosse Betriebsleiter" genannt wegen der kommunistischen Vergangenheit und der andere hieß einfach nur Bernhard, war aber immer schwarz gekleidet. Der Genosse Betriebsleiter und Bernhard in Schwarz standen also auf der Straße und riefen schon von weitem: "Pech gehabt; ihr kommt leider zu spät, alles rumpelstrumpelvoll."
Das war natürlich ein Witz, dachten wir, denn es war Sommer und die Leute alle im Urlaub.
Es war aber kein Witz und das merkten wir, als wir zur Tür hinein wollten, aber nicht konnten, weil in der Tür mehrere Menschen steckten. Die Menschen in der Tür machten, als wären sie in der U-Bahn und riefen "weitergehen", aber das ging nicht, denn dort saßen ungeheure Menschenmassen und grinsten selbstzufrieden, weil sie Stühle hatten und genug Luft zum Atmen und die in der Tür hatten nichts davon.
Ich sah Frau Iwanow und daneben den Dieter, der immer da war, aber der Dieter hatte natürlich keine Plätze freigehalten.
Dann rief einer von denen, die in der Tür feststeckten, dass er jetzt ginge und von dem Döner-Bistro nebenan Plastikstühle holen wollte. Die Idee war an sich nicht schlecht, nur gab es leider in der Buchhandlung keinen Platz mehr für Stühle. Inzwischen war es fünf Minuten nach Acht und der Genosse Betriebsleiter kämpfte sich durch den Hintereingang zur Kasse durch und nahm den Mäkel und mich mit. Der Mäkel ging vor mir und stürzte sich sofort auf die Trittleiter hinter der Kasse, auf der noch niemand saß. Ich hatte die Wahl, mein eines Bein in den Karton mit den Schnippsgummis zu legen und das andere Bein über die Kasse zu schwingen, aber ich dachte, dass man so unmöglich eine ganze Lesung durchstehen konnte und ging durch den Hinterausgang wieder hinaus.
Draußen hatten die Leute inzwischen die Stühle vom Döner-Bistro geholt und vor dem Schaufenster und mitten in der Tür aufgebaut. Auch in der zweiten Reihe gab es keine Plätze mehr, da dort inzwischen die Leute mit den Fahrrädern stehen geblieben waren, die Arme bequem vor der Brust verschränkt.
Einer fragte, ob da drinnen jetzt der Daniel Kehlmann lesen würde oder der Dan Brown, aber als er hörte, dass es der Wolf Kunik war, bestellte er sich beim Döner-Bistro ein Bier auf sein Fahrrad und klappte den Ständer herunter.
Der Genosse Betriebsleiter brüllte inzwischen eine Begrüßung und stellte den Wolf Kunik vor, aber draußen vor dem Schaufenster verstand man leider kein Wort, aber der Wolf Kunik lächelte lieb.
Dann kam der schwarze Buchhändler und sagte, dass das doch alles keinen Sinn habe und die Mikrofonanlage keinen Knopf zum laut stellen habe und wir sollten doch nach nebenan ins Döner-Bistro gehen und derweil einen Wein trinken.
Dann fing aber der Wolf Kunik an zu trommeln und sein mitgebrachter Musikant spielte auf Musikinstrumenten, die ich noch niemals vorher gehört oder gesehen hatte, und meine Seele wurde gleich so gerührt, wie mir das manchmal in den Räucherstäbchenläden so ergeht. Ich dachte, dass die Welt in Ordnung sei, wenn der Kunik immer so weiter trommeln würde und dass es wahrscheinlich dann auch keine Kriege mehr geben würde, aber dann hörte der Kunik auf zu trommeln und begann zu lesen und vor dem Schaufenster verstand niemand ein Wort. Ich versuchte, dem Kunik die Worte von den Lippen zu lesen, doch es gelang nicht. Nur das Lächeln, welches plötzlich auf den Gesichtern derer, die einen Sitzplatz im Laden hatten, erblühte, konnte ich erkennen.
Dann sah ich zum Mäkel auf der Trittleiter hinter dem Kassentisch, aber der Mäkel lächelte nicht, weil gerade ein Journalist die Trittleiter bestiegen hatte und sich mit dem Ellbogen auf dem Mäkelkopf abstützte, um den Kunik zu fotografieren.
Der schwarze Buchhändler, der auch keinen Sitzplatz hatte, obwohl ihm der Laden gehörte, zerrte an meinem Ärmel und zog mich in das Döner-Bistro.
Da saßen wir und redeten über das Buch vom Kunik und dann noch darüber, dass noch mehr Leute gedacht hatten, der Kehlmann würde da lesen oder wenigstens Dan Brown. Wir tranken Wein und plötzlich wurde es auf der Straße ganz laut und wir wussten, dass die Lesung nun fertig war.
Wir gingen auf die Straße und sahen den Kunik draußen am Schaufenster lehnen und Bücher signieren, weil im Laden kein Platz mehr war und der Mäkel noch immer hinter der Kasse stand, aber jetzt, um Bücher zu kassieren, während der Genosse Betriebsleiter neue Ware ranschleppte und der schwarze Buchhändler vor Überraschung erst mal eine rauchen musste.
Dann kam Frau Iwanow und rief ganz laut, dass sie sehr hoffe, dass es bis mindestens Montag durchregne, den morgen hätte sie frei und gleich alle drei Bücher vom Kunik gekauft, die sie jetzt gleich anfangen wollte. Ich fand, dass Frau Iwanow ein bisschen egoistisch war, denn schließlich kann man ja die Kunik-Bücher auch im Park lesen, aber die anderen meinten auch, dass es Bücher für die Couch wären und heiße Schokolade dazu und sie wüssten schon jetzt, wem sie die zu Weihnachten schenken wollten und überhaupt sei das Ganze wie ein Märchen gewesen.
Da wurde ich ganz traurig, weil ich Bücher, die wie Märchen aus 1001 Nacht klingen, sehr liebe und nun diese Lesung verpasst hatte, aber wenn der Kunik das nächste Mal trommelt und liest, dann versuche ich es wieder.